Anne Will zur Hessenwahl: Aufbruchstimmung unter den Verlierern

Anne Will zur Hessenwahl: Die Runde fragt sich, wie die Zukunft der Volksparteien wohl aussehen mag. (Foto: Screenshot / ARD)
Anne Will zur Hessenwahl: Die Runde fragt sich, wie die Zukunft der Volksparteien wohl aussehen mag. (Foto: Screenshot / ARD)

Wie nach der Bayernwahl ist auch das Parteienspektrum in Hessen zweigeteilt: Die Verlierer sind auf der einen Seite CDU und SPD, während ihnen die Grünen und die AfD, wie in einem Paternosteraufzug, von unten entgegenstreben. Dennoch zeichnet sich bereits eine Regierungsoption ab. Volker Bouffier sagte im Vorfeld der Sendung, er führe mit dem Ziel einer Jamaika-Koalition Sondierungsgespräche. Es gibt also noch einen dritten Gewinner der Hessenwahl: die FDP. Sie kehrt wohl als Zünglein an der Waage zurück in eine Landesregierung. Anne Will fragt: Wie geht es weiter nach der Landtagswahl in Hessen?

Angela Merkel wollte ihrem schwarzen Sheriff in Hessen, Volker Bouffier, ein Last-Minute-Wahlgeschenk machen. Ein Gesetz hatte sie ihm vollmundig versprochen, das Fahrverbote für gesundheitsgefährdende Dieselautos in Innenstädten verbieten sollte. Aber auf das Wahlkampf-taktische Manöver sind die Wähler nicht hereingefallen. Die CDU verlor 11,4 Prozent im Vergleich zur letzten hessischen Landtagswahl. Und das nur wegen der Bundespolitik.

Denn Volker Bouffier, ein treuer Gefährte der Kanzlerin, hat mit seinem Koalitionspartner von den Grünen, Tarek Al-Wazir, in den letzten fünf Jahren gute Arbeit in Hessen geleistet. Sie haben die Mobilität vorangebracht, es gibt ein günstiges Studententicket, die Wirtschaft brummt, Schulden wurden abgebaut. Nur bei den Themen Wohnen hat Schwarz-Grün geschlampt, genauso wie, und hier kommt’s: beim Verkehr. Es drohen Fahrverbote in hessischen Metropolen. Vielleicht hatte Angela Merkel also ein schlechtes Gewissen, sie wollte ihr Versagen in der Großen Koalition mit dem Fahrverbot-Verbot wettmachen.

Aber das ging bekanntermaßen nach hinten los. Wieso? Das fragt Anne Will ihre Gäste. Zuerst darf Annegret Kramp-Karrenbauer, die CDU-Generalsekretärin, die Hessenwahl analysieren: „Wir haben schmerzliche Verluste erlitten. Wir wollten mit Volker Bouffier weiterregieren und Rot-Rot-Grün verhindern. Das haben wir geschafft. Dennoch: Wählerinnen und Wähler sagen, es war eine Denkzettel-Wahl.“

Ebenfalls zweistellig verloren hat die SPD (-10,6 Prozent), ebenfalls abgestraft für die Bundespolitik. Olaf Scholz ist der sozialdemokratische Vertreter der Partei: „Es gibt jüngste Erfolge, die wir realisiert haben. Kitagesetze, Paritäten bei den Krankenversicherungen, Renten. Aber die Personalquerelen, die Auseinandersetzungen in den Unionsparteien, ziehen die ganze Regierung runter. Die Realität ist, dass sich die Erfolge unserer Arbeit nicht berichten lassen.“

Fahrplan bis zum GroKo-Ende?

Daraufhin wird er angesprochen auf den „Fahrplan“ von Andrea Nahles. Die jüngste SPD-Idee, dahinter steckt eine To-Do-Liste für die Koalition in Berlin, die zur Halbzeit der Regierung, also in einem Jahr, abgehakt sein soll. Wenn nicht, droht die SPD mit Konsequenzen. „Wir brauchen einen Fahrplan, weil der Koalitionsvertrag nicht mehr ausreicht“, sagt Scholz. Dabei liegt es doch genauso an der SPD, dass der Koalitionsvertrag eingehalten wird. Die Fahrplan-Posse zeugt nicht wirklich von Stärke gegenüber der Koalitions-Union. Im Gegenteil, sie reißt die Sollbruchstelle der Regierung zur Halbzeit der Legislaturperiode weiter auf.

