Fußballrentner Bélá Réthy: "Als die Bundesliga wieder losging, hatte ich einen richtigen Phantom-Schmerz"

Seit 1984 war Béla Réthy als Reporter fürs ZDF in Sachen Fußball unterwegs. Im Januar ging der 66-Jährige in Rente - wobei er nun seine erste Dokumentation als "Freiberufler" vorlegt. Ein Film beziehungsweise eine Mediatheken-Serie über die nunmehr 60-jährige Geschichte der Fußball-Bundesliga.  (Bild: ZDF / Ulrike Lenz)
Seit 1984 war Béla Réthy als Reporter fürs ZDF in Sachen Fußball unterwegs. Im Januar ging der 66-Jährige in Rente - wobei er nun seine erste Dokumentation als "Freiberufler" vorlegt. Ein Film beziehungsweise eine Mediatheken-Serie über die nunmehr 60-jährige Geschichte der Fußball-Bundesliga. (Bild: ZDF / Ulrike Lenz)

In der Dokumentation "Titel, Tore, tausend Träume - 60 Jahre Bundesliga mit Bélá Réthy" blickt die frisch berentete ZDF-Fußballstimme auf sechs Jahrzehnte Sportgeschichte zurück. Kompakt im linearen Fernsehen oder ausführlicher in einer Mediatheken-Serie. War Fußball früher schöner, Béla Réthy?

Seine markante Stimme begleitete fünf Jahrzehnte Fußball im ZDF. Im Januar ist Béla Réthy, 66 Jahre alt, als Live-Kommentator großer Kicks in die öffentlich-rechtliche Rente gegangen. Trotzdem will der Mann mit ungarischen Wurzeln, der in Wien geboren wurde und zunächst in Brasilien aufwuchs, weiterhin seiner großen Leidenschaft Fußball frönen. Mit der einstündigen Dokumentation "Titel, Tore, tausend Träume - 60 Jahre Bundesliga mit Bélá Réthy" (Samstag, 5. August, 23 Uhr, ZDF) zum 60. Geburtstag der deutschen Eliteklasse hat er nun Gelegenheit dazu. Ab dem Sendetag steht Béla Réthys Reise durch die Bundesliga auch als deutlich längere (162 Minuten), sechsteilige Mediatheken-Serie zum Streamen bereit.

teleschau: Sie waren sechs Jahre alt, als die Bundesliga ihren ersten Spieltag erlebte. Allerdings sind Sie erst mit elf Jahren nach Deutschland gezogen. Was war Ihr erstes Bundesligaspiel?

Béla Réthy: Das fand 1967 im Stadion an der Grünwalder Straße in München statt. Wir waren zu Besuch bei Verwandten und sahen FC Bayern gegen 1. FC Köln. Die Bayern waren gerade mal zwei Jahre Erstligist. Damals war die große Münchener Mannschaft, die 1966 auch Meister geworden war, 1860 München. Die kleinen Bayern blickten zu den großen Löwen auf, das hat mir auch Sepp Maier im Interview für den Film noch mal erzählt.

teleschau: Also haben Sie es Verwandten in München zu verdanken, dass Sie den deutschen Fußball als Einwanderer-Kind aus Brasilien entdeckt haben?

Réthy: Ja, das kann man so sagen. Wir besuchten Onkel Ivan in München - der im November des vergangenen Jahres 100 Jahre alt wurde. Immer, wenn er mich im Fernsehen gesehen hat, soll er erzählt haben, dass er mich zum Fußball gebracht hat (lacht). Wir hatten lange keinen Kontakt mehr, aber ich habe ihm eine Grußkarte zum Geburtstag geschrieben. Die hat man ihm dann vorgelesen, weil er nicht mehr so gut sehen kann.

Erinnerungen an 60 Jahre Fußball-Bundesliga: Reporterlegende Bélá Réthy hat viele Gesichter der Liga für einen einstündigen Film getroffen. (Bild: ZDF / Falco Seliger)
Erinnerungen an 60 Jahre Fußball-Bundesliga: Reporterlegende Bélá Réthy hat viele Gesichter der Liga für einen einstündigen Film getroffen. (Bild: ZDF / Falco Seliger)

Der Rüffel von Netzer und eine verpasste Keegan-Chance

teleschau: Sie wohnten damals wie heute in Wiesbaden. Dort haben Sie dann eine Zuneigung zu Eintracht Frankfurt entwickelt, liest man ...

