"Habe mich wie eine Präsidentengattin gefühlt": Tom Neuwirths Hassliebe zu seiner Figur Conchita Wurst

Tom Neuwirth aka Conchita Wurst gewann vor acht Jahren den europäischen Musikwettbewerb ESC für sein Heimatland Österreich. Als Frau mit Bart wurde er zur Symbolfigur für eine Öffnung tradierter Geschlechterrollen. Doch Neuwirth merkte irgendwann, dass er sich wie eine "Präsidentengattin" fühlte, die nichts Falsches sagen oder tun darf.  (Bild: André Karsai /  WURSTTV.com )

2014 gewann Tom Neuwirth als Conchita Wurst den ESC für Österreich. Die Geschlechtergrenzen sprengende Kunstfigur passte jedoch nicht jedem dort ins Weltbild. Anlässlich seines neuen ZDF-Formates "Music Impossible" denkt der 33-Jährige über Segen und Fluch eines Lebens als Symbolfigur nach.

Tom Neuwirth aka Conchita Wurst gewann vor acht Jahren den europäischen Musikwettbewerb ESC für sein Heimatland Österreich. Als singende Diva mit Bart im Abendkleid wurde er zur Symbolfigur für eine Öffnung tradierter Geschlechterrollen. Doch Neuwirth merkte irgendwann, dass er sich wie eine "Präsidentengattin" fühlte, die nichts Falsches sagen oder tun darf. Nun moderiert der 33-Jährige aus dem Salzburger Land das neue ZDF-Format "Music Impossible" (Freitag, 2. September, 23.30 Uhr, ZDF und in der ZDF-Mediathek). In der Sendung treffen jeweils zwei sehr unterschiedliche Musikschaffende aufeinander, die sich an der Kunst des anderen probieren. In der ersten Folge sind dies Schlagerikone Marianne Rosenberg und Rapper Eko Fresh. Im Interview spricht Neuwirth über die Bürde, eine die Gesellschaft verändernde Symbolfigur zu sein sowie die Unterschiede zwischen ihm und der deutschen ESC-Siegerin von 2010, Lena Meyer-Landrut.

teleschau: Sie treffen pro Folge zwei sehr unterschiedliche Stars, die ihre Musik im Stile des anderen aufnehmen. Was ist Ihre Rolle dabei?

Tom Neuwirth: Ich bin der Presenter, Moderator und natürlich Fanboy. Marianne Rosenberg zu treffen wie in Folge eins, ist für mich Belohnung genug, um den Job zu übernehmen. Ich war allerdings auch sehr aufgeregt davor, denn ich bin "starstruck" ohne Ende. Wenn ich Idole treffe, rutscht mir das Herz kurz davor schon mal in die Hose.

teleschau: Sind Sie auch deshalb der richtige "Host" für diese Show, weil Sie selbst für Diversität im Popgeschäft stehen?

Neuwirth: Ich denke, ja. Über den Tellerrand zu schauen - sowohl musikalisch als auch in der Präsentation der Kunst -, ist mir tatsächlich ein Anliegen. Ich hasse Engstirnigkeit und die bekloppte Idee, jeder müsse innerhalb seiner Grenzen bleiben. Was sind denn unsere Grenzen? Und wer legt sie fest? An "Music Impossible" gefällt mir, dass sich etablierte Stars aus ihrer Komfortzone herausbewegen und sichtbar, spürbar Unsicherheiten aushalten. Es ist etwas, das uns allen Mut machen sollte. Weil es zeigt, dass wir alle nur Menschen sind.

Die Grenzen sprengen mit Musik (von links): Rapper Eko Fresh, Moderator Tom "Conchita Wurst" Neuwirth und Schlagerstar Marianne Rosenberg begegnen sich im neuen ZDF-Musikformat "Music Impossible". (Bild: ZDF / Michael Clemens)
Die Grenzen sprengen mit Musik (von links): Rapper Eko Fresh, Moderator Tom "Conchita Wurst" Neuwirth und Schlagerstar Marianne Rosenberg begegnen sich im neuen ZDF-Musikformat "Music Impossible". (Bild: ZDF / Michael Clemens)

"Momentan ergebe ich mich dem Algorithmus"

teleschau: Wie viele Folgen sind geplant?