Christiane Hoffmann vom Spiegel-Hauptstadtbüro bringt es auf den Punkt: „Es wird nicht mehr heil in der Koalition. Ein Fahrplan wird nicht helfen. Nicht der SPD, nicht der Koalition.“ Unterstützung kommt vom Politikwissenschaftler Hans Vorländer: „Da klammern sich zwei Ertrinkende aneinander. Die CDU und SPD haben gemeinsam über 20 Prozent verloren. Das ist eine schallende Ohrfeige. Man wartet auf den Relaunch, den Sprung nach vorne, die Vision. Ich weiß nicht, ob eine neue Idee mit den gleichen Köpfen vermittelbar ist.“

Annegret Kramp-Karrenbauer sagt in der Krise einen Satz, der von den Regierungsparteien zu selten kommt: „Wir stehen zu dieser Koalition. Wir wollen sie zu einem Erfolg führen.“

Nun fühlt Anne Will den Gewinnern nach: Woher kommt der Zuspruch für die Grünen? Sie spielt dazu Christian Lindner ein, als der den Regierungsauftrag ablehnte vor einem Jahr. Lindner ist auch zu Gast, Anne Will fragt ihn: „Sind Sie der Vater des grünen Erfolgs?“

“Die Grünen sind unbelastet”

Und dann folgt ein sehr seltener Moment: Ein sprachloser Christian Lindner. Es ist eben besser, nicht zu antworten, als falsch zu antworten. Dann aber, klassische Volte: „Die Frage ist mir zu spielerisch. Wir haben im letzten Jahr in Schleswig-Holstein eine Jamaika-Regierung gestellt. Wir sind bereit zu regieren. Auch im Bund. Wir wollen Inhalte: Reform des Bildungsföderalismus, Steuerabgaben nicht nur zu heben, sondern auch zu senken, Digitalisierung mit Tempo versehen, ein Einwanderungsgesetz, das weltoffen ist. Das war alles mit Angela Merkel nicht zu machen.“

Aber die Grünen will Lindner auf anderer Ebene nicht unkommentiert lassen: „SPD und Grüne tauschen im linken Parteienspektrum die Wähler. Die Grünen verfolgen einen Wohlfühlansatz und das gönne ich ihnen. Besser, als wenn wir über die AfD reden. Die hat noch mehr dazugewonnen. Die GroKo hat ein Misstrauensvotum bekommen“, sagt er.

Robert Habeck, klar, will das schnell ins rechte Licht rücken: „Die Menschen erwarten Politikfähigkeit. Beim Dieselskandal bekommen sie von der GroKo das Gegenteil. Eine Regierung bittet die Industrie, ihre Beschlüsse umzusetzen? Eine Regierung, die sich so klein macht, brauchen wir nicht. Der Nahles-Fahrplan ist keine inhaltliche Antwort, das ist ein technischer Vorschlag. Das ist falsch. Es gibt einen Koalitionsvertrag. Das Wegducken ist keine aktive Politik. Die Schwäche der anderen ist unsere Stärke. Aber auch unser Angebot, einer radikalen Analyse der notwendigen Veränderungen, eine visionäre Sicht und eine pragmatische Umsetzung.“

Hans Vorländer erklärt den Erfolg der Grünen etwas anders: „Die Grünen sind unbelastet von den Querelen in Berlin. Die FDP bleibt hängen, weil sie nicht die Regierung übernehmen wollte. Dazu kommt, dass die innerparteilichen Konflikte der Grünen nicht mehr nach außen getragen werden oder es keine mehr gibt, sie sind pragmatisch. Sie sind bürgerlich und modern.“

Wohin sind die Volksparteien verschwunden?

Robert Habeck führt das auf eine aktive Entscheidung zurück, die er und seine Partei getroffen hat. Sich nicht dem rauen Umgangston der anderen Parteien anzugleichen: „Die gesamte Politik ist im Populismus nach oben gegangen, das zeigt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Nur die Grünen nicht, auch etwas zu meiner eigenen Überraschung. Denn ich weiß, dass wir alle, auch mal ich, austeilen können. Die FDP nennt uns Klimanationalisten, das ist Populismus. So würde ich die FDP nie nennen.“

Letzte Frage des Abends: Was ist mit den Volksparteien passiert? Erste Antwort, wieder Hans Vorländer: „Die Volksparteien sind nicht mehr Heimat angestammter Wähler. Italien, Frankreich, da sind Volksparteien in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Es geht vielmehr um Personen, die wie Macron in Frankreich mutig sind. In Österreich verkauft Sebastian Kurz die ÖVP als Liste Kurz. Die politische Landschaft wird dadurch vielfältiger, Regierungsbildungen aber auch schwieriger und die Politiker sind mehr gefordert.“

Wenn es Personen sind, die eine Bewegung anführen, gibt es auch Personen, die einen Niedergang herbeiführen. Dazu Christiane Hoffmann: „Die Union hat die letzten beiden Wahlen mit verschiedenen Inhalten und Aufstellungen verloren. Der Merkel-Kurs von Bouffier und der Anti-Migrations-Kurs von Seehofer waren nicht erfolgreich. Deshalb stellt sich die Frage: Wie schafft es die Bundeskanzlerin, ihren Abgang zu organisieren. Denn es kann nur noch ein personelles Problem sein und somit an ihr liegen.“

Noch verneint das Annegret Kramp-Karrenbauer: „Angela Merkel wird beim Parteitag wieder antreten. Wenn personelle Veränderungen das probate Mittel wären, wäre die SPD bei 50 Prozent.“

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