Im Bann der Viren: Wie ganz verschiedene Menschen Corona empfanden

Leipzig - Corona und kein Ende. Obwohl jetzt immer mehr Beschränkungen fallen, stecken die leidvollen Erfahrungen mit Lockdown, Homeschooling und Long-Covid vielen noch tief in den Knochen. Buchautor und Verleger Detlef M. Plaisier (63) hat 70 Corona-Schicksale zusammengetragen. Wegen der abgesagten Leipziger Buchmesse stellte er sein Werk kürzlich bei Lesungen in Leipzig, Taucha und Borna vor. In unserer Serie berichten Betroffene aus dem Buch von ihrem Corona-Alltag. Heute in der letzten Folge: ein Leipziger Autor, eine Pferde-Therapeutin, eine indische Studentin und ein Ressortleiter einer Zeitung.

Zwei ganz unterschiedliche Seiten einer tragischen Geschichte: Corona-Spaziergang in Zwönitz (Erzgebirgskreis, l.) und aufgestapelte Särge im Krematorium Dresden-Tolkewitz (r.).
Zwei ganz unterschiedliche Seiten einer tragischen Geschichte: Corona-Spaziergang in Zwönitz (Erzgebirgskreis, l.) und aufgestapelte Särge im Krematorium Dresden-Tolkewitz (r.).

Lyrisch nachgedacht!

Nils Müller, Jahrgang 1990 in Leipzig, arbeitet in der Messestadt als freischaffender Schriftsteller. 2020 erhielt er für seine literarische Arbeit ein Stipendium des Freistaates Sachsen. Er dichtete:

Eine verpasste Gelegenheit?

Du stellst die gehörte Radiosendung ab.
Du verbietest dem Fernseher auf Knopfdruck Wort und Bild.
Du hast dich auf den aktuellen Stand gebracht
und kannst die Stille in deinem Zimmer nun zulassen.
Du kannst zulassen, dass die Medien kurz schweigen.
Innere Einkehr.

Du kannst für den Moment fasten, denkst du bei dir, denn du bist satt.

Was wäre, wenn die Satten und Gesunden unserer Welt einfach mal fasten würden?
Was bitte?
Wenn die Satten und Gesunden unserer Welt die Zufriedenheit zum Gebot machten.
Du sollst zufrieden sein?
Ja, genau.

Die Angst macht den Menschen die Arme lang, lang, lang, denkst du bei dir.
Ein neues Handy, weil es der Anbieter so will?
Ein neuer Fernseher, weil es die Werbung so will?
Ein neues Auto, weil es der Nachbar so will?
Höher, schneller, weiter, weil es die Börse so will?
Das hält die Menschen doch nur im Laufen fest.
Wie wäre es, wenn die Menschen die notwendigen Ausgangsbestimmungen nicht als Eingesperrtsein, sondern als innere Einkehr begreifen würden?
Als Besinnung auf die Dinge, die sie haben.
Gesundheit.
Sattheit.
Wohlstand.

Ist das nicht selbstverständlich?
Nein, eben das ist es nicht!

Verse gegen Wohlstands-Sattheit: Nils Müller (31) aus Leipzig veröffentlicht in Literaturzeitschriften wie dem Webzine "The Leipzig Glocal".
Verse gegen Wohlstands-Sattheit: Nils Müller (31) aus Leipzig veröffentlicht in Literaturzeitschriften wie dem Webzine "The Leipzig Glocal".

Krise und Chance

Lena Heselmeyer, Jahrgang 1987, ist Sozialpädagogin und Reittherapeutin in Rhauderfehn (Niedersachsen). Sie schrieb:

"Lockdown, zunächst ein Schock: Was sind meine Pferde ohne Reittherapiekinder? Und dann die Gedanken an die finanzielle Zukunft... Die Lösung: Crowdfunding und Pferdemist verkaufen! Es war Frühling, und die Menschen um uns herum fingen an, ihre Gemüsebeete anzulegen. Also verkauften wir Pferdemist als Dünger. Ein Bericht in der Zeitung steigerte zwar nicht unseren Verkauf von Pferdemist, aber Menschen brachten uns kleinere oder größere Futterspenden vorbei...

Für einige Kinder und Jugendliche waren die Einschränkungen das Beste, was ihnen seit langem passiert war: Sie konnten im eigenen Tempo lernen, ohne dem sozialen Druck durch Mitschüler*innen ausgesetzt zu sein. Sie bauten in der schulfreien Zeit ein neues Selbstbewusstsein auf, wovon sie lange profitieren werden. Viele Schulkinder vermissten die sozialen Kontakte innerhalb der Schule. Manche Familien waren mit Homeschooling schlicht überfordert. Es gab Kindergartenkinder, die nach der langen Zeit zu Hause vermehrte motorische Schwierigkeiten aufwiesen, da sie häufig vorm Fernseher 'geparkt' worden waren..."

