Arche-Gründer zu Sozialstudie „Gerechtigkeit“ - Unsere Kinder verzweifeln an Ungerechtigkeit - die Folgen sind für alle fatal

Ein Schüler schlägt auf dem Schulhof einen anderen mit seinem Ranzen.<span class="copyright">Oliver Berg/dpa/Illustration</span>
Ein Schüler schlägt auf dem Schulhof einen anderen mit seinem Ranzen.Oliver Berg/dpa/Illustration

Die aktuelle Sozialstudie „Gerechtigkeit“ zeigt, Kinder und Jugendliche fühlen sich machtlos, ungesehen und unzufrieden mit der Demokratie. Arche-Gründer Bernd Siggelkow appelliert an die Politik, die Stimmen der Jüngeren ernst zu nehmen.

Die Zahl der armutsgefährdeten Kinder und Jugendlichen in Deutschland ist für ein Wohlstandsland, wie wir es noch sind, kaum zu ertragen. Die Folgen von Armut sind soziale Ausgrenzung und ein Gefühl der Machtlosigkeit. Das belegen auch die Ergebnisse der aktuellen Sozialstudie „Gerechtigkeit“.

Kinder und Jugendliche fühlen sich ungesehen und machtlos

Die aktuelle Sozialstudie zum Thema Gerechtigkeit , die Anfang Juli von der Bepanthen-Kinderförderung veröffentlicht wurde, zeigt, dass bei den Kindern und Jugendlichen große Unzufriedenheit herrscht. Über 75 Prozent der befragten Jugendlichen geben an, keinen Einfluss auf die Politik zu haben. Sie fühlen sich ungesehen und ungehört. Jeder zweite Jugendliche zweifelt sogar am   Engagement der Politik(er), Probleme überhaupt lösen zu wollen. Das finde ich erschreckend.

Die Ergebnisse dieser Studie haben auch mich dazu bewegt, einmal gedanklich in meine eigene Kindheit zurückzugehen und ich habe mir die Frage gestellt: Wie hätte ich damals als Kind geantwortet? Ich bin selbst unter sehr prekären Umständen aufgewachsen, bin auch in eine Brennpunktschule gegangen und in Armut – ja sogar emotionaler Verwahrlosung – aufgewachsen. Ich hätte diese Fragen damals nicht beantworten können, denn ich besaß nicht diesen weiten Horizont und die Fähigkeit zu differenzieren.

Schaue ich heute auf unsere Kinder und besonders auf diejenigen, die wir in der Arche haben, dann hat sich vieles verändert. Unsere Kinder haben heutzutage einen anderen Zugang zu Informationen. Sie nutzen täglich Social Media und sehen viele Dinge. Dabei erleben sie auch in ihrem Umfeld sehr viel Ungerechtigkeit. Wir beobachten in unseren Archen in den letzten 10 bis 15 Jahren auch insofern eine Veränderung, dass sich die Kinder viel ungerechter behandelt fühlen.

Und die aktuelle Studie zeigt, dass Kinder, die in alleinerziehenden Familien aufwachsen und die nicht viel Geld zur Verfügung haben, die Welt und ihr Umfeld als noch viel ungerechter ansehen als Kinder aus einkommensstärkeren Haushalten.

Pessimismus macht sich immer stärker breit

In den Archen haben wir eine eigene Umfrage bei unseren Kindern gemacht, was sie sich wünschen würden. Das Ergebnis deckt sich mit dieser aktuellen Gerechtigkeitsstudie: sie wünschen sich in erster Linie, dass es ihren Eltern gut geht. Also die Sorge um andere, ihre Familie und ältere Mitmenschen steht für sie an oberster Stelle. Manche sagten aber auch, „ich wünsch‘ mir nichts, wird eh nichts draus“. Diesen Pessimismus erleben wir leider sehr häufig in unseren Einrichtungen.

Die Kinder merken, dass sie in Ungerechtigkeit aufwachsen. Dass es manchen Kindern in ihrer Klasse besser geht als ihnen. Andere können in den Ferien in den Urlaub fahren, doch sie können es sich nicht leisten. Auf die Frage, was sie sich wünscht, hat mal ein Mädchen in der Arche gesagt, sie möchte, dass ihre Lehrerin ihr mal zuhört. Durch dieses Nicht-gehört-werden und diese Ungerechtigkeit, die die Kinder empfinden, erleben wir oft, dass sie ein Ventil brauchen. Was wir sehen, ist eine daraus resultierende erhöhte Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen.