Réthy: Ja, das stimmt. Mein zweites Bundesligaspiel war dann auch schon Eintracht gegen Rot-Weiss Essen, am Freitagabend unter Flutlicht. Meine Schulkameraden waren fast alle Eintracht-Fans. Ihr legendärer Spielmacher Jürgen Grabowski kam selbst aus Wiesbaden, also war die Sache klar. Der einzige Haken bestand darin, dass wir noch keinen Führerschein hatten und der Nahverkehr damals noch nicht so gut ausgebaut war. In unserer Abi-Clique gab es aber einen Sitzenbleiber, der hatte schon den Führerschein und ein Auto. Er hat uns öfter gefahren, es gab nur ein Problem: Er war Kickers-Offenbach-Fan und wollte lieber auf den Bieberer Berg fahren, wo die Kickers spielten. Das hat aber auch Spaß gemacht. Aber als ich dann endlich auch den Führerschein und ein Auto hatte, ging es in der Bundesliga meistens zur Eintracht.

teleschau: Wie sehr interessierte man sich in Ihrer Familie für Fußball?

Réthy: Mein Vater war Gladbach-Fan, er wollte da auch immer gerne hinfahren, aber ich wollte lieber zur Eintracht. Ich kann es aber verstehen, dass man in den 70-ern Gladbach-Fan war. Die meisten Leute waren so ein bisschen Gladbach-Fan, denn die haben damals den schönsten Fußball gespielt.

teleschau: Haben Sie für Ihren Film über 60 Jahre Bundesliga alle Gesprächspartner bekommen, die Sie haben wollten?

Réthy: Ja, so gut wie alle. Franz Beckenbauer sagte ab, weil es ihm gesundheitlich nicht gut ging. Günter Netzer haben wir nach vielen Jahren mal wieder vor die Kamera bekommen. Er hat sich zwar erst mal gewundert, woher ich überhaupt seine Telefonnummer habe, aber nach dem ersten Rüffel meinte er: "Für dich mache ich das." Ebenfalls nicht geklappt hat das Interview mit Kevin Keegan, dem ersten ausländischen Superstar der Bundesliga. Auch Keegan hat sich komplett zurückgezogen. So meldete er sich zunächst nicht auf unsere Nachrichten zurück. Nur einmal versuchte er meinen Kollegen zurückzurufen, mit dem ich den Film gemacht habe. Aber da war der gerade im Kino - und es blieb leider das einzige Mal, dass Keegan ihn zu erreichen versucht hat (lacht).

So kannte man Béla Réthy über viele Jahrzehnte - als Mann am ZDF-Mikrofon, der die wichtigsten Fußballspiele, die der Sender übertragen durfte, in Worte fasste. Mit einem Halbfinale bei der WM in Katar verabschiedete er sich im Dezember 2022 vom Live-Publikum.  (Bild: ZDF / Torsten Silz)
So kannte man Béla Réthy über viele Jahrzehnte - als Mann am ZDF-Mikrofon, der die wichtigsten Fußballspiele, die der Sender übertragen durfte, in Worte fasste. Mit einem Halbfinale bei der WM in Katar verabschiedete er sich im Dezember 2022 vom Live-Publikum. (Bild: ZDF / Torsten Silz)

Vor dem Spiel: Steak mit Sauce béarnaise

teleschau: Welche Spielerlegenden haben Sie noch im Film - und wie gut haben sie sich gehalten?

Réthy: Aus der alten Zeit sind noch Klaus Fischer, Charly Körbel und Toni Schumacher dabei. Die größte Überraschung war für mich Felix Magath. Das Interview mit ihm ist ein Highlight, weil Magath die Art, wie eine Spielersitzung bei seinem alten HSV-Trainer Ernst Happel ablief, vor der Kamera nachspielt. Der Magath hat den Happel so genial imitiert, dass ich sagen muss: Es steckt ein echtes Persiflage-Talent in diesem Mann. Man hätte aber aus fast jedem Interview mit den Spielerlegenden eine eigene Sendung machen können.

teleschau: Entsprechend ist eine Stunde Sendezeit für 60 Jahre Bundesliga fast ein bisschen knapp bemessen, oder?

Réthy: Das ist es auf jeden Fall, aber 60 Minuten kurz ist ja nur die lineare Version des Films. Für die Mediathek produzieren wir sechs Folgen à 25 Minuten. In diesem Format gibt es eine Folge für jedes Bundesliga-Jahrzehnt.

teleschau: Gibt es denn ein Fazit Ihres Films? War früher vielleicht vieles besser?

