Die größten Justizirrtümer in der Geschichte Deutschlands

Der strafrechtliche Grundsatz "in dubio pro reo“, lateinisch für "im Zweifel für den Angeklagten“, soll sicherstellen, dass niemand unschuldig verurteilt wird. Dennoch kommen immer wieder Menschen für Taten ins Gefängnis, die sie nicht begangen haben. Wir stellen Ihnen die spektakulärsten Justizirrtümer in der deutschen Rechtsgeschichte vor.

Der Fall Peggy Knobloch rief einen der größten Justizirrtümer der deutschen Geschichte hervor. Wer sie ermordet hat, ist bis heute unklar (Bild: AFP)
Der Fall Peggy Knobloch rief einen der größten Justizirrtümer der deutschen Geschichte hervor. Wer sie ermordet hat, ist bis heute unklar. (Bild: AFP)

Die größten Justizirrtümer: Mordfall Peggy

Es ist einer der rätselhaftesten Fälle Deutschlands und führte zu einem der größten Justizirrtümern der deutschen Geschichte: Im Mai 2001 verschwand die neunjährige Peggy Knobloch aus Lichtenberg spurlos auf dem Heimweg von der Schule. Einen Verdächtigen gab es schnell: den damals 23-jährigen Ulvi K.. Der geistig behinderte Mann war aktenbekannt wegen sexueller Handlungen mit Kindern. K. wurde im April 2004 wegen des Mordes an Peggy zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, obwohl er ein lückenloses Alibi hatte, forensische Beweise fehlten und damals keine Leiche gefunden wurde. Ein Justizirrtum?

Danach sah es zunächst nicht aus. Der Angeklagte hatte in einem Verhör zugegeben, das Mädchen ermordet zu haben. Er sei Peggy nachgelaufen, sie sei gestürzt, er habe sie eingeholt und habe ihr mit der Hand Nase und Mund zugehalten, bis sie sich nicht mehr bewegte. Ein Geständnis, das er später widerrief.

Erst zehn Jahre nach seiner Verurteilung wurde Ulvi K. in einem Wiederaufnahmeverfahren vor dem Landgericht Bayreuth hinsichtlich des Mordes an dem Mädchen freigesprochen. Es waren Zweifel am Wahrheitsgehalt seines früheren Geständnisses aufgekommen. K. wären von den vernehmenden Beamten mehrere Aussagen in den Mund gelegt worden.

Peggy Knoblochs Mörder ist immer noch auf freiem Fuß

Im Sommer 2016 wurde die Leiche von Peggy in einem Waldstück, nur 15 Kilometer vom Ort ihres Verschwindens entfernt, gefunden. Was tatsächlich mit dem kleinen Mädchen passiert ist, bleibt offen, und ihr Mörder ist noch immer auf freiem Fuß. Trotzdem wurden die Ermittlungen im Oktober 2020 eingestellt.

21 Jahre nach ihrem Verschwinden: Sterbliche Überreste der getöteten Peggy beigesetzt

Die Mutter der 2001 verschwundenen und ermordeten Peggy, Susanne Knobloch, glaubt jedoch zu wissen, wer ihre Tochter auf dem Gewissen hat. Wie sie dem Stern verriet, sei sie sich "sehr sicher". Auch wenn die vorhandenen Indizien offenbar nicht ausreichen, um Anklage zu erheben.

Die größten Justizirrtümer: Gustl Mollath – Opfer einer Intrige?

Im Fall Gustl Mollath, ehemaliger Controller und Besitzer einer Kfz-Werkstatt, reichten Ehestreitigkeiten, um einen der größten Justizirrtümer Deutschlands in Gang zu setzen.

Mollath war 2006 wegen Wahnvorstellungen und Gemeingefährlichkeit in die Psychiatrie eingewiesen worden, wo er 2747 Tage lang zu Unrecht saß. Seine damalige Ehefrau hatte ihn beschuldigt, sie geschlagen und gewürgt zu haben, er soll zudem die Reifen von Unternehmern, Anwälten, Ärzten zerstochen haben.

Gustl Mollath saß 2747 Tage lang zu Unrecht in der Psychiatrie (Bild: AFP)
Gustl Mollath saß 2747 Tage lang zu Unrecht in der Psychiatrie. (Bild: AFP)

Darüberhinaus attestierte ihm ein Gutachter paranoide Wahnvorstellungen, die sich um einen "Schwarzgeldkomplex" gedreht haben sollen. Mollath hatte zuvor die Schwarzgeldgeschäfte seiner Frau, die bei der HypoVereinsbank als Bankerin arbeitete, aufgedeckt. Niemand wollte ihm glauben, bis 2012 ein interner Bericht der HypoVereinsbank von 2003 bekannt wurde, der Mollaths Vorwürfe gegen seine Ex-Frau inhaltlich bestätigte.

Daraufhin entschied das Oberlandesgericht Nürnberg 2013 auf ein Wiederaufnahmeverfahren, das in einem Freispruch endete. Es kamen Zweifel an dem ärztlichen Attest auf, das damals die Verletzungen von Mollaths Ehefrau dokumentiert hatte. Es zeigte sich, dass seine Frau im Juni 2002 gar nicht von ihrer Hausärztin selbst, sondern von deren Sohn untersucht worden war, der als Weiterbildungsassistent in der Praxis beschäftigt war.

