Thüringen: Neuer Ministerpräsident im Landtag beschimpft

Thomas Kemmerich spricht nach seiner Wahl vor dem Landtag (Bild: Reuters/Hannibal Hanschke)
Thomas Kemmerich spricht nach seiner Wahl vor dem Landtag (Bild: Reuters/Hannibal Hanschke)

Politisches Beben in Thüringen: Bei der Wahl zum Ministerpräsidenten ist überraschend der FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Regierungschef gewählt worden.

Er setzte sich bei der Abstimmung am Mittwoch im Landtag in Erfurt im entscheidenden dritten Wahlgang auch mit Stimmen von CDU und der AfD von Parteichef Björn Höcke gegen den bisherigen Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke) durch. Der von der AfD aufgestellte parteilose Kandidat Christoph Kindervater erhielt im dritten Wahlgang keine Stimme. “Wir haben aus Staatsräson geschlossen Kemmerich gewählt, um Thüringen R2G 2.0 zu ersparen”, erklärte der AfD-Abgeordnete Stefan Möller auf Twitter.

Bei seiner Antrittsrede wurde Kemmerich nach der Einleitung “Es geht um Thüringen” von lautem Gelächter und Zwischenrufen unterbrochen. Für Beschimpfungen Kemmerichs als “Heuchler” und “Scharlatan” wurden Ordnungsrufe erteilt. Zuvor hatte ihm Linke-Landeschefin Susanne Hennig-Wellsow aus Protest einen Blumenstrauß vor die Füße geworfen.

Kemmerich will mit CDU, SPD und Grünen eine neue Regierung bilden. Er wolle eine Regierung der Mitte, sagte er im Landtag. SPD und Grüne haben einer Zusammenarbeit mit einer Regierung unter Kemmerich jedoch bereits eine Absage erteilt.

Am Mittwoch sollte es noch keine Ernennung von Ministern oder eine Kabinettssitzung geben. Die Landtagssitzung wurde nach Kemmerichs Ansprache auf seinen Antrag hin mit Stimmen der AfD, CDU und FDP vertagt.

Die Entscheidung zwischen Kemmerich und Ramelow fiel denkbar knapp aus. Auf den bisherigen Regierungschef entfielen 44 Stimmen, Kemmerich erhielt 45 Stimmen. Es gab eine Enthaltung. Der Erfurter Politikwissenschaftler André Brodocz sagte am Mittwoch im MDR: “Das ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD ins Amt gewählt wurde.”

Kemmerich ist erst der zweite Ministerpräsident der FDP in der Geschichte der Bundesrepublik. Der liberale Politiker Reinhold Maier war von 1945 bis 1952 Ministerpräsident von Württemberg-Baden und dann von April 1952 bis September 1953 Regierungschef des neuen Bundeslandes Baden-Württemberg.

Ministerpräsident mit fünf Sitzen

Die Thüringer FDP hatten den Einzug ins Parlament bei der Wahl im vergangenen Herbst nur denkbar knapp geschafft und die Fünf-Prozent-Hürde um nur 73 Stimmen übersprungen. Ramelows angepeiltes Bündnis von Linke, SPD und Grünen verfügte nach dem Urnengang nur noch über 42 von 90 Mandaten im Landtag. Allerdings hatten Christdemokraten und Liberale kategorisch ausgeschlossen, mit der von Fraktionschef Björn Höcke geführten AfD zusammenzuarbeiten. Gemeinsam kommen die drei Fraktionen auf 48 Sitze.

Ramelow hatte eigentlich eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung in Thüringen unter seiner Führung angepeilt. Wegen der fehlenden Mehrheit hatte auch die AfD mit dem parteilosen Kindervater einen eigenen Kandidaten ins Rennen geschickt. Nachdem Ramelow in den beiden ersten Wahlgängen erwartungsgemäß die absolute Mehrheit verfehlt hatte, warf Kemmerich im dritten Wahlgang ebenfalls seinen Hut in den Ring.

Ramelow war seit 2014 Regierungschef des Freistaats und der erste Ministerpräsident der Linken in Deutschland. Doch obwohl seine Partei mit 31 Prozent die Wahl im Herbst 2019 klar gewonnen hatte, ging die Mehrheit der bisherigen Regierung von Linke, SPD und Grünen verloren. Dennoch hatten die bisherigen Koalitionspartner am Dienstag einen neuen Regierungsvertrag unterschrieben.

