Filmemacher-Paar Jantje Friese und Baran bo Odar: Sie erschufen Deutschlands teuerste Serie "1899"

Mystery-Spezialisten Baran bo Odar und Jantje Friese: Gemeinsam erschuf das deutsche Kreativpaar den internationalen Netflix-Hit "Dark". Die neue Serie "1899", die 50 Millionen Euro gekostet hat, soll nun noch mehr Menschen weltweit erreichen. Warum ist Mystery derzeit so angesagt - und warum? (Bild: Netflix / Jan Rasmus Voss)
Mystery-Spezialisten Baran bo Odar und Jantje Friese: Gemeinsam erschuf das deutsche Kreativpaar den internationalen Netflix-Hit "Dark". Die neue Serie "1899", die 50 Millionen Euro gekostet hat, soll nun noch mehr Menschen weltweit erreichen. Warum ist Mystery derzeit so angesagt - und warum? (Bild: Netflix / Jan Rasmus Voss)

Jantje Friese und Baran bo Odar kennen und lieben sich, seit beide früher gemeinsam "Lost" schauten. Heute sind sie Deutschlands erfolgreichste Serienmacher: Nach dem Netflix-Hit "Dark" startet nun ihr Mystery-Epos "1899". Ein Gespräch über Geheimnisse und wie man sie attraktiv verpackt.

Sie brachten Deutschland auf die Landkarte internationaler Serien-Hits: Drehbuchautorin-Produzentin Jantje Friese und ihr Lebens- und Kreativ-Partner, der Regisseur Baran bo Odar erschufen gemeinsam für Netflix drei Staffeln der Mystery-Serie "Dark". Diese räumte nicht nur nationale Trophäen wie den Grimme-Preis ab, sie war auch weltweit erfolgreich. Deshalb hat der Streaminggigant die ehemaligen Absolventen der Münchener Filmhochschule nun für ein noch größeres Projekt verpflichtet. Die historische Serie "1899" entstand für rekordverdächtige 50 Millionen Euro in Berlin. "1899" begleitet ab Donnerstag, 17. November, europäische Auswanderer auf einem "Titanic"-artigen Schiff von England nach New York. An Bord geschehen bald seltsame Dinge, doch darüber sollte man zu Beginn des achtteiligen Werkes möglichst wenig wissen. Dafür sprechen Jantje Friese und Baran Bo Odar im Interview offen über Tricks und Kniffe großer Geheimniserzählungen und verraten, warum gerade das Genre Mystery heute so interessant ist.

teleschau: Was hat Sie am Jahr 1899 fasziniert?

Baran bo Odar: 1899 war die Zeit des "Fin de Siecle", als nicht nur ein altes Jahrhundert endete und ein neues begann, sondern auch die alte Welt auf eine neue traf: Tradition versus Modernität, Aberglaube und Religion versus Wissenschaft. Ein hochinteressanter Schmelztiegel fürs Geschichtenerzählen. Außerdem war es eine Hochzeit europäischer Auswanderung nach Amerika. Was für uns noch dazu kommt: 1899 ist eine magische Zahl, weil man mit ihr viel machen kann: eins plus acht ist neun, dann hat man dreimal die neun. Umgedreht: sechs, sechs, sechs. Da passiert etwas in unseren Köpfen.

teleschau: Wenn wir schon bei Zahlenrätseln sind: Wie konzipiert man eigentlich eine Mystery-Erzählung? Muss man sich das wie bei einer Mordermittlung vorstellen: mit Pin-Wand, vielen Personen und Pfeilen zwischen allem?

Jantje Friese (lacht): So etwas kommt, wenn überhaupt, später. Am Anfang ist es ganz einfach: Man braucht eine Grundidee und muss wissen, wo man mit der Serie hin will. "1899" ist auf drei Staffeln angelegt. Aber man muss am Anfang wissen, was am Ende dieser Reise herauskommen soll. Danach fangen wir an, die Figuren auszuarbeiten, die natürlich mit dem zentralen Thema zu tun haben müssen. Über das können wir jetzt nicht reden, weil es der Mega-Spoiler wäre. Im dritten Schritt beginnen wir, die Serie Stück für Stück mit Menschen und ihren Konflikten zu bevölkern. Man baut sich sozusagen ein Spielfeld auf. Das Entscheidende bei Mystery ist aber immer: Wann gibt man den Zuschauern welches Geheimnis aus diesem Spielfeld preis? Die Kunst bei Mystery ist das Informationsmanagement.

