Die wichtigsten Fragen: Wer steht hinter der Gruppe "Islamischer Staat-Khorasan" vom Moskauer Anschlag?

Die radikalislamischen Terroristen vom IS waren nie weg - und Europa ist auch ihr Operationsgebiet

Einer der Verdächtigen vom Moskauer Anschlag wird am Sonntag zum Gericht geführt (Bild: REUTERS/Shamil Zhumatov)
Einer der Verdächtigen vom Moskauer Anschlag wird am Sonntag zum Gericht geführt. (Bild: REUTERS/Shamil Zhumatov)

Für Manche ist es die Wiederkehr eines Albtraums. Der "Islamische Staat" (IS) hat sich wieder ins öffentliche Bewusstsein geschossen. In Krasnogorsk, einer Vorstadt von Moskau, gingen mutmaßliche Mitglieder der Terrororganisation am Wochenende auf Besucher eines Konzerts los, schossen und warfen Brandsätze. Bisher steht die Zahl der Toten bei weit über hundert, und sie wird vielleicht noch steigen, den zahlreiche Opfer befinden sich weiter im Krankenhaus. Wirklich, der IS? Ja, genau. Dieses Gespenst schien gebannt, in Deutschland machte man sich kaum mehr Gedanken darüber beim Gang über einen Weihnachtsmarkt. Doch der IS war nie weg, denn die Gruppe war nie richtig zurückgedrängt.

Wer sind die Attentäter?

Die russischen Ermittlungsbehörden haben vier tadschikische Männer festgenommen, am Sonntag wurden sie dem Haftrichter vorgeführt. Zwar versucht Präsident Wladimir Putin, eine Spur in die Ukraine zu legen – wofür es bisher keine Hinweise gibt. Aber klar ist, dass sich der IS auf seinen einschlägig bekannten und offiziellen Kanälen selbst des Anschlags bezichtigt hat. Auch die Sprache der Verlautbarungen ist typisch. Und die Herkunft der Festgenommenen ist ein hartes Indiz: Tadschiken stehen hinter den meisten Anschlägen und Anschlagsplänen in Europa, sie vertreten jenen IS-Ableger, der sich IS-PK nennt, also "Islamischer Staat Provinz Khorasan".

Hat Russlands Sicherheitsarchitektur versagt?

Im Nachhinein sind immer alle schlauer. Diese Frage lässt sich ehrlicherweise nicht beantworten. Zwar gab es eine explizite und sehr konkrete Warnung der US-Regierung, und deren Nachrichtendienste kennen den IS-PK sehr gut. Und dass Putin diese Warnung öffentlich zurückwies und quasi darüber spottete, lässt ihn nun dumm dastehen. Was aber hinter den Kulissen wirklich passierte, wissen wir nicht. Terroristen liefern sich mit Sicherheitsbehörden stets einen Wettlauf. Und leider sind sie manchmal schneller.

Was ist die Geschichte des IS-PK?

Den geografischen Hintergrund der Gruppe bildet Nordostafghanistan. Im weniger bewohnten Grenzgebiet zu Pakistan hatten sich Kommandeure der Taliban abgespalten und dem IS die Treue geschworen; meist ging es um Fragen der Macht, und im IS konnte man auch recht schnell "Karriere" machen.

Der IS selbst ist im Irak entstanden, aus dem Widerstand gegen die US-Besatzung in den Nullerjahren. Damals war der IS noch Teil der Terrorgruppe al-Qaida. Doch ambitionierte Kämpfer spalteten sich ab: Al-Qaida war ihnen nicht machtorientiert genug, wollte die Gruppe doch mehr "tun" und eine echte Herrschaft über Gebiete ausüben. Zwischen 2014 und 2017 kontrollierte der IS weite Teile Syriens und Iraks, bis er durch geeinte Militärschläge arabischer, iranischer, westlicher und auch russischer Kräfte zurückgedrängt wurde.

Mittlerweile dominiert er nur wenige Regionen in Zentralasien und Afrika, die rund 2000 Aktive zählende Gruppe hat aber reiche private Geldgeber aus den arabischen Golfstaaten. Auch gibt es Hinweise, dass Teile des pakistanischen Geheimdienstes den IS-PK unterstützen – und zwar, seitdem in Afghanistan wieder die Taliban herrschen, welche aus ihrer Geschichte heraus eher mit al-Qaida verbunden waren und teilweise mit ihren alten Gönnern aus dem pakistanischen Geheimdienst über Kreuz liegen. Man sieht: Es ist kompliziert. Faustregel: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

Der Islamische Staat und seine Ableger. (Redaktion: J. Schneider; Grafik: F. Bökelmann)
Der Islamische Staat und seine Ableger. (Redaktion: J. Schneider; Grafik: F. Bökelmann)

Was bedeutet der Name "Khorasan"?

