„Europa muss wieder zu einem Europa der Bürger werden“


Martin Schulz will nach den Europawahlen am 25. Mai 2014 der Europäischen Kommission vorstehen. Im Interview mit Yahoo Deutschland spricht der EU-Parlamentschef und SPD-Politiker über seine Pläne, Erwartungen und darüber, was mit ihm an der Spitze der Europäischen Kommission anders werden könnte.



Herr Schulz, Sie wollen EU-Kommissionspräsident werden. Was würden Sie dann ändern?

Ich will ein Europa der Bürger, kein Europa der Banken und Spekulationen. Oberste Priorität hat außerdem der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, insbesondere der hohen Jugendarbeitslosigkeit in vielen EU-Ländern. Dafür möchte ich ein Umfeld schaffen, das es Unternehmen leichter macht, mehr Leute einzustellen.

Würden davon nicht vor allem große Konzerne profitieren?

Kleine Unternehmen, die das Rückgrat unserer Wirtschaft sind, sollen durch neue Kreditprogramme leichter an Geld kommen und länger Zeit haben für die Rückzahlung. Ich würde außerdem für die Gleichstellung der Löhne unter den Geschlechtern sorgen. In Europa verdienen Männer für den gleichen Job noch immer durchschnittlich 15% mehr als Frauen. Das ist beschämend. Meine Kommission sieht als ihre Aufgabe an, für steuerliche und soziale Gerechtigkeit zu sorgen und Steuerhinterziehung noch stärker zu ahnden. Steueroasen und –betrug kosten die EU jedes Jahr noch immer Millionen von Euro, die in öffentliche Einrichtungen investiert werden könnten.


Hat sich viel verändert, seitdem Sie 1994 als Abgeordneter ins EU-Parlament einzogen sind? Gab es damals mehr Europa als heute, mehr Freude an europäischer Einigung?


Ich glaube nicht, dass heute generell weniger Begeisterung für Europa herrscht, als noch vor 20 Jahren. Es ist jedoch mehr Frustration und Verdruss zu spüren als damals, was vor allem mit der momentanen wirtschaftszentrierten EU-Politik zusammen hängt. Diese Politik ist das Ergebnis konservativer und neoliberaler Politiker, welche die EU das vergangene Jahrzehnt über dominiert haben.

Was fehlt?

Dem europäischen Manifest selbst mangelt es an Solidarität. Es ist zu sehr auf dem nationalen Egoismus einzelner Staaten aufgebaut. Das ist eine willkommene Grundlage für Euroskeptiker. Mein Job ist es nun, den Menschen zu zeigen, dass sie auch eine andere politische Wahl treffen können.

Die EU-Skepsis nimmt mit jedem Tag zu. Warum ist das so und was wollen Sie dem außer Ihrer Begeisterung für Europa entgegen stellen?

Meine Kommission wäre jedem einzelnen EU-Bürger gegenüber fairer. Die Menschen sehen bisher ein System, welches ihnen während der Finanzkrise nicht zur Seite gestanden hat. Sie sehen Bankangestellte, die ihren Job verlieren, während verantwortungslose Spekulanten sechsstellige Summen einheimsen. Sie sehen Internet-Giganten Steuern einsparen, während Start-Ups darum kämpfen einen Kredit zu bekommen. Ich möchte die Herausforderung annehmen, diese Ungerechtigkeit zu bekämpfen und Europa zurück in den Dienst seiner Bürger zu stellen. Das wird hoffentlich auch das Ansehen der EU wieder herstellen.

Die EU-Finanzkrise führte zu einem allgemeinen Vertrauensverlust bei vielen Bürgern Europas. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel setzte sich mit einem strikten Sparkurs durch. War das richtig?

Nein das war es nicht. Sparpolitik allein kann nie die Lösung eines solch umfassenden Problems sein. Es muss vielmehr in das wirtschaftliche Wachstum Europas investiert werden. Erst letzte Woche habe ich mit dem italienischen Ministerpräsident Renzi darüber gesprochen, dass wir momentane Ausgaben und Investitionen der Zukunft differenziert betrachten müssen. Wirtschaftlicher Wachstum braucht verbindliche Verpflichtungen – nicht nur Einsparungen.

Vor allem in den südeuropäischen Ländern, die im Zuge der Finanzkrise große Einschnitte hinnehmen mussten, herrscht große Skepsis gegenüber der deutschen Führung. Wie wollen Sie diese wachsende Kluft, vor allem zwischen Deutschland und den ärmeren EU-Ländern, überwinden?

Jeder Europäer muss verstehen, dass es momentan nicht um die Unterschiede der einzelnen Länder geht, sondern vielmehr um die Unterschiede, was politische Ideen anbelangt. Als ich in Südeuropa unterwegs war, habe ich gemerkt, dass ich nicht als Deutscher, sondern vielmehr als Sozialdemokrat bzw. als Sozialist gesehen werde. Ich war einer der ersten EU-Politiker, die während der Finanzkrise nach Griechenland gereist sind. Außerdem war ich während verschiedener Wahlkampagnen oft in Ländern wie Spanien oder Portugal unterwegs. Gerade in diesen Ländern hält die SPE (Sozialdemokratische Partei Europas) die richtigen Antworten auf die strikte Sparpolitik der konservativen Parteien bereit.

Warum stehen rechtspopulistische Parteien in den Umfragen derzeit gut da? Sind diese Parteien, wie etwa die FN, die Lega Nord, die UKIP, eine Gefahr für Europa?