Mohring: Kemmering muss sich nach rechts abgrenzen

Thüringens CDU-Chef Mike Mohring hat die Verantwortung für das überraschende Ergebnis der Ministerpräsidentenwahl von sich gewiesen. Die CDU-Fraktion habe sich in den ersten beiden Wahlgängen enthalten und im dritten den “Kandidaten der Mitte” gewählt. “Fakt ist: Wir sind nicht verantwortlich für die Kandidaturen anderer Parteien, wir sind auch nicht verantwortlich für das Wahlverhalten anderer Parteien”, sagte Mohring am Mittwoch im Thüringer Landtag. Kemmerich müsse nun klarmachen, dass es keine Koalition mit der AfD und eine klare Abgrenzung nach rechts gebe. Dann sei auch die CDU offen für neue Gespräche.

Grüne gehen in Opposition

Die Thüringer Grünen haben die Unterstützung einer Regierung Kemmerichs ausgeschlossen. Seine Fraktion wähle die Rolle der Opposition, erklärte Fraktionschef Dirk Adams am Mittwoch. “Die Unterstützung eines Ministerpräsidenten, der sich bewusst und voller Absicht mit den Stimmen der AfD in dieses Amt wählen lässt, steht für uns nicht zur Debatte.” Er warf CDU und FDP einen Schulterschluss “mit der rechtsextremen AfD in Thüringen” vor. Andere seiner Fraktionskollegen sprachen auf Twitter von einem Dammbruch. “Das ist ein unfassbares Ergebnis. Die FDP lässt sich von Faschisten ins Amt heben und die CDU ist willfähiger Gehilfe”, schrieb etwa die Abgeordnete Madeleine Henfling.

Proteste vor Landtag

Aus Protest gegen die Wahl haben sich Demonstranten spontan vor dem Landtag in Erfurt versammelt. Unter ihnen waren rot-rot-grüne Landtagsabgeordnete und Fraktionsmitarbeiter Ein Polizeisprecher sprach zunächst von etwa 100 Teilnehmern. Mit Trillerpfeifen und auf Plakaten äußerten sie ihren Unmut über den Wahlausgang und ihre Sorge vor einem weiteren Erstarken der extremen Rechten in Thüringen.

Einzelne Plakate verwiesen auch auf historische Parallelen in Thüringen. “1930 erster Minister der NSDAP, 2020 erster Ministerpräsident mit Stimmen der AfD”, lautete die Aufschrift auf einen handgemalten Plakat. Vor 90 Jahren war mit dem später in den Nürnberger Prozessen als Kriegsverbrecher verurteilten und hingerichteten Wilhelm Frick der erste NSADP-Politiker in eine deutsche Landesregierung gekommen.

Entsetzte Reaktionen bei SPD und Linke

Der Vorsitzende der Linken, Bernd Riexinger, hat die Wahl des FDP-Politikers als “Tabubruch” bezeichnet. “Wie weit sind wir gekommen, dass die FDP einen Ministerpräsidenten Kemmerich wählen lässt mit den Stimmen des Faschisten Höcke und der AfD? Das ist ein Tabubruch, der weitreichende Folgen haben wird”, schrieb Riexinger in einer ersten Reaktion bei Twitter. FDP und CDU müssten jetzt einiges erklären.

Auch Juso-Chef Kevin Kühnert hat CDU und FDP vorgeworfen, bei der überraschenden Ministerpräsidentenwahl in Thüringen einen Tabubruch begangen zu haben. Der AfD “zu echter Macht verholfen zu haben”, werde für immer mit diesen Parteien verbunden sein, schrieb der SPD-Vize am Mittwoch auf Twitter. “Die Masken sind gefallen.” Nun sei Wachsamkeit das Gebot der Stunde.

SPD-Chef Norbert Walter-Borjans hat CDU und FDP vorgeworfen, in Thüringen einen “unverzeihlichen Dammbruch” ausgelöst zu haben. “Dass die Liberalen den Strohmann für den Griff der Rechtsextremisten zur Macht geben, ist ein Skandal erster Güte”, schrieb Walter-Borjans am Mittwoch auf Twitter. “Da kann sich niemand in den Berliner Parteizentralen wegschleichen.” SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sprach von einem “Tiefpunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte”. SPD-Parteivize Hubertus Heil hat die Wahl scharf verurteilt. “Jeder anständige Liberale sollte sich schämen, wenn sich ein FDP-Mann in Thüringen mit den Stimmen der AfD wählen lässt. Was sagt die Bundes-FDP zu diesem Dammbruch?”, twitterte Heil am Mittwoch.