"Es war kein Justizirrtum, es war ein Staatsverbrechen“, sagte Mollaths langjähriger Unterstützer Wilhelm Schlötterer gegenüber der dpa. Er behauptete, dass die Schwarzgeldgeschäfte vertuscht werden sollten, weil der Freistaat Bayern an der Bank beteiligt war.

Im Jahre 2019 erhielt Gustl Mollath, der mehr als sieben Jahre zu Unrecht in der Psychiatrie saß, rund 670.000 Euro Entschädigung vom Freistaat. Gefordert hatte er ursprünglich 1,8 Millionen.

Die größten Justizirrtümer: Harry Wörz – Viereinhalb Jahre unschuldig in Haft

Harry Wörz - auch sein Name steht für einen fatalen Justizirrtum. Als seine getrennt lebende Ehefrau 1997 mit einem Schal stranguliert und beinahe getötet wurde, geriet Wörz schnell ins Visier der Ermittler. Die Polizistin hatte ein Verhältnis mit einem verheirateten Kollegen, für den sie Wörz verließ. Nach der Attacke erlitt die Frau so schwere Hirnschäden, dass sie keine Aussagen über den Täter machen konnte. Doch obwohl auch ihr Geliebter als Verdächtiger in Frage gekommen wäre, wurde Harry Wörz zu elf Jahren Gefängnis wegen versuchten Totschlags verurteilt. Das Mordmotiv soll die Lebensversicherung seiner damaligen Frau gewesen sein.

Wörz saß viereinhalb Jahre unschuldig im Gefängnis und stritt vor verschiedenen Gerichten, bis er im Dezember 2010 vom Bundesgerichtshof endgültig rehabilitiert und seine Unschuld rechtskräftig wurde. Der wahre Täter wurde nie gefunden.

Die größten Justizirrtümer: Badewannenmord – Manfred Genditzki 13 Jahre im Gefängnis

Manfred Genditzki saß wegen des Mordes an Lieselotte Kortüm mit hoher Wahrscheinlichkeit 13 Jahre unschuldig in Haft. Der ehemalige Hausmeister und die Rentnerin lebten in derselben Wohnanlage in Rottach-Egern am Tegernsee. Genditzki half der alten Dame im Alltag. Am 28. Oktober 2008 soll der damals 49-jährige Familienvater die 87-jährige im Streit bewusstlos geschlagen und in ihrer Badewanne ertränkt haben, wofür er 2010 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Seitdem beteuert Genditzki seine Unschuld und spricht von einem Justizirrtum.

Auch Manfred Genditzki ist ein Justizopfer (Bild: Matthias Balk/dpa)
Ist Manfred Genditzki ein Justizopfer? Alles deutet darauf hin. (Bild: Matthias Balk/dpa)

Jetzt, 13 Jahre nach seiner Verurteilung, wird der "Badewannenmord" neu aufgerollt. Seine Anwältin Regina Rick kämpfte zehn Jahren unermüdlich für die Wiederaufnahme des Verfahrens und hatte den dreifachen Familienvater sogar aus dem Gefängnis geholt. Ausschlaggebend waren ein Gutachten, wonach der Todeszeitpunkt sehr viel später ist, als bisher angenommen. "Er kann es nicht getan haben", sagte Genditzkis Verteidigerin Rick kurz vor dem Start des neuen Prozesses. Die Zeit sei viel zu knapp. "Das schafft ja nicht mal ein russischer Auftragskiller", erklärte sie. "Und im Übrigen hat er kein Motiv." Der Fall ist für sie "ein Justizskandal sondergleichen" und "fast beispiellos".

Eine Computersimulation soll zudem zeigen, dass die gebrechliche Seniorin bei einem Unfall in die Wanne gestürzt sei. "Wir rechnen mit einem Freispruch", erklärte Rick nach Prozessbeginn. Insgesamt 20 Verhandlungstage sind angesetzt, der letzte am 7. Juli 2023.

Die größten Justizirrtümer: Monika de Montgazon – 888 Tage unschuldig hinter Gittern

Monika de Montgazon wurde als Mörderin verurteilt und saß exakt 888 Tage im Gefängnis, weil Gutachter einen Unfall für Brandstiftung hielten.

2003 ging das Haus in Berlin-Buckow, das die Arzthelferin zusammen mit ihrem Vater bewohnte, in der Nacht zum 18. September in Flammen auf. Der schwerkranke Mann kam dabei ums Leben. Das zuständige Gericht sah es als erwiesen an, dass Montgazon den Brand selbst gelegt hatte, um ihren Vater zu töten und früher an das Erbe und die Versicherungsgelder zu kommen. Laut einem Brand-Gutachten soll sie Spiritus eingesetzt haben.

Das Urteil vom 26. Januar 2005 lautete: "Die Angeklagte wird wegen Mordes in Tateinheit mit besonders schwerer Brandstiftung mit Todesfolge, mit Versicherungsmissbrauch und fahrlässiger Körperverletzung zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Die besondere Schwere der Tat wird festgestellt."

Mit Hilfe ihrer Familie und einem Privatgutachten gelang es Monika de Montgazon gegen das Urteil vorzugehen. Es kam zu einem neuen Verfahren, und am 9. April 2008 folgte schließlich der Freispruch.

Ihre neue Freiheit konnte die Berlinerin nicht lange genießen. Knapp neun Jahre nach ihrer Entlassung verstarb sie 2017 unbemerkt in ihrer Neuköllner Wohnung.