Die zwei Leben des Carsten S.

Er besorgte die Mordwaffe des NSU – am Dienstag will der 33-Jährige vor Gericht aussagen.

Jeden Morgen, wenn Carsten S. den Saal A 101 am Oberlandesgericht München betritt, versteckt er sein Gesicht unter einer riesigen dunkelblauen Kapuze. Man sieht ihm an, dass er am liebsten ganz verschwinden würde von diesem Ort. Carsten S. ist unter den fünf Angeklagten im NSU-Prozess derjenige mit der wohl wechselvollsten Biografie. Und – vielleicht neben Holger G. – der Einzige, von dem Worte des Bedauerns gegenüber den Opfern des NSU-Terrors zu erwarten sind. Das könnte schon an diesem Dienstag passieren. Denn wenn es nach Richter Manfred Götzl geht, wird er an diesem Tag mit der Vernehmung des geständigen 33-Jährigen beginnen.

Damit würde es im Prozess endlich nicht mehr nur um juristische Scharmützel, sondern um die Vorwürfe gegen Beate Zschäpe und ihre vier Mitangeklagten gehen: um die zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle, die dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) vorgeworfen werden.

Carsten S. lebt seit Jahren offen schwul und engagierte sich bis zu seiner Festnahme für die Aids-Hilfe in Köln. Vom Rechtsextremismus hat er sich vor mehr als einem Jahrzehnt losgesagt. Doch vorher hat er etwas getan, was ihn wohl sein Leben lang verfolgen wird. Carsten S. hat Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die Tatwaffe für die Mordserie an neun Migranten besorgt, eine Ceska mit 50 Schuss Munition und einem Schalldämpfer. Er ist deshalb wegen Beihilfe an neun Morden angeklagt.

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Über seinen Anwalt Jacob Hösl äußerte Carsten S. sich Anfang 2012 einmal öffentlich. Er sei 2000 aus der rechten Szene ausgestiegen. „Seitdem habe ich mich davon distanziert und verabscheue jegliche Art von rechtem, rassistischem und extremistischem Gedankengut“, ließ er mitteilen. „Auch hatte ich nach 2000 keinen Kontakt mehr zur rechten Szene. Weiterhin hatte ich keine Kenntnis von Straftaten, die von dieser Gruppe ausgingen“, heißt es weiter. Und schließlich: „Mehr möchte ich dazu nicht sagen, da ich vor 11 Jahren ein neues Leben begonnen habe.“

Sein altes Leben holt ihn am 1. Februar 2012 mit Wucht wieder ein. Die GSG 9 nimmt ihn in seiner Düsseldorfer Wohnung fest, in der er mit seinem Lebensgefährten lebt. Bis Mai 2012 bleibt Carsten S. in Untersuchungshaft. Seit seiner Entlassung lebt er an einem geheimen Ort. Durch seine Aussage gegenüber den Ermittlern hat er sich in der Neonazi-Szene keine Freunde gemacht. Carsten S. ist einer der wichtigsten Zeugen der Anklage. Er belastet vor allem Ralf W.

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Carsten S. war Ende der Neunziger Jahre zusammen mit Ralf W. im NPD-Kreisverband Jena engagiert. Als Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt schon untergetaucht waren, soll S. telefonisch den Kontakten zu ihnen gehalten haben. Ralf W. glaubte, überwacht zu werden, weshalb er S. um Hilfe gebeten haben soll. Er habe für die Drei im Untergrund noch weitere Dinge erledigt, gibt S. an. So sei er einmal in Zschäpes Jenaer Wohnung eingebrochen, um persönliche Unterlagen für sie zu holen.

Gegenüber den Ermittlern sagt S., er habe auf Anweisung von Ralf W. in Jena für 2500 D-Mark die Mordwaffe gekauft. Auch das Geld habe er von W. erhalten. Carsten S. selbst habe die Ceska dann in Chemnitz an Böhnhardt und Mundlos übergeben. Er will nie gefragt haben, wofür sie die Schusswaffe brauchten. Offenbar aufgrund seines Bekenntnisses zur Homosexualität wendet sich Carsten S. schließlich vom Rechtsextremismus ab. 2003 zieht er nach Nordrhein-Westfalen, studiert Sozialpädagogik in Düsseldorf und arbeitet bis zu seiner Festnahme bei der Aids-Hilfe.

Von den Morden habe er nichts gewusst, beteuert er. Für die Bundesanwaltschaft ist das schwer vorstellbar.

Da Carsten S. erst 18 oder 19 Jahre alt war, als er die Waffe besorgte, könnte er als damals Heranwachsender nach Jugendstrafrecht verurteilt werden. Dann läge die Höchststrafe für Beihilfe zum Mord bei zehn Jahren Gefängnis. Weil er geständig ist, kann er mit einer geringeren Strafe rechnen. Noch am letzten Tag vor den Pfingstferien sagt er vor Gericht: „Ich werde aussagen.“

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