"Es gibt keine rein bösen oder guten Menschen da draußen"

Im ARD-Dreiteiler "Unsere wunderbaren Jahre" spielt Anna Maria Mühe eine Tochter aus gutem Hause, die 1948 nicht von der alten Nazi-Ideologie lassen kann. Eine perfide Rolle im Gewand der Historien-Schmonzette - und ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung deutschen Nachkriegs-Psychen.

Es wird intensiv geliebt, intrigiert und das Leben genossen im ARD-Dreiteiler "Unsere wunderbaren Jahre" (ab Mittwoch, 18. März). Verständlich - schließlich galt es für junge Leute nach dem Zweiten Weltkrieg, endlich aufzuatmen, sich auszutoben und das Leben im Frieden neu zu entdecken. Zumindest so weit, wie es im zerbombten, schuldbeladenen Deutschland möglich war. Anna Maria Mühe spielt in der Bestseller-Verfilmung von Peter Pranges Roman eine von drei Schwestern aus gutem Haus, die nicht von der alten Nazi-Ideologie und ihrem im Krieg verschollenen SS-Ehemann lassen kann. Im Interview zum ARD-Event-Dreiteiler spricht Anna Maria Mühe, 34, über die Neuerfindung der Menschen nach dem Krieg, die Demaskierung des deutschen Wirtschaftswunders und die Bezüge jener Geschehnisse zur heutigen Gesellschaft.

teleschau: "Unsere wunderbaren Jahre" ist ein Mehrteiler, der die deutsche Nachkriegszeit in einer westdeutschen Kleinstadt zeigt. Was gibt es dort im Jahr 2020 neu zu entdecken?

Anna Maria Mühe: Die Jahre nach dem Krieg beleuchten das entstehende Wirtschaftswunder. Eine Ära, in der viele Deutsche glaubten, in sehr konservativen Haltungen und Lebensweisen eine neue Sicherheit zu gewinnen. Eine Zeit, in der die Frau zurück an den Herd geschickt wurde. In der man viel verdrängt oder bewusst vergessen hat. Hier sehe ich deutliche Bezüge zum Heute. Auch jetzt gerade scheint es so, als hätten viele vergessen, was wir aus unserer Geschichte glaubten, für immer gelernt zu haben.

teleschau: Der Mehrteiler und der ihm zugrundeliegende Roman erzählen von drei Schwestern. Junge Frauen stehen also durchaus im Vordergrund. Ist es also doch eine Emanzipationsgeschichte?

Anna Maria Mühe: Einerseits wird von Emanzipation erzählt, andererseits von Altlasten aus jener Zeit, in der man aufgewachsen ist. Gerade meine Figur glaubt eigentlich immer noch an jene Nazi-Ideologie, mit der sie als Mädchen und junge Frau aufgewachsen ist. Sie liebt ihren Mann, der schwerkrank als ehemaliger SS-Mann doch noch aus dem Krieg heimkehrt. Ich finde es stark und wunderbar provokant, so eine Figur zu spielen, die durch den Krieg fast alles verliert und dennoch die alte Nazi-Zeit vermisst. Und das, ohne nach dem Schwarz-Weiß-Prinzip einfach nur böse zu sein.

"Persönlichen Seilschaften funktionieren bei Systemwechseln weiter"

teleschau: "Unsere wunderbaren Jahre" ist also ein sehr politischer Film?

Anna Maria Mühe: Jede Zeit, die man auf eine bestimmte Art porträtiert, ist ein politisches Statement. Gerade die Nachkriegszeit ist für mich eine sehr politische Zeit. Viele Menschen mussten sich neu finden. Sie waren gezwungen, sich irgendwie zur allgemein gültigen oder vorgeschriebenen Erkenntnis zu verhalten, dass alles schlecht, ja katastrophal war, was in Deutschland jene zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945 passiert war. Man musste sich neu orientieren, um überhaupt wieder am Leben teilnehmen zu können.

teleschau: Ist der Stoff eine Demaskierung des Wirtschaftswunders? Ein gefeierter Aufschwung, der bei näherem Hinsehen aus viel Gemauschel und einer Renaissance jener Kräfte bestand, die schwerste Schuld auf sich geladen hatten?

Anna Maria Mühe: Das Wirtschaftswunder wird kritisch betrachtet, bekommt aber auch eine Plattform, auf der man sehen kann, dass die Deutschen da durchaus etwas geschafft haben. Andererseits darf man nicht vergessen, dass viele, wenn nicht die Mehrheit jener Macher des Wirtschaftswunders im Krieg für die falsche Seite gearbeitet haben: Industrie, Unternehmer, Ärzte, Juristen. Die persönlichen Seilschaften funktionieren bei Systemwechseln weiter. Eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass politische Komplettwechsel fast überall so funktionieren, dass die ehemaligen Macher und Mächtigen in ähnlicher Funktion auch im neuen System wieder oben auftauchen.

teleschau: Wenn man von Wendehälsen und Systemschleimern erzählt, geht es meistens um Männer. Ist es eine Besonderheit dieses Stoffes, dass hier auch mal weibliche Wendehälse beleuchtet werden?