Réthy: Nein, das wäre mir zu platt. Früher war nicht alles besser, sondern vieles anders. Man konnte damals zu jedem Spieler hingehen und ein Interview machen. Die Professionalisierung befand sich auf einem anderen Level. Das fing schon mit der Ernährung an. Charly Körbel erzählte mir, dass sie vor jedem Spiel ein Steak mit Sauce béarnaise gegessen haben. Der gesellschaftliche Wandel lässt sich gut am Fußball zeigen. Wir stellen im Film einfach fest: So war die Zeit damals - und so ist sie heute.

teleschau: Trotzdem ist das vom normalen Leben mittlerweile stark Entrückte des Profi-Fußballs aktuell ein großes Thema. Vermissen Sie den alten Fußball nicht?

Réthy: Doch, das tue ich eindeutig. Natürlich auch deshalb, weil ich meine eigene Jugend vermisse (lacht). Aber es war damals auch alles viel direkter. In meinem ersten Jahr als Fußballreporter wurde 1984 der VfB Stuttgart deutscher Meister. Der Trainer damals hieß Helmut Benthaus. Die Entscheidung fiel am vorletzten Spieltag, und außer Stuttgart kam nur noch der HSV als möglicher Meister infrage. Stuttgart führte in Bremen und in Hamburg spielte die Eintracht. Da drehte sich der Benthaus kurz vor Schluss des Spiels von der Bank zu uns Reportern um und fragte: "Wie steht's denn in Hamburg?" Da sagte einer: "1:0 Falkenmayer, Frankfurt führt." Und der Benthaus freute sich daraufhin: "Mensch, dann sind wir ja Meister!" So eine Szene würde man heute wohl nicht mehr erleben.

Er war einer der spektakulärsten Transfers, den die Bundesliga der 70-er in Sachen Abgänge verzeichnete. Gladbach-Ikone Günter Netzer, damals zweimal "Fußballer der Jahres" in Folge, wechselte 1973 zu Real Madrid. (Bild: ZDF / Falco Seliger)
Er war einer der spektakulärsten Transfers, den die Bundesliga der 70-er in Sachen Abgänge verzeichnete. Gladbach-Ikone Günter Netzer, damals zweimal "Fußballer der Jahres" in Folge, wechselte 1973 zu Real Madrid. (Bild: ZDF / Falco Seliger)

Das "Jahrhundertspiel" war stinklangweiliger Standfußball

teleschau: Also war früher doch vieles besser?

Réthy: Nein, nur einiges. Der Fußball selbst ist heute viel besser als damals. Wenn man Spiele aus den 70-ern sieht, schläft man heute ein, so langsam war das Tempo. Ich habe mich für das legendäre Halbfinale Deutschland gegen Italien bei der WM 1970 in Mexiko aus dem Bett geschlichen, obwohl das wegen der Zeitverschiebung so spät war, dass ich das eigentlich nicht gucken durfte. Nur mich hat in der Situation niemand wahrgenommen. Wenn man das Spiel, das als Jahrhundertspiel gilt, heute noch mal sieht, ist das stinklangweiliger Standfußball. Der Sport an sich ist heute viel attraktiver. Natürlich sind auch die Stadien und unsere Übertragungen auf einem anderen Niveau. Heute haben wir viele Rechteinhaber, Wasserzeichen und ein Fernsehbild in Full-HD. Damals gab es einfach Fußball im Fernsehen. Früher hat man auch keinen Verein gegründet, um in der Bundesliga zu spielen, so wie es Leipzig getan hat. Damals gründete man einen Verein, um gemeinsam Sport zu treiben.

teleschau: Wie fanden Sie den Fußball-Kommentar damals?

Réthy: Sparsam, sehr sparsam. Man machte keine großen Worte um den Fußball. Gerade Fernseh-Kommentatoren sagten nicht viel. Sie nannten die Namen der Spieler, die am Ball waren, und ab und zu sagten sie mal ein bisschen mehr. Ich erinnere mich an den Fernseh-Kommentar vom Finale Deutschland gegen England aus dem Wembley-Stadion bei der WM 1966. Das Spiel mit dem berühmten Tor, beschrieben vom großen Reporter Rudi Michel. Der hat diese hochemotionale Szene so trocken kommentiert, dass man es sich heute kaum noch vorstellen kann. "Dieses Tor wird noch Diskussionen auslösen", war, glaube ich, noch das Extravaganteste, das er geäußert hat. Damals war Fußball im Fernsehen zu kommentieren genau so, als würde man den Wetterbericht vorlesen - und zwar den im Herbst.

teleschau: Sie haben im letzten Dezember bei einem Halbfinal-WM-Spiel der WM in Katar Ihren Abschied als Live-Reporter gefeiert. Wie sehr fehlt Ihnen der Job?

