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„Wie eine Businessfrau auf Geschäftsreise“

Vor dem Oberlandesgericht München hat der NSU-Prozess begonnen – und Beate Zschäpe kehrt der Welt den Rücken.

Das Gewitter ist ausgeblieben. Entgegen der Ankündigung scheint an diesem Montag zumeist die Sonne am Münchener Himmel. Auch ein „Antragsgewitter“ von der Verteidigung, wie es ein Opferanwalt vorhergesagt hatte, gibt es zum Auftakt des NSU-Prozesses nicht. Es gibt nur einen Antrag von Beate Zschäpes Anwälten, doch schon dieser reicht, um den Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts fast den ganzen ersten Prozesstag lang zu beschäftigen.

Mit knapp halbstündiger Verspätung hat kurz vor halb elf Uhr einer der bedeutendsten Prozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte begonnen. Beate Zschäpe wird ohne Hand- und Fußfesseln in den Saal geführt. Sie trägt eine weiße Bluse, einen dunkelblauen Blazer, schwarze Jeans und ihre Haare offen. Den Fotografen dreht sie demonstrativ den Rücken zu. Die 38-Jährige soll mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) gebildet haben. Nach dem Selbstmord der Männer muss sich Zschäpe als Hauptangeklagte unter anderem wegen Mittäterschaft an der rechtsterroristischen Mordserie verantworten. Acht Opfer hatten türkische, eines griechische Wurzeln. Ihr droht eine lebenslange Freiheitsstrafe, vielleicht Sicherungsverwahrung.

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Mit ihr auf der Anklagebank sitzen Ralf W., Carsten S., André E. und Holger G. Die einen werden noch heute in der Szene gefeiert, die anderen fürchten Racheakte. Holger G. verdeckt mit einem Pappordner sein Gesicht. Carsten S. scheint ganz unter der Kapuze seines Pullovers verschwinden zu wollen. Der 33-Jährige gilt als Aussteiger, lebt seit Jahren offen schwul. Er hat gestanden, die Mordwaffe besorgt zu haben, beteuert aber, nichts von den Mordplänen gewusst zu haben. Er ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Auch Holger G. hat mit den Ermittlern kooperiert. Der 38-Jährige muss sich wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verantworten. Solidaritätsaktionen in der Szene gibt es für den Ex-NPD-Funktionär Ralf W. Der 38-Jährige ist unter anderem wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Wie Zschäpe sitzt auch er in U-Haft. André E. schließlich, 33 Jahre alt, gilt den Anklägern als wichtiger Unterstützer des NSU.

Im Saal treffen sie auf trauernde Angehörige der Opfer. Auf der Zuschauertribüne sitzen Vertreter des türkischen Parlaments. Auch der türkische Botschafter soll für einen Moment im Gericht gewesen sein, sagt die Sprecherin. Zur Anklageverlesung aber kommt es an diesem Tag nicht. Bis zum Nachmittag sind die Richter mit dem Antrag von Zschäpes Verteidigung beschäftigt. Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm lehnen den – inzwischen weltberühmten – Vorsitzenden Richter Manfred Götzl wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Die drei Strafverteidiger sehen nicht ein, dass sie vor Betreten des Gerichts nach Waffen und anderen verbotenen Gegenständen durchsucht werden, nicht aber die Vertreter der Bundesanwaltschaft.

Eine gute Stunde zuvor. Die Nebenklagevertreter Jens Rabe und Stephan Lucas gehen gegen 9.15 Uhr gemeinsam mit ihrer Mandantin Semiya Simsek durch die Sicherheitsschleuse am Haupteingang. Lucas fremdelt ein wenig mit dieser für Anwälte eher ungewöhnlichen Prozedur. Er legt sein Jackett ab, sein sperriger Pilotenkoffer wird von einem Justizbeamten erst kritisch beäugt, dann durchleuchtet. Lucas schaut triumphierend, als er ohne Piepen die Schleuse absolviert. Rabe und Lucas ziehen sich grinsend wieder an.

Semiya Simsek ist die Tochter des wohl ersten Mordopfers des NSU. Ihr Vater, Enver Simsek, wurde im September 2000 in Nürnberg erschossen. Semiya Simsek scheint der bevorstehende Begegnung mit Beate Zschäpe beeindruckend gelassen entgegenzusehen. Sie wirkt nicht außergewöhnlich angespannt. Eben ist sie an Karl-Heinz Statzberger vorbeigelaufen. Der Rechtsextremist ist der Polizei bekannt und vorbestraft. Er soll Anführer der rechtsradikalen Kameradschaft München sein. Nun steht er in der Besucherschlange. Doch am Morgen kommt er nicht rein. Der Saal ist längst voll. Am Nachmittag gibt es Gerüchte, dass er es doch geschafft hat. Angeblich zusammen mit Maik E., dem Zwillingsbruder des angeklagten André E.