Machte 2017 ihre Leidenschaft zum Beruf: Lena Heselmeyer (32) bietet Reittherapie und Bauernhofpädagogik.
Machte 2017 ihre Leidenschaft zum Beruf: Lena Heselmeyer (32) bietet Reittherapie und Bauernhofpädagogik.

Dankbar, trotz allem

Es meldete sich auch die damals 14-jährige Mohitha Sen aus dem südindischen Coimbatore: "Ich dachte, dieses Virus wäre dasselbe wie die alten, aber oh, ich lag falsch! Das einzig Gute, was mir diese Pandemie bescherte, war Zeit. Ich bekam Zeit für meine Hobbys, die normalerweise von meinem Stapel Schularbeiten ertränkt wurden. Ich konnte mit meiner Familie wertvolle Zeit gemeinsam verbringen.

Ich bemerkte auch, dass während des Lockdowns die Verschmutzung langsam abnahm. Ich war so glücklich, dass sich die Erde erholt, aber gleichzeitig hatte ich Mitleid mit den Nachwirkungen von Corona: Viele haben ihre Liebsten verloren. Zehntausende von Tagelohn-Wanderarbeitern fanden sich plötzlich ohne Arbeit oder Einkommensquelle wieder, als Indien eine Abriegelung ankündigte. Einige schafften es mit dem Fahrrad oder auf Lastwagen, während andere auf dem Weg in ihre Dörfer ihr Leben verloren. Viele Menschen litten an Hunger, verkauften Produkte am Straßenrand. Die Kriminalitätsrate war auf dem Höhepunkt...

Mit der Zeit wurde mein üblicher Tagesablauf langweilig und ereignislos. Mein Temperament steigerte sich, und ich wurde wegen sehr dummer Dinge wütend. Ich dachte, 2020 würde das Jahr sein, in dem ich alles bekomme, was ich will. Aber jetzt weiß ich, dass 2020 das Jahr ist, in dem ich für alles, was ich habe, dankbar bin. Im Lockdown habe ich ein neues, bis dahin verborgenes Talent in mir entdeckt: das Schreiben. Ich schrieb und veröffentlichte eine Fantasy-Fiction online. Ich begann, ein Buch über meine Lockdown-Erfahrungen zu schreiben, und hoffe, es wird gedruckt..."

Besuchte mit ihrer Familie im Lockdown nicht die touristischen Orte, sondern abgelegene und isolierte Waldgebiete: Mohitha Sen (14) aus Indien.
Besuchte mit ihrer Familie im Lockdown nicht die touristischen Orte, sondern abgelegene und isolierte Waldgebiete: Mohitha Sen (14) aus Indien.

Spitz auf Knopf

Dr. Joachim Huber (64), Ressortleiter Medien beim Tagesspiegel Berlin. Nach einem positiven Corona-Test ging alles ganz schnell: "Intensivstation, meine Lunge arbeitete noch mit vier Prozent Leistung, künstliches Koma, Nierenversagen, künstliche Beatmung... Meine Muskeln waren während des Komas in Bauchlage weggeschmolzen wie Butter in der Sonne. Mehrfach stand es Spitz auf Knopf, aber ich hatte die Virus-Attacke durch das Können und den Einsatz der Ärzte, der Pflegerinnen und Pfleger überlebt.

Ich will, wo immer ich kann, vor leichtfertigem Umgang mit Covid-19 warnen. Dieses Virus hat unverändert seine Chancen auf Verbreitung und ergreift sie immer dort, wo Menschen leichtsinnig agieren. Schützen Sie sich und schützen Sie andere. Covid-19 kennt keinen Spaß und keine Rücksicht. Das Virus sucht Opfer. Unerbittlich."

"Meine Frau und Tochter durften mich in der Koma-Phase nicht ein einziges Mal besuchen": Dr. Joachim Huber (64) wurde am 10. November 2020...
"Meine Frau und Tochter durften mich in der Koma-Phase nicht ein einziges Mal besuchen": Dr. Joachim Huber (64) wurde am 10. November 2020...
... als einer von fünf genesenen Corona-Patienten von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (66, SPD) empfangen.
... als einer von fünf genesenen Corona-Patienten von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (66, SPD) empfangen.

Ein Buch, viele Geschichten

Sammelte 70 Corona-Geschichten: Buchautor Detlef M. Plaisier (63).
Sammelte 70 Corona-Geschichten: Buchautor Detlef M. Plaisier (63).

Die vollständigen und 67 weitere sehr persönliche Corona-Geschichten sind im Buch "Wir werden einander viel, sehr viel zu vergeben haben" (Preis: 20 Euro) nachzulesen – teilweise die Original-Zuschriften der Texte auf Plattdeutsch, Niederländisch, Englisch und Russisch. Das Werk kann im Buchhandel oder direkt beim Verlag Edition Kronzeugen bezogen werden.

Mehr dazu: plaisier-aktiv.de