Réthy: Es ist schon immer noch ein komisches Gefühl. Ich war gerade privat in München, bei meinem Sohn, und fuhr auf dem Weg nach Hause an der Allianz-Arena vorbei. Es war ein melancholischer Moment, weil ich dachte: "Mensch, du warst bestimmt 300-mal in diesem Kasten, um Fußballspiele zu begleiten. Und jetzt fährst du einfach dran vorbei." Dabei kenne ich dort jeden Ort: mein festes Hotel, jedes Detail war über die Jahre eingespielt. Das alles ist jetzt vorbei, wurde mir in diesem Moment klar. Als die Bundesliga nach der WM-Pause im Januar 2023 wieder losging, hatte ich einen richtigen Phantom-Schmerz, weil ich sonst Samstagmorgen immer früh losmusste. Da ging gerade noch ein Espresso und eine Zigarette, dann hastete ich zum Auto. Spätestens ab 10 Uhr war ich am Spieltag richtig angespannt. Und an diesem ersten Bundesliga-Samstag ohne aktive Beteiligung dachte ich mir dann: "Jetzt kannst du ruhig sitzen bleiben und dir erst mal ein Ei kochen."

Von 1976 bis 1986 prägte er die Bundesliga als HSV-Mittelfeld-Regisseur und wurde dreimal Deutscher Meister. 1983 holte er den Europapokal der Landesmeister (heute: Champions League-Titel), der durch sein Tor beim 1:0 gegen Juventus Turin Wirklichkeit wurde. Später wurde Felix Magath (69) auch als knallharter Trainer "Quälix" eine Legende. (Bild: ZDF / Falco Seliger)

Rente - und was jetzt?

teleschau: Also vermissen Sie Ihr altes Leben als Reporter?

Réthy: "Vermissen" wäre zu viel gesagt. Es ist eher so eine kleine Melancholie. Ich bin der Typ, bei dem das Glas immer halbvoll ist. Deshalb mag ich es eigentlich nicht, Trübsal zu blasen. Aber klar, ich habe 40 Jahre als Fußballreporter gearbeitet. Das ist mehr als die Hälfte meines Lebens. So etwas lässt man nicht einfach so hinter sich, als würde man eine Tür zu machen.

teleschau: Was planen Sie, mit Ihrer Rentenzeit anzufangen?

Réthy: Die erste Pause war nicht so lange, weil wir schon im April mit diesem Film über 60 Jahre Bundesliga angefangen haben. Ich würde gern weiterhin ein bis zwei Filme pro Jahr machen. Ein schönes Projekt wäre zum Beispiel im kommenden Jahr das Zehn-Jahre-Jubiläum des WM-Halbfinalspieles Brasilien gegen Deutschland von 2014, das berühmte 7:1. Ich hätte vor allem Lust, mit den brasilianischen Spielern von damals darüber zu reden, was dieses Spiel mit der brasilianischen Gesellschaft gemacht hat. Mal sehen, ob etwas aus dem Projekt wird.

teleschau: Und sonst?

Réthy: Gibt es Urlaube als schöne Aussicht. Ich fahre bald nach Ungarn in die alte Heimat. Meine Mutter ist im Januar verstorben, und es gibt noch ein paar Dinge zu regeln, aber natürlich auch Verwandte und Freunde zu treffen. Dann mache ich im Herbst eine Weinreise durch Portugal, die mir die Kollegen zum Ausstand geschenkt haben. Eine Herrentour, auf die ich mich ebenfalls sehr freue. Es könnte mir schlechter gehen. Ich bin mit meinem neuen Leben sehr zufrieden.

Keiner hat so viele Bundesliga-Spiele wie er - und die machte er alle für denselben Verein, für den der 68-jährige "Charly" Körbel (rechts) heute noch tätig ist: 602 Bundesliga-Partien bestritt der "Vorstopper" für Eintracht Frankfurt.  (Bild: ZDF / Falco Seliger)
Keiner hat so viele Bundesliga-Spiele wie er - und die machte er alle für denselben Verein, für den der 68-jährige "Charly" Körbel (rechts) heute noch tätig ist: 602 Bundesliga-Partien bestritt der "Vorstopper" für Eintracht Frankfurt. (Bild: ZDF / Falco Seliger)