Biden setzt Zeichen an Nato-Ostflanke - Moskau verstärkt Truppen

Für den US-Präsidenten ist die Ukraine Schauplatz eines globalen Wettbewerbs zwischen Demokratien und Autokratien. Der russische Außenminister beschuldigt den Westen, mit den Sanktionen einen "hybriden, totalen Krieg" angezettelt zu haben.

US-Präsident Joe Biden (l.) mit Polens Amtsinhaber Andrzej Duda. (Foto: Evelyn Hockstein/Reuters)
US-Präsident Joe Biden (l.) mit Polens Amtsinhaber Andrzej Duda. (Foto: Evelyn Hockstein/Reuters)

Kiew/Rzeszow - US-Präsident Joe Biden hat am 30. Tag des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine das östliche Nato-Mitglied Polen besucht. Nur 90 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt traf sich Biden am Freitag in der Stadt Rzeszow zunächst mit in Polen stationierten US-Soldaten. Der US-Präsident sagte, in dem Konflikt gehe es um mehr, als den Menschen in der Ukraine zu helfen und die "Massaker" zu stoppen. Es gehe auch um die Freiheit der Kinder und Enkel der amerikanischen Soldaten. In den vergangenen zehn Jahren seien mehr Demokratien auf der Welt verloren gegangen, als neu gegründet worden seien. Die Frage sei, ob sich im globalen Wettbewerb Demokratien oder Autokratien durchsetzten.

Russland kündigte als Reaktion auf den Nato-Aufmarsch an der Ostflanke an, seine Truppen an der Westgrenze aufzustocken. Die Nato hatte wegen des Kriegs ihre Verteidigungspläne aktiviert und an der Ostflanke 40.000 Soldaten dem direkten Kommando des Bündnisses unterstellt. Moskau warf dem Westen vor, mit den Sanktionen Krieg gegen Russland zu führen. "Heute haben sie uns einen echten hybriden Krieg erklärt, den totalen Krieg", sagte Außenminister Sergej Lawrow.

Moskau veröffentlicht Zahl getöteter Soldaten

Biden will mit dem Besuch in Polen die Nato-Ostflanke stärken. Am Freitag wollte er sich mit dem polnischen Staatschef Andrzej Duda treffen. Dessen Flugzeug musste aber wegen eines Schadens nach Warschau zurückkehren. Dort stieg Duda in ein Ersatzflugzeug um. An diesem Samstag will der US-Präsident in Warschau eine Rede halten.

Erstmals seit dreieinhalb Wochen veröffentlichten die Russen Zahlen zu Verlusten ihrer Armee. Es seien 1351 russische Soldaten getötet und 3825 Soldaten verletzt worden, teilte der Generalstab mit. Experten gehen allerdings von mehreren Tausend toten russischen Soldaten aus, die Ukraine spricht von 16.000 getöteten russischen Soldaten. Auf ukrainischer Seite seien 14.000 Soldaten getötet und 16.000 weitere verletzt worden, hieß es aus Moskau. Die Ukraine selbst hatte zuletzt am 12. März von rund 1300 getöteten Soldaten in den eigenen Reihen gesprochen. Die Zahlen sind nicht überprüfbar.

Ukrainer sehen Rückzug russischer Truppen

Aus der Ukraine wurden auch in der Nacht zum Freitag heftige Kämpfe gemeldet. Im Nordosten zogen sich nach Angaben des ukrainischen Generalstabs aber einige russische Verbände hinter die Grenze zurück. Sie hätten hohe Verluste erlitten, teilweise mehr als die Hälfte ihrer Kräfte, hieß es. Die Angaben aus dem Kriegsgebiet waren nicht unabhängig überprüfbar. Allerdings bestätigten in den vergangenen Tagen auch US-amerikanische und britische Quellen, dass ukrainische Kräfte östlich und nordwestlich der Hauptstadt Kiew erfolgreiche Gegenangriffe unternommen hätten. Die westlichen Militärmächte beobachten das Geschehen mit Satelliten.