Union für Neuwahlen

CSU-Chef Markus Söder forderte Neuwahlen in Thüringen. Das sagte er am Mittwochnachmittag in München. CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak schloss sich dem an. Er sagte am Mittwoch in Berlin, die Entscheidung in Thüringen “spaltet unser ganzes Land”. Die Wahl des Ministerpräsidenten von der FDP in Erfurt, mit den Stimmen der AfD sei keine Grundlage für “bürgerliche Politik”.

GroKo in der Krise

Die Wahl in Thüringen hat die große Koalition in Berlin in eine neue Krise gestürzt. Die SPD machte der CDU heftige Vorwürfe und verlangte ein Machtwort von Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer. Die CDU-Vorsitzende ging mit der eigenen Fraktion im Thüringer Landtag hart ins Gericht und empfahl eine Neuwahl. Die CDU-Abgeordneten hätten ausdrücklich gegen den Willen der Bundespartei gehandelt, indem sie mit der AfD dem Kemmerich ins Amt halfen.

Union und SPD im Bund verständigten sich am Mittwochabend auf ein rasches Krisentreffen, um die Konsequenzen zu beraten. “Auf unsere Initiative hin haben wir uns auf einen Koalitionsausschuss am Samstag verständigt”, sagte SPD-Chef Norbert Walter-Borjans der Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage. Co-Chefin Saskia Esken hatte kritisiert, die Wahl sei ein abgekartetes Spiel gewesen und müsse korrigiert werden.

AfD-Spitze gratuliert Kemmerich

Die AfD im Bund hat mit Begeisterung auf die Wahl Kemmerichs reagiert. “Thüringen hat einen Ministerpräsidenten mit einer demokratischen Mehrheit, die den Willen der Wähler abbildet”, erklärte der Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Alexander Gauland, am Mittwoch. In Thüringen habe sich gezeigt, dass die Strategie, die AfD auszugrenzen, nicht funktioniere.

“Wir gratulieren Thomas Kemmerich zu seiner Wahl und wünschen ihm eine glückliche Hand”, sagte Gauland. Der Parteivorsitzende Tino Chrupalla gratulierte seinerseits der Thüringer AfD zu ihrem “umsichtigen politischen Verhalten”. Gauland sprach von einem Erfolg für die “bürgerlichen Kräfte” in Thüringen.

Als erstes Mitglied der Bundesregierung hat die Staatsministerin für Digitales im Kanzleramt, Dorothee Bär, unterdessen Kemmerich zur Wahl gratuliert. “Herzlichen Glückwunsch, lieber Thomas Kemmerich!”, schrieb die CSU-Politikerin am Mittwoch bei Twitter.

Gemischte Reaktionen bei der FDP

FDP-Chef Christian Lindner hat nach der Wahl seines Parteikollegen eine Kooperation mit der AfD kategorisch ausgeschlossen. “Es gibt keine Basis für eine Zusammenarbeit”, sagte Lindner am Mittwoch in Berlin. Er rief CDU, SPD und Grüne in Thüringen dazu auf, ein von Kemmerich gemachtes Gesprächsangebot anzunehmen. Sollten diese sich dem fundamental verweigern, wären baldige Neuwahlen zu erwarten und aus seiner Sicht auch nötig. Linder betonte zugleich, dass Landtagsfraktion und Landespartei der FDP in eigener Verantwortung handelten.

FDP-Vize Wolfgang Kubicki sieht in der Wahl von Thomas Kemmerich einen großen Erfolg für den Kandidaten seiner Partei. Kubicki sagte am Mittwoch der dpa: “Es ist ein großartiger Erfolg für Thomas Kemmerich. Ein Kandidat der demokratischen Mitte hat gesiegt. Offensichtlich war für die Mehrheit der Abgeordneten im Thüringer Landtag die Aussicht auf fünf weitere Jahre (Bodo) Ramelow nicht verlockend.” Kubicki sagte weiter: “Jetzt geht es darum, eine vernünftige Politik für Thüringen voranzutreiben. Daran sollten alle demokratischen Kräfte des Landtages mitwirken.” Offenbar mit Blick auf die Wahl Kemmerichs auch durch die AfD sagte der FDP-Politiker: “Was die Verfassung vorsieht, sollte nicht diskreditiert werden.”

Die FDP-Bundestagsabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat das Vorgehen ihres Parteifreundes Kemmerich dagegen scharf kritisiert. Die Verteidigungsexpertintwitterte am Mittwoch: “Ich schätze Thomas Kemmerich persönlich. Ich verstehe seinen Wunsch, Ministerpräsident zu werden. Sich aber von jemandem wie (Björn) Höcke (AfD) wählen zu lassen, ist unter Demokraten inakzeptabel und unerträglich. Es ist daher ein schlechter Tag für mich als Liberale.”