Wut, Mobbing und Gewaltbereitschaft nehmen zu

Das bestätigt auch die neue Kriminalstatistik. Kinder und Jugendliche, die wenig oder keine Perspektiven sehen, werden schneller wütend, schneller aggressiv und schlagen schneller zu. Auch das Mobbing nimmt zu. Sie kommen psychisch an ihre Grenzen, können sich im Unterricht nicht mehr so gut konzentrieren. Das führt nicht nur dazu, dass sie wütend irgendwelche Parolen schreien – sie gehen auch wütend aufeinander los und wissen eigentlich gar nicht, warum. Wir haben Kinder in den Einrichtungen, die wissen in der fünften Klasse schon, dass sie später einmal Bürgergeld beziehen werden. Denn sie wissen, dass in ihrer Welt ihre Chancen sehr ungerecht verteilt sind.

Diese Ungerechtigkeit spiegelt sich nicht nur in den Ergebnissen der Europawahl wider, bei der Wähler zwischen 16 und 18 Jahren besonders extrem gewählt haben. Wir bemerken sie auch im täglichen Umgang der Kinder und Jugendlichen untereinander.

Die Hoffnungslosigkeit, die durch das Ungerechtigkeitsempfinden um sich greift, ist eine Gefahr für unsere Gesellschaft. Eine Gefahr für uns selbst. Kinder merken sehr schnell, wer sich für sie interessiert. Und sie nehmen Ungerechtigkeiten sehr deutlich wahr. Ob ein anderes Kind in den Urlaub fahren kann, es mehr Taschengeld bekommt oder bessere Noten in der Schule erhält als sie – all das erleben die Kinder andauernd. Wenn wir als Gesellschaft nicht aufpassen, dann wird uns das überrennen. Die Kinder beobachten ihr Umfeld sehr genau – sehen, wie geht es ihrer Oma, ihrem Opa oder ihren Eltern. Auch dort erkennen sie oft eine unglaubliche Ungerechtigkeit.

Alltagsungerechtigkeit manifestiert sich

Das Empfinden von Ungerechtigkeit hat nicht nur finanzielle Ursachen, es spiegelt sich auch im Miteinander wider. So erzählte mir vor einigen Monaten eine Mutter, sie sei beim Fahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln kontrolliert worden. Dabei wurde sie zunächst nach ihrem Ticket gefragt, worauf sie ihr Sozialticket zeigte. Dann sollte sie ihren Ausweis zeigen, worauf sie ihren Personalausweis präsentierte. Und dann sagte der Kontrolleur etwas, das sie tief traf: „Jetzt bitte noch Ihren Bürgergeldbescheid.“

Die Mutter berichtete mir, sie erlebe so etwas ständig in ihrem Alltag und fragte mich, ob ich wisse, was dies in ihr auslöse. Sie hat für sich und ihre Kinder die Perspektive verloren. Ihre Kinder bekommen das mit. Sie erleben die Ungerechtigkeit hautnah und wissen nicht, wohin mit ihrer Wut. Von den Jugendlichen aus einkommensschwachen Haushalten geben 37 Prozent in dieser Studie an, sie empfinden Ungerechtigkeit als die Norm in ihrem Leben.

Ob nun bewusst oder unbewusst, viele Eltern übertragen ihre erlebtes Ungerechtigkeitsgefühl – und manchmal auch ihre Wut – auf ihre Kinder. Das ist eine Gefahr für uns alle. Daher ist es ungeheuer wichtig, darüber nachzudenken, wie wir eine gerechtere Umwelt, ein gerechteres Leben für unsere Kinder schaffen können.

Sie haben es verdient, in eine gute Zukunft hineinzuwachsen. Deswegen müssen wir ihre Gegenwart gut gestalten und mit den gewonnenen Erkenntnissen aus dieser Studie genau schauen, wo anzusetzen ist, damit wir Kindern eine bessere Perspektive geben können.