Anna Maria Mühe: Ja, und es ist besonders spannend, wenn man selbst jene Figur, die so funktioniert, spielen darf. Natürlich kann man ihr zugutehalten, dass sie sehr jung war, als sie mit dieser Nazi-Ideologie infiltriert wurde. Das erklärt sie ein Stück weit, genauso wie andere real existierende, intelligente Menschen und Intellektuelle, die später als Unterstützer der Ideologie enttarnt wurden oder sich selbst enttarnt haben. Trotzdem ist es legitim zu fragen, warum man nichts dazugelernt hat, nachdem man älter wurde oder die Schuld des alten Systems aufgedeckt wurde. Es geht eben immer auch darum, inwieweit man als Mensch dazu in der Lage ist, sich selbst infrage zu stellen und sich mit der eigenen Schuld zu beschäftigen.

"Man darf alles erzählen, finde ich"

teleschau: Ihr Film-Mann, ein ehemaliger SS-Offizier, wird als kranker, weicher, ja sensibler Typ gezeichnet. Ein solcher Charakter wäre in einem deutschen Film bis vor kurzem nicht denkbar gewesen. Ist es ein Gewinn, das wir heute solch ambivalenten Figuren zeigen dürfen?

Anna Maria Mühe: Man darf alles erzählen, finde ich. Dafür sind Filme da - um die Vielfältigkeit der menschlichen Existenz abzubilden. Eine der wichtigsten Aufgaben von Filmen ist, dass wir dem Menschen dadurch näherkommen. Wir sehen und verstehen Leute, denen wir im wirklichen Leben niemals so nahekämen. Es gibt keine rein bösen oder guten Menschen da draußen. Der Mensch ist eben sehr komplex.

teleschau: Der Roman "Unsere wunderbaren Jahre" ist durch den ARD-Dreiteiler nur etwa zu einem Drittel verfilmt. Die Erzählung geht aber noch weiter bis ins Jahr 2002, als die D-Mark durch den Euro ersetzt wurde. Würde Sie die Geschichte gerne in Film weitererzählen?

Anna Maria Mühe: Das wäre insgesamt sicher reizvoll. Trotzdem musste ich mich auch ein ganzes Stück weit vom Roman lösen, denn meine Figur ist im Film schon deutlich anders als im Peter Pranges Roman. Ich habe auch nur jenen Teil gelesen, der unseren Dreiteiler betraf. Insofern kann ich nicht sagen, inwiefern das Weitererzählen für mich Sinn ergibt (lacht).

Drehbuch oder Roman: Was "bildet" mehr?

teleschau: Viele Schauspieler sagen, dass sie Romanvorlagen absichtlich nicht lesen, um sich voll und ganz auf die Drehbuchfigur konzentrieren zu können. Wie halten Sie das?

Anna Maria Mühe: Es gibt Vor- und Nachteile beider Herangehensweisen an eine Rolle. Ich versuche in der Regel, die Romane zu lesen. Selbst wenn Figuren in Roman und Drehbuch unterschiedlich gezeichnet sind, wie in diesem Falle, ergibt es durchaus Sinn, ein dickes Buch zu lesen. Einfach deshalb, weil Romane sehr viel ausführlicher beschreiben und erzählen. Wenn ich in einem historischen Stoff über zehn oder 15 Seiten detailliert beschrieben bekomme, wie sich eine Zeit anfühlt, in der meine Figur gelebt hat, ist das einfach eine wertvolle Information. So etwas steht in Drehbüchern niemals drin.

teleschau: Sie lesen Romane zu Filmprojekten vor allem im Sinne einer atmosphärischen Hintergrundinformation?

Anna Maria Mühe: Ja, das kann man so sagen. Natürlich kann man, wenn die eigene Figur in Roman und Drehbuch nicht extrem divergiert, auch wertvolle Informationen zum Charakter erfahren. Ich verstehe aber Kollegen, die sagen: "Ich will in diese Rolle frei und unbelastet hineingehen." Ich kann mich von dem, was ich an anderer Stelle gelesen habe, durchaus freimachen, würde ich behaupten. Aber es gibt in jedem Beruf unterschiedliche Herangehensweisen. Ein starkes Ergebnis, in diesem Fall eine tolle schauspielerische Leistung, kann man sicherlich auf beiden Wegen erreichen. Wichtig ist immer, dass man etwas Spannendes, vielleicht sogar etwas Neues am Menschen entdeckt. Etwas, das andere beim Zusehen fasziniert, nachdenklich macht oder einfach anrührt.