Dreiecke spielen bei "1899" eine wichtige Rolle. Doch welche? Ab Freitag, 17. November, sind die acht Folgen der ersten von wohl drei Serien-Staffeln bei Netflix zu sehen. Die Showrunner Jantje Friese und Baran bo Odar geben schon mal vorab Auskunft, warum die bisher teuerste deutsche Serie reizvoll ist. (Bild: Netflix)
Dreiecke spielen bei "1899" eine wichtige Rolle. Doch welche? Ab Freitag, 17. November, sind die acht Folgen der ersten von wohl drei Serien-Staffeln bei Netflix zu sehen. Die Showrunner Jantje Friese und Baran bo Odar geben schon mal vorab Auskunft, warum die bisher teuerste deutsche Serie reizvoll ist. (Bild: Netflix)

"Wir sind auf jeden Fall Rätsel-Freaks"

teleschau: Macht das Ausdenken des Rätsels am meisten Spaß?

Odar: Wir sind auf jeden Fall Rätsel-Freaks. Es macht uns selbst so ungeheuer viel Spaß, Rätsel zu bauen, mitzuraten oder aufzulösen, dass wir den Zuschauenden auch gern solche Rätsel stellen wollen. Außerdem spielen wir gern mit Genres und Erwartungen. Bei "Dark" denkt man am Anfang, es ginge um verschwundene Kinder und einen Krimi-Plot. Doch eigentlich geht es auf einmal um Zeitreise. Bei "1899" könnte man anfangs annehmen, es ginge um Horror. Aber auch da weitet sich bald das Feld.

teleschau: Was ist eigentlich so faszinierend an Mystery?

Jantje Friese: Dass man in diesem Genre zeigen kann, wie kompliziert die Welt ist. Für uns beide war sie das schon immer. Aber ich glaube, mittlerweile ist das eine Erkenntnis, die im Mainstream angekommen ist - auch durch Corona. Plötzlich verstehen die Leute, dass alles mit allem zusammenhängt. Dass die globalisierte Welt voller komplexer Vorgänge steckt, die man kaum noch - oder nur mit großem Engagement - durchdringen kann. Unsere Welt fühlt sich anders an als noch vor 20 Jahren. Ich glaube, dass die Leute heute viel offener dafür sind, genauer hinzuschauen und sich mit schwierigen Fragen auseinanderzusetzen.

teleschau: Und deshalb ist Mystery ein Genre, das momentan sehr gut funktioniert?

Jantje Friese: Ja - aber wir haben genau deshalb auch schon immer Mystery geliebt. Bei der Serie "Lost" haben wir uns quasi kennengelernt. Das war in den Anfängen unserer Beziehung. Das gemeinsame Schauen hat uns beide zusammengeschweißt. Wir fanden es toll, dass es da so viel zu entdecken gab. Nur ein Beispiel: In einer "Lost"-Szene liest Sawyer, eine der Figuren, im Hintergrund ein Buch. Es ist nur diese eine Szene, aber ich habe mir das Buch dann gekauft, weil ich hoffte, ich würde darüber das Ganze etwas mehr verstehen (lacht).

Beim gemeinsamen Schauen der Mystery-Urserie "Lost" (2004 bis 2010) haben sie sich kennen und lieben gelernt: die ehemaligen Münchener Filmhochschüler Jantje Friese und Baran bo Odar. Nun bekamen die "Dark"-Macher von Netflix ein großes Budget, um eine vielsprachige europäische Mystery-Serie auf See zu drehen, die vor 123 Jahren spielt. (Bild: Netflix / Thomas Schenk)

"Agatha Christie ist die definitiv größte Rätsel-Architektin aller Zeiten"

teleschau: Stört es Sie, dass Mystery und Verschwörungstheorien oft nahe beieinander liegen?