Khorasan ist eine historische Region und umfasste früher Gebiete in Tadschikistan, Afghanistans, Irans, Usbekistans und Turkmenistans. Die IS-Kämpfer beziehen sich auf ein Hadith – das ist eine von zahlreichen Geschichten, die vom Verhalten und Reden Muhammads, des Propheten, erzählen und nicht Bestandteil des Korans sind. Islamische Theologen unterziehen diese Hadithe einer genauen Prüfung, und jenes hier gilt auch als umstritten, aber es besagt sinngemäß: Wenn schwarze Fahnen in Khorasan wehen, hätten Gläubige diesen Fahnenträgern zu folgen, denn unter ihnen sei der von Gott gesandte "Messias", der das Ende der Zeit ankündigt. Also: Jedenfalls groß genug als Narrativ für die größenwahnsinnigen Männer vom IS.

Warum nun Russland als Ziel?

Ein Blick auf die Karte zeigt: Moskau liegt in Europa. Das christliche Europa ist für die Islamfanatiker Feindesland, auf dem sie meinen, militärisch operieren zu dürfen. Zwischen Russland und Westeuropa gibt es "Meinungsunterschiede" wie ein einziger großer Graben. Aber in der Bedrohung durch den IS und seine Ableger steht man zusammen in der Opferrolle. Denn es hätte genauso gut auch einen Ort in Deutschland treffen können.

Was bedeutet das für die Sicherheit hierzulande?

Sicherheitsexperten wissen: Ruhig war es nie. Gerade der IS-PK gilt als ehrgeizig. Seine Geldquellen, seine ideologische Grundierung und seine Gewissenlosigkeit befähigen ihn, auch in Europa zuzuschlagen. Und warum? Gerade weil eben nicht mehr weite Regionen "beherrscht" werden. Weil man Rache für deren Verlust verspürt. Und weil man vor den anderen gewaltberieten Radikalmuslimen "gut" dastehen will.

Warum kommen viele Täter aus Zentralasien?

Es ist natürlich eine männliche Angelegenheit. In Tadschikistan fährt die Autokratie einen rigiden Kurs und duldet die Religionsausübung nur im kontrollierten Sinne eines "Staatsislams". Das führt zu einer Stabilität der Herrschaft, radikalisiert aber einen kleinen Teil der Bevölkerung umso mehr. Dieser lässt sich übers Internet in die Welt des IS hineinziehen. Alles weitere regeln gepflegte Gewaltaffinität und Geld.

Warum gab es in letzter Zeit in Deutschland keine Anschläge?

Der IS-PK wählt seine Angriffsziele recht willkürlich aus. In Schweden wurde ein Koran verbrannt? Hin mit einem Kommando! Und in Deutschland wurden schlicht Angriffe verhindert. Die Sicherheitsbehörden leisten stille und weitgehend erfolgreiche Arbeit. Die Überwachung ist weitreichend und engmaschig, die internationale Kooperation läuft reibungslos. Auch sind die Behörden bemüht, frühzeitig womögliche Täter noch in deren Planungsphase dingfest zu machen. So wurden in Deutschland in den vergangenen Monaten an mehreren Orten verdächtige Männer festgenommen. Man verdächtigte sie, in anderen Staaten Anschläge geplant zu haben. Hier ein Beispiel: Eine Gruppe von Männern in NRW wollte einen Auftragsmord in Albanien kassieren, um das Kopfgeld teils an den IS-Ableger in Syrien zu schicken und mit dem Rest Anschläge in Europa zu realisieren. Sie wurden rechtzeitig enttarnt.

Was bedeutet das für die Fußball-Europameisterschaft?

Man kann nicht davon ausgehen, dass die Sicherheitsbehörden Orte wie Fußballstadien oder des Public Viewing nicht im Blick hätten. So gesehen ändert sich erstmal nichts. Die Gefahr bestand und besteht ja weiterhin. Bisher ist unklar, ob der Anschlag nahe Moskau neue Erkenntnisse zeitigen wird, auf deren Grundlage die Sicherheitskonzepte für das Turnier in Deutschland überarbeitet werden müssten.

Was sind die Lehren aus alldem?

Zum einen rächt sich einmal mehr der grausame Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Denn natürlich werden die russischen Behörden ihre Aufmerksamkeit gegenüber radikalislamischer Bedrohung etwas gedrosselt haben – man kann sich ja schwer teilen. Und zum anderen müssen westliche Länder sich fragen, welche Freundschaften ihnen wichtig sind: Was ist mit dem pakistanischen Geheimdienst, was mit reichen Golfarabern? Welches Bündnis tut not – und welches sollte in Frage gestellt werden? Vor allem lohnt es sich nicht, in alte Angstreflexe zu fallen. Die mögen verständlich sein, was aber bringen sie? Gegen diese Art von Terrorismus kann man sich nicht perfekt schützen.