Im Nordosten der Ukraine blockierten russische Truppen aber weiter die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw und das Regionalzentrum Sumy. Bei Isjum im Gebiet Charkiw bereiteten sich russische Truppen auf eine neue Offensive vor, teilte der Generalstab in Kiew mit.

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Ukrainischen Angaben nach feuerten russische Kräfte in der Nacht zweimal Raketen auf eine Militäreinheit nahe der Stadt Dnipro. Die Kasernen seien dabei erheblich beschädigt worden, teilte die regionale Militärverwaltung auf Facebook mit. Dnipro liegt im Zentrum der Ukraine und ist bislang von Angriffen weitgehend verschont geblieben. Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, ein ukrainisches Treibstofflager nahe Kiew sei zerstört worden.

Für die Evakuierung von Zivilisten aus der von russischen Truppen belagerten Hafenstadt Mariupol standen am Freitag 48 Busse im nahe gelegenen Berdjansk bereit. Ukrainischen Angaben zufolge war für die weitere Flucht mit der russischen Seite ein Korridor bis in die Großstadt Saporischschja vereinbart.

USA wollen Europa mit riesigen Mengen Flüssiggas versorgen

In Brüssel vereinbarte US-Präsident Biden mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass Europa unabhängiger von Energielieferungen aus Russland werden soll. Die USA wollen in diesem Jahr mit internationalen Partnern 15 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas (LNG) zusätzlich in die EU liefern. Langfristig solle die Menge auf 50 Milliarden Kubikmeter pro Jahr ansteigen, kündigten Biden und von der Leyen an. Damit könnte nach Kommissionsangaben etwa ein Drittel der derzeitigen Gasimporte aus Russland ersetzt werden.

Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten am Donnerstag bei ihrem Gipfel in Brüssel keine Einigkeit über eine grundsätzliche Absage an russische Energielieferungen gezeigt. Am Freitag wurde dann stundenlang über den richtigen Umgang mit den hohen Energiepreisen diskutiert. In einem vor dem Gipfel ausgearbeiteten Entwurf hieß es, die EU-Kommission solle konkrete Maßnahmen gegen die hohen Strompreise vorlegen - ohne den Binnenmarkt oder die Energiewende zu gefährden. Ein Beschluss stand noch aus.

Deutschland kommt nach Darstellung von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) voran auf dem Weg zu weniger Gas, Öl und Kohle aus Russland. "Deutschland ist dabei, seine Energieabhängigkeit von Russland in hohem Tempo zu verringern und die Energieversorgung auf eine breitere Basis zu stellen", heißt es in einem Papier des Ministeriums. Habeck sagte, mit Ende des Sommers und zum Herbst hin könne Deutschland komplett auf russische Kohle verzichten. Beim Öl erwarte er eine Halbierung der russischen Importe zum Sommer. Beim Gas könne es gelingen, bis zum Sommer 2024 bis auf wenige Anteile unabhängig von russischen Lieferungen zu werden.

Die EU beschloss, zur finanziellen Unterstützung der Ukraine einen Solidaritätsfonds einzurichten. Durch den russischen Angriffskrieg erleide die Ukraine enorme Zerstörungen und Verluste, hieß es in einer Erklärung. Dem Land solle geholfen werden bei laufenden Ausgaben, aber auch "nach Beendigung des russischen Angriffs beim Wiederaufbau einer demokratischen Ukraine". Wie zuvor die USA erhob auch die EU offiziell gegen Russland den Vorwurf, in der Ukraine Kriegsverbrechen zu begehen.

An den deutschen Grenzen wurde bis Freitag die Einreise von 253 157 Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine registriert. Das teilte das Bundesinnenministerium mit. Die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen, weil viele Ukrainer kein Visum brauchen und nicht überall kontrolliert wird. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks haben seit Kriegsbeginn mehr als 3,7 Millionen Menschen die Ukraine verlassen.

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