Billy Talent: "Junkfood für den Verstand"

Billy Talents fünftes Studio-Album "Afraid of Heights" ließ ein wenig länger auf sich warten als gewöhnlich. Denn durch das Wiederaufkeimen der MS-Erkrankung von Schlagzeuger Aaron Solowoniuk gerieten die Arbeiten dazu ins Stocken. Wie die Kanadier mit der Situation umgegangen sind, was hinter dem Album-Titel steckt und warum früher alles besser war, hat Bassist Jon Gallant im Interview mit spot on news verraten.

Jon, Billy Talent haben bisher immer im Dreijahresrhythmus Alben veröffentlicht. Auf "Afraid of Heights" mussten die Fans etwas länger warten.

Jon Gallant: Ja, nach unserer letzten Tour haben wir uns eine kleine Pause gegönnt. Dann haben wir das Management zweimal gewechselt. Dann kam das Greatest Hits Album raus. Und dann hatten wir einige Rückschläge wegen Aarons Krankheit und die Dinge haben sich etwas verlangsamt. Wir wollten einfach nichts überstürzen, weil uns die Musik einfach zu wichtig ist.

Die Nachricht von Aarons MS-Rückfall muss ein Schock gewesen. Wie sind Sie mit dieser Situation umgegangen?

Gallant: Es war eine sehr schwere Zeit für uns. Besonders für Aaron. Er hat die letzten Jahre mit einigen Symptomen der Krankheit gekämpft und uns nur sehr wenig darüber erzählt. Wir haben dann aber bemerkt, dass er bei Konzerten und Proben sehr zu kämpfen hatte. Er hatte einen MS-Rückfall. Das war extrem schwierig für uns, aber wir haben, auch nach Aarons Aufforderung, die Entscheidung getroffen weiter zu machen, da wir nicht wussten, wann er wieder in der Lage gewesen wäre, Schlagzeug zu spielen.

Wie geht es ihm?

Gallant: In den letzten Wochen ging es ihm wieder besser. Er fährt wieder Fahrrad und bleibt positiv. Wir sind alle hoffnungsvoll und er arbeitet hart daran wieder zurückzukommen.

Die Aufnahmen für das Album hat dann Jordan Hastings, Drummer von Alexisonfire, übernommen. Wie kam der Kontakt zustande?

Gallant: Wir kennen Jordan schon über zehn Jahre. Er ist wirklich großartig und ein sehr guter Drummer, also war er die erste Wahl. Dazu kam, dass Ian kürzlich mit ihm an einigen Songs seiner anderen Band "Say Yes" gearbeitet hat. Der Kontakt war somit schon da.

Das Album trägt den Titel "Afraid of Heights". Wer in der Band hat Höhenangst?

Gallant: Eigentlich keiner. In dem Song geht es darum, eine Beziehung auf das nächste Level zu heben. Als das restliche Material fertig war, hat sich dieses Thema auch auf die anderen Songs übertragen lassen. Es geht darum, bessere moralische Entscheidungen zu treffen und keine Angst davor zu haben. Wenn du dir die Dinge ansiehst, die gerade auf der Welt passieren, wie Trump, der versucht seine Mitbürger mit Hass und Angst zu spalten, ist das für uns rückwärtsgewandtes Denken und es zeigt die Angst davor, zusammenzurücken und seinen Brüdern zu helfen. Der Titel ist eine Metapher dafür.

Haben Bands eine ethische oder politische Verantwortung gegenüber ihren Fans?

Gallant: Ich denke, dass es in Musik einen Platz dafür gibt, ja. Vielleicht nicht bei jeder Band oder jedem Künstler. Justin Bieber ist sicher nicht politisch. Aber Rock- und Punk-Bands haben schon eine gewisse Verantwortung, auf Probleme aufmerksam zu machen und über wichtige Themen zu reden. Wir haben immer diesen Ansatz verfolgt: Wenn du in einer Bar bist, sprichst du mit deinen Freunden über viele verschiedene Themen. Sie können politisch oder persönlich sein. Wir wollten unsere Texte immer auf diese Art gestalten. Als hättest du eine Diskussion mit jemandem.

Am Ende der Platte gibt es eine zweite, komplett elektronische, Version des Songs "Afraid of Heights" und auch "Horses & Chariots" spielt mit Synthesizern. Was hat Sie dazu inspiriert?

Gallant: Die erste Version von "Horses & Chariots" war komplett elektronisch. Davon ausgehend haben wir sie zu einem Rock-Song mit einem elektronischen Dreh weiterentwickelt. Es ist mehr eine Hommage an Depeche Mode und andere Bands aus den 80ern, die wir mochten. Aber man möchte sich als Musiker auch weiterentwickeln, experimentieren und neue Dinge ausprobieren.

Was die zweite Version von "Afraid of Heights" angeht: Ian hatte diesen Song ursprünglich als reine Rock-Nummer geschrieben. Dann hat er damit rumgespielt und heraus kam eine Piano-Version, die uns weggeblasen hat. Wir waren uns nicht sicher, welche Version auf das Album soll, bis uns dann eingefallen ist, dass viele unserer Lieblingsbands auch öfter verschiedene Versionen ihrer Songs veröffentlicht haben. Wie zum Beispiel "Synchronicity" von The Police. Also haben wir einfach zwei Versionen auf das Album gepackt.