Wie Semiya Simsek den Moment erlebt hat, Beate Zschäpe und den anderen gegenüberzutreten, will sie später an diesem Tag nicht sagen. Auch Lucas und Rabe wollen in der Mittagspause nicht mit Journalisten sprechen.

Mehmet Daimagüler hingegen spricht. „Arrogant“ und „insgesamt unangemessen“, nennt der Anwalt zweier Opferfamilien in der Mittagspause den Auftritt von Beate Zschäpe. „Sie hat sich als Businessfrau verkleidet, scherzt mit ihren Anwälten und scheint es zu genießen, im Mittelpunkt zu stehen“, sagt Daimagüler. Sie gebärde sich „wie eine Businessfrau auf Geschäftsreise“. Doch ihr Verhalten dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, warum sie auf der Anklagebank sitze. „Sie war mutmaßlich an zehn Morden beteiligt“, sagt der Anwalt. „Den NSU hätte es ohne sie nicht gegeben.“

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Zschäpes Verteidiger Wolfgang Heer und ihre Verteidigerin Anja Sturm sind unterdessen auf der Flucht. Die Luft im fensterlosen Gerichtssaal ist schlecht, die im restlichen Gebäude auch nicht viel besser. Vielleicht zwei Minuten lang haben sie Ruhe, als sie das Gebäude zur Pause verlassen. Heer zündet sich eine Zigarette an. Dann geht alles ganz schnell. Ein Kamerateam, noch eines, drei Fotografen, dutzende Journalisten, eine Medienmeute. Sie alle hören nur den einen Satz von Heer: „Wir geben heute keine Stellungnahme ab.“ Doch der Pulk wird immer größer. Heer und Sturm flüchten in eine andere Ecke. Die Presse hinterher.

„Es ist immer nicht so gut, wenn sich Journalisten langweilen“, sagt Polizeisprecher Wolfgang Wegner am Morgen. Was er damit meint, lässt sich an diesem Morgen vor dem Gericht eindrucksvoll beobachten. Zwei kreischende Frauen wollen sich von den Polizisten nicht daran hindern lassen, das Gericht zu betreten. „Nazi, Nazi“, rufen sie und werden immer aufgeregter, als sich mehr und mehr Polizisten um sie scharen. Immer mehr Kameras richten sich auf die Szene. Von der Protestbühne auf der anderen Straßenseite, ruft jemand durchs Mikrofon, die Polizisten sollten die beiden festgenommenen Migrantinnen endlich freilassen. Doch es ist gar keiner festgenommen, tatsächlich verhalten sich die Polizisten sehr besonnen. Sie reden ruhig auf die schimpfenden Frauen ein. Sprechchöre erklingen: „Hoch die inter-natio-na-le Soli-dari-tät.“ Die Situation wird immer angespannter. Polizisten stellen sich geschlossen vor die Transparente der ordnungsgemäß Protestierenden. Die beiden Frauen kreischen erneut. Ein Mann fordert die Polizisten über Lautsprecher zum Rückzug auf. Münchens Oberbürgermeister Christian Ude beobachtet die Situation ganz genau, schließlich geht er hin und versucht, beruhigend auf die Frauen einzuwirken. Irgendwann verlieren die ersten Journalisten die Lust an dem Spektakel, die Kameras werden weniger, der Pulk löst sich auf, alle beruhigen sich.

Vor Gericht fordern Teilnehmer einer Kundgebung des „Bündnisses gegen Naziterror und Rassismus“ die Auflösung des Verfassungsschutzes und die rückhaltlose Aufklärung rechtsextremer Strukturen. Später legen Vertreter der türkischen, griechischen und israelischen Gemeinde einen Kranz nieder. Im Gedenken an die Opfer rechtsextremer Gewalt. Schwarze Luftballons steigen in den Himmel. Und immer wieder werden die zehn Namen der Toten genannt: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kilic, Yunus Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık,Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter.


Über die Autorin:

Wiebke Ramm schreibt für Tageszeitungen in ganz Deutschland über bedeutsame Gerichtsverfahren, erklärt Hintergründe und gesellschaftspolitische Entwicklungen. Sie berichtete unter anderem über den RAF-Prozess gegen Verena Becker, den Fall Kachelmann und den Prozess gegen Ernst August Prinz von Hannover.