Die Gefahr, die von diesen Parteien ausgeht, betrifft nicht nur die Anzahl der Sitze, die sie im Parlament bekommen, sondern auch den Einfluss, den sie auf andere, teilweise auch etablierte Parteien ausüben. Jemanden wie Silvio Berlusconi für „mehr Italien, weniger Deutschland“ werben zu sehen, sendet besorgniserregende Signale. Von rechten Parteien geht eine Gefahr für alle EU-Bürger aus, denn Politiker wie Marie le Pen in Frankreich oder der Brite Nigel Farage haben kein Interesse daran, ihre Wünsche in Brüssel zu repräsentieren. Sie haben keine konkreten Lösungen, aber für alles einen Sündenbock. Was die EU braucht, sind Politiker die ihre Ärmel hochkrempeln und praktische Lösungen finden, statt Politiker, die von der rechten Seite Parolen rufen.

Die Jugendarbeitslosenquote ist in vielen EU-Ländern alarmierend. Sollte dementsprechend nicht mehr für die Förderung von wirtschaftlichem Wachstum getan werden? Wenn ja, was genau?

Die Jugendarbeitslosigkeit zu senken hat für mich oberste Priorität. Mein Kredit-Modell für kleine Unternehmen ist ein konkreter Lösungsansatz dafür. Weiterhin werde ich mich für ein höheres Budget für die Europäische Jugendgarantie einsetzen. Das hatten die Sozialisten bereits in der letzten Legislaturperiode vorgeschlagen, jedoch wurde der Entwurf aufgrund einer fehlenden Mehrheit abgelehnt.

Während der Finanzkrise forderten Sie die Einführung von Euro-Bonds, also von gemeinschaftlichen Schulden am Kapitalmarkt. Warum hört man darüber im aktuellen Wahlkampf nichts mehr von Ihnen?

Das Thema Eurobonds war vor allem auf dem Höhepunkt der Finanzkrise von Bedeutung, als die Zinssätze durch die Decke gingen. Es macht in gewisser Weise noch immer Sinn gemeinschaftliche Bonds bei einer gemeinschaftlichen Währung zu haben, doch das ist eher ein Projekt für die Zukunft.

Warum?

Das Thema hat nicht mehr die höchste Dringlichkeitsstufe. Momentan sind vor allem ein Kick-Start der Wirtschaft und die Schaffung neuer Jobs am wichtigsten.

Die EU ist eigentlich ein wichtiger außenpolitischer Player, bekommt aber Konflikte vor der eigenen Haustür – wie etwa in der Ukraine oder dem Nahen Osten – - nicht in den Griff.  Was muss sich ändern, damit die EU sich außenpolitisch gegenüber den USA emanzipieren und diese Konflikte selber lösen kann?

Außenpolitische Fragen bleiben vor allem in den Händen nationaler Regierungen. Die EU kann in dieser Hinsicht nur das machen, zu was die einzelnen Staaten sie ermächtigen. Ich schätze Cathy Ashton (Anm. d. Redaktion: erste hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik sowie Vizepräsidentin der Europäischen Kommission) sehr für ihre Arbeit, in dem Bereich. Leider wird das bisher in der Öffentlichkeit noch zu wenig beachtet. Frau Ashton hatte beispielsweise eine Schlüsselrolle bei den Verhandlungen mit dem Iran und hat wesentlich dazu beigetragen, die nukleare Aufrüstung des Landes zu stoppen.

Sie sind nahezu jeden Tag in einem anderen Land unterwegs. Wo herrscht die größte EU-Begeisterung, wo am wenigsten?


Ich kann Ihnen wirklich sagen, dass es überall in Europa begeisterte Anhänger gibt. Natürlich haben die Leute aufgrund der verschiedenen Umstände in den einzelnen Ländern auch unterschiedliche Sichtweisen. Die meisten Bürger sind aber offen für konstruktive Diskussionen darüber, wie wir unsere Institutionen gemeinsam dazu bekommen können, sich wieder in die richtige Richtung zu bewegen: und zwar in eine progressivere, sozialere Richtung, wo die Bedürfnisse des einzelnen Bürgers wieder ganz oben stehen.

Großbritannien steht offenbar nicht auf Ihrer Reiseroute. Warum eigentlich? Und warum werden insbesondere die Briten immer EU-skeptischer?

Die Wahl in Großbritannien ist in der Tat einzigartig, denn sie konzentriert sich vielmehr auf die generelle Frage nach einer EU-Mitgliedschaft, als auf die EU-Politik. Trotzdem denke ich dass das Land auch in Zukunft eine wichtige Rolle in der EU spielen wird und zwar als volles Mitglied. Schließlich bildet die Labor Party das Herz der sozialdemokratischen Wahl des europäischen Parlaments.

Sie wollen als demokratisch gewählter Spitzenkandidat Kommissionspräsident werden. Darüber aber entscheiden die EU-Regierungschefs, nicht die Wähler an den Urnen. Sehen sie die Gefahr, dass in Brüsseler Hinterzimmern ein Präsident ernannt wird, der die Wahlergebnisse nicht widerspiegelt?

Das Abkommen der EU macht deutlich, dass das Parlament das letzte Wort bei der Wahl des Kommissionspräsidenten hat. Alle großen politischen Gruppen haben diesem Prozess zugestimmt und klar verlauten lassen, dass nur einer der Kandidaten die Mehrheit im Parlament bekommt. Kein neuer Kandidat könnte durch ein so genanntes Hinterzimmerabkommen Kommissionspräsident werden.

Es werden immer wieder neue Namen genannt...

27 der 28 Staats- und Regierungschefs des europäischen Rates haben ihren Kandidaten bereits genannt. Sie alle wissen, dass es sich hierbei um einen demokratischen Prozess handelt und ich denke nicht, dass sie diesen durch die Nominierung alternativer Kandidaten in Gefahr bringen würden.

Das Interview wurde schriftlich geführt von Malte Arnsperger und Jan Rübel

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