Odar: Wir glauben nicht an Verschwörungstheorien. Es gibt in der Welt sehr einfache Dinge, die manche unnötig kompliziert machen: Wenn Putin die Ukraine angreifen will, dann tut er es einfach. Deshalb haben wir diesen Krieg. Um ihn zu erklären, brauche ich weder Verschwörungstheorien noch Mystery. Trotzdem: Wir lieben Mystery, weil wir selbst so viele Fragen haben. Unsere Tochter ist 13 Jahre alt. Ein Mensch dieses Alters wirft zum Beispiel auch viele faszinierende Fragen auf. Warum ist man plötzlich so anders? Wo kommt das her, was passiert im Gehirn? Uns hat Psychologie immer sehr viel mehr interessiert als das Sozialpolitische. Wir sind keine politischen Filmemacher.

Jantje Friese: Nur dass es klar ist - wir sind keine Verschwörungstheoretiker, wir interessieren uns nur für deren Gedankengänge. Auch hier ist es eigentlich das Psychologische, das uns interessiert. Warum glauben Verschwörungstheoretiker an das, was sie denken? Solche Dinge wollen wir herausfinden und erzählen.

teleschau: Wer sind für Sie die größten Mystery-Künstler der Weltgeschichte?

Jantje Friese: Die größte Mystery-Künstlerin ist wahrscheinlich die Welt selbst. Aber wenn Sie kreative Menschen meinen, dann ist der amerikanische Autor und Produzent Damon Lindelof ("Lost", "Watchmen", "The Leftovers", d. Red.) sehr einflussreich für uns. Natürlich auch Leute wie Stephen King, David Lynch oder Agatha Christie.

Odar: Für mich ist Agatha Christie die definitiv größte Rätsel-Architektin aller Zeiten. Es gibt keinen Geschichten-Twist, den Agatha Christie nicht schon vor allen anderen angewendet hat.

Keine Verschwörungstheoretiker, aber an der Psychologie von Verschwörungstheoretikern sehr interessiert: Baran bo Odar und Jantje Friese. (Bild: Netflix)
Keine Verschwörungstheoretiker, aber an der Psychologie von Verschwörungstheoretikern sehr interessiert: Baran bo Odar und Jantje Friese. (Bild: Netflix)

"Alien" oder "Titantic"?

teleschau: Wie sehr interessiert Sie Wissenschaft?

Jantje Friese: Ich bin großer Wissenschafts-Fan und lese sehr viel dazu. Am Ende ist die Wissenschaft selbst der vielleicht der größte Mystery-Produzent der Welt.

Odar: Mit der Physik als Königsdisziplin (lacht).

Jantje Friese: Bei der Quantenphysik hoffe ich auch, dass bald die dritte Staffel kommt, damit man sie endlich mal versteht (lacht).

teleschau: Mystery ist ein Genre, das voller Fan-Erwartungen, aber auch Klischees steckt. Was tun Sie, um Klischees zu vermeiden?

Odar: Man kann mit Klischees spielen, muss die Erwartungen aber an den richtigen Stellen brechen. Am Anfang unserer Serie fühlt man sich ein bisschen wie bei "Titanic": die Auswanderer, reich und arm - und so weiter. Es dauert aber nicht lange, da kommen ganz andere Aspekte ins Spiel. In der ersten Folge spielen wir mit der Frage: "Horror, oder nicht?" Genauso geht es weiter. Wir versuchen in jeder Folge neue Twists und Überraschungen.

teleschau: In der ersten Folge kann man sowohl eine Assoziation zu "Titanic" aufbauen, aber auch zum ersten "Alien"-Film. Würden Sie zustimmen?

Odar: Es ist am Anfang ein bisschen wie bei "Titanic", nur dass es bei uns an Bord ganz anders aussieht. Und mit "Alien" - das stimmt natürlich. Wer ein Signal von einem verschollenen Schiff auffängt und dann dorthin fährt oder fliegt, um nachzuschauen - obwohl man ein sehr mulmiges Gefühl dabei hat - ein solcher Plot muss einen natürlich an "Alien" erinnern.