Werden wir auch in Zukunft mehr elektronische Elemente in Ihren Songs hören?

Gallant: Wir verschließen uns vor nichts. Momentan denke ich aber nicht an unsere musikalische Zukunft. Wir wollten nie eine Band sein, die sich auf einen Sound versteift. Wir wollten uns immer die Möglichkeit offenhalten, musikalisch zu wachsen, experimentieren zu können und künstlerisch kreativ zu sein. Das ist auch der Grund, warum wir nicht wie andere Bands klingen.

Unter afraidofheightsgallery.com haben Sie Ihre Fans dazu aufgerufen, kreativ zu werden und aus dem Text von "Afraid of Heights" etwas Eigenes zu schaffen. Woher kam die Idee?

Gallant: Wir haben den Manager gewechselt und er wollte die Menschen, die Billy Talent mögen besser verstehen und kennenlernen. Also haben wir diese, nennen wir es mal, Marketing-Umfrage erstellt und einfache Dinge über unsere Fans abgefragt. Wo sie herkommen, was sie in ihrer Freizeit machen oder was für Fernsehsendungen sie schauen. Dadurch hatten wir eine Menge wirklich cooler Informationen. Dabei wurde deutlich, dass die meisten selbst künstlerisch aktiv sind. Daraus wollten wir etwas machen. So entstand die Idee dazu - und es ist großartig geworden. Jetzt haben wir die schwierige Aufgabe, zu entscheiden, was davon die beste Einsendung ist.

Im Allgemeinen nutzen Sie - wie eigentlich jede Band heutzutage - Social-Media stark. Wie sehr denken Sie, hat das Internet das Musik-Business verändert?

Gallant: Ich hab das Gefühl, dass es der Musik ein wenig schadet. Wir sind in den 90ern mit einflussreichen Bands wie Soundgarden, Nirvana, Pearl Jam, Primus, Ministry, Red Hot Chilli Peppers und Rage Against the Machine aufgewachsen. Wir haben auf eine kontrollierte und organische Art und Weise davon erfahren. Über das Radio, das Fernsehen oder Magazine. Es gab jemanden, der Geld investiert und diese Bands rausgebracht hat. Heute ist es durch Technologie und Internet sehr einfach geworden, Musik zu produzieren und zu verbreiten. Es gibt einfach zu viel Musik da draußen und einfach zu viel schlechte Musik. Um an die wirklichen Perlen zu kommen, muss man sich durch so viel Mist kämpfen.

Damals in den 90ern haben Major-Labels künstlerisch anspruchsvolle Bands wie Tool rausgebracht, die sieben- oder achtminütige Songs geschrieben haben. Heute würde ein großes Label so etwas nie rausbringen, weil die Leute nicht schnell genug einen Zugang dazu finden würden. Sie nehmen einfach kein Geld mehr in die Hand, um neue Bands zu entwickeln. Früher haben die Majors deutlich mehr großartige und wichtige Musik veröffentlicht. Jetzt ist alles irgendwie lahm. Es fehlt eine grundsätzliche Idee. Es ist nur noch Junkfood für den Verstand.

Oft veröffentlichen junge Bands einfach ein Cover eines beliebten Popsongs über Youtube und bekommen so schnell viel Aufmerksamkeit. Sie waren vor Ihrem Durchbruch bereits zehn Jahre unterwegs. Ist das der bessere Weg?

Gallant: Die andere Seite der Internet-Medaille ist ja, dass ebenso viel Gutes daraus entstehen kann. Wir ziehen im vollen Umfang Nutzen aus Youtube, Twitter und Facebook. Aber es stimmt, wir haben vor all dem angefangen und kennen beide Seiten. Wir haben nämlich noch selbst Flyer verteilt und Poster aufgehängt, damit die Leute zu unseren Konzerten kommen. Aber unser Label hat uns später auch Geld gegeben, um uns zu supporten, damit wir beispielsweise in Deutschland touren können. Viele machen das heute so nicht mehr. Ich weiß aber ehrlich gesagt nicht, was der bessere Weg ist.

Was wollen Sie mit Billy Talent noch erreichen?

Gallant: Das gibt es noch einiges. Wir wollen überall auf der Welt den gleichen Erfolg haben, den wir beispielsweise in Deutschland haben - auch in den USA. Wir haben noch nie Shows in Südamerika gespielt. Wir haben immer noch viel großartige Musik in uns. Das ist unser Leben, deshalb ist es einfach motiviert zu bleiben.

Warum hat es bisher in Amerika nicht geklappt?

Gallant: Wir haben dort nie den gleichen Radio-Support bekommen, wie in anderen Ländern. Und ich denke, dort herrscht eine endliche Kultur. Ich glaube auch, dass unsere Musik sehr smart ist und ich weiß nicht, ob das in der dortigen Rock-Musik gut ankommt. Die Amerikaner mögen es mehr geradeaus. Dazu sind wir politisch... sie mögen es poppig.

Foto(s): Warner Music/ Dustin Rabin, Warner Music