Die "Virtual Production Stage" der Serien "1899": Gefilmt wurde erstmals in Deutschland in "The Volume" einer neuen Technik für Filmdrehs, die durch "The Mandalorian" bekannt geworden ist. Statt im "luftleeren" Blue Screen Raum drehen die Schauspieler vor täuschend echten Digitalkulissen. (Bild: Netflix)
Die "Virtual Production Stage" der Serien "1899": Gefilmt wurde erstmals in Deutschland in "The Volume" einer neuen Technik für Filmdrehs, die durch "The Mandalorian" bekannt geworden ist. Statt im "luftleeren" Blue Screen Raum drehen die Schauspieler vor täuschend echten Digitalkulissen. (Bild: Netflix)

"Wie erzählen wir überhaupt unser Schiff?"

teleschau: Ist "Alien" ein einflussreicher Film für Sie?

Odar: "Alien" ist ein Vorbild in vielerlei Hinsicht, auch in Sachen Production Design. Ich habe mir mit unserem Production Designer viele "Alien"-Screenshots angeschaut, um Szenen zu verstehen. Weil wir ja definieren mussten: Wie erzählen wir überhaupt unser Schiff? Wie viel muss man davon überhaupt zeigen? Wie müssen Korridore aussehen und so weiter? "Alien" ist auch ein Vorbild, weil es ein Film ist, der vieles weglässt. Das Weglassen von Information ist ein wichtiger Baustein bei der Konstruktion von Geheimnissen. Weglassen ist oft besser, als Dinge zu zeigen. Deshalb ist Ridley Scotts "Alien" auch viel besser als James Camerons "Aliens", in dem viel gemetzelt wird.

teleschau: "1899" ist die erste europäische Serie, die mit der aus "The Mandalorian" bekannten "Volume"-Technik entstanden sind. Dabei agieren Schauspieler nicht in echten Kulissen oder vor einer Blue Screen, sondern vor hochauflösenden Videowänden, die jede noch so exotische, komplexe Welt erschaffen können. Wird diese Technik den Film revolutionieren?

Jantje Friese: Wir sind große Fans dieser Technik, mussten uns aber auch lange einarbeiten, bis es funktioniert hat. Es gab viel Frust zu Beginn. Selbst, wenn man vorher schon viele Filme oder Serien gemacht hat - da lässt man sich auf ein ganz neues Spielfeld ein. Wir haben ein Jahr lang mit der "Volume"-Technik herumprobiert. Auch die ersten beiden Drehwochen waren schlimm, da der Computer bei der Berechnung dieser komplexen Kulissen immer wieder mal abstürzte. Ich glaube, mein Schlüsselmoment war eine Szene, für die wir den großen Speisesaal auf dem Schiff erzeugt haben. Da sah es auf einmal super aus, und ich dachte: "Das, was wir hier sehen, ist tatsächlich eine filmtechnische Revolution."

Odar: So sehe ich es auch. Man kann Räume erschaffen, die man anders gar nicht herstellen kann oder die viel zu teuer wären. Man hat als Filmemacher auf einmal unendliche Möglichkeiten. In unserem Fall kam dazu, dass wir mitten in der Pandemie drehten. So konnten wir andere Orte zu uns nach Berlin holen, an die wir ohnehin nicht hätten reisen können. Wenn man das weiter spinnt, schafft die "Volume"-Technik für deutsche Filmemacher die Möglichkeit, in Zukunft sehr viel größere Geschichten zu erzählen. Tatsächlich steckt die Sache noch in den Kinderschuhen, aber ich glaube, sie wird das Filmemachen in den nächsten - sagen wir fünf Jahren - deutlich verändern.

Das stählerne Ungetüm des Schiffes, auf dem die Serie "1899" zum überwiegenden Teil gedreht wurde. Trotz virtueller Videowände gab es immer noch eine Menge im Babelsberger Studio zu bauen.

 (Bild: Netflix)
Das stählerne Ungetüm des Schiffes, auf dem die Serie "1899" zum überwiegenden Teil gedreht wurde. Trotz virtueller Videowände gab es immer noch eine Menge im Babelsberger Studio zu bauen. (Bild: Netflix)