Neuwirth: Wir haben erst einmal zwei aufgenommen. In der ersten Folge trifft Marianne Rosenberg auf den Rapper Eko Fresh. In der zweiten Folge sehen wir dann Popstar Mike Singer und die deutsche Heavy Metal Queen Doro Pesch. Wir hoffen, dass wir danach eine ganze Staffel mit weiteren Begegnungen produzieren dürfen.

teleschau: Auch Sie haben Ihr Image immer wieder verändert und nach der großen ESC-Ballade zuletzt Elektro-Pop aufgenommen. Suchen Sie eine neue musikalische Richtung?

Neuwirth: Ich habe schon viel gemacht in meiner Karriere und gedenke, auch weiterhin vieles auszuprobieren. Momentan ergebe ich mich dem Algorithmus. Der sagt: Man muss alle sechs Wochen einen neuen Song herausbringen, um wahrgenommen zu werden. Das mache ich gerade! Spätestens alle sechs Wochen erscheint eine neue Nummer von mir, und keine gleicht der anderen. Dies ist mein gegenwärtiges Projekt und Experiment.

teleschau: Es scheint heute weniger wichtig als früher zu sein, welchen musikalischen Stil man als Popstar pflegt. Doch wie sieht es mit dem Image aus - ist das auch variabler geworden?

Neuwirth: Es ist heute sicher leichter, etwas völlig Neues zu machen. Künstlerisch, zumindest was Pop betrifft, ist die Welt offener geworden, glaube ich. Ich hatte ja schon immer das Bedürfnis, in keine Schublade zu passen. Was wechselnde Images betrifft - auch das ist im Zeitalter von Social Media und vor allem TikTok einfacher geworden, weil dort nur der Moment zählt. Die Momentaufnahme hat heute so viel Gewicht bekommen, dass sie die Idee eines Images überstrahlt. Wir öffentliche Personen werden dadurch sehr viel flexibler - sofern wir das wollen.

Ikone der Toleranz und eine der wichtigen Persönlichkeiten des Jahres 2014: Siegerin Conchita Wurst, hier bei ihrem ESC-Triumph von Kopenhagen. (Bild: Andres Putting (EBU))
Ikone der Toleranz und eine der wichtigen Persönlichkeiten des Jahres 2014: Siegerin Conchita Wurst, hier bei ihrem ESC-Triumph von Kopenhagen. (Bild: Andres Putting (EBU))

"Die bärtige Frau stand im Stück symbolisch für den Zusammenhalt der Gesellschaft"

teleschau: Aber kann man so etwas wie ein Image oder auch einen Markenkern tatsächlich so schnell austauschen? Es würde vielem widersprechen, was uns die Geschichte des Starwesens und des Pop jahrzehntelang gelehrt hat ...

Neuwirth: Wir leben auch in einer neuen Zeit. Andererseits wollen ja viele Künstler ihr Image gar nicht wechseln - das muss man dabei bedenken. Ich sage ja nur, wenn man es will, ist es heute sehr viel einfacher als früher. Natürlich braucht jeder Star irgendein Erkennungsmerkmal, sonst wäre man ja komplett austauschbar.

teleschau: Bei Ihnen ist es der Bart?

Neuwirth: Vielleicht (lacht). Tatsächlich liebe ich es, meine Outfits, Bühnenfiguren und auch die Musik zu wechseln. Man traut dem Publikum viel zu wenig zu, finde ich. Ich traue allen Menschen alles zu, deshalb bewege ich mich so frei.

teleschau: Ihr Figur Conchita Wurst haben Sie weitgehend abgestreift. Waren Sie nach Ihrem ESC-Sieg irgendwann genervt von der Rolle des Botschafters oder der Botschafterin für Diversität?

Neuwirth: Ich war nicht genervt, habe mich aber selbst indiziert. Weil ich gemerkt habe: Ich bin so viel mehr als das. Wenn ich über Conchita Wurst nachdenke, würde ich sagen: Das bin nicht mehr ich. Es war eine Idee, ein Moment, eine Überzeugung, eine Emotion. Eine, die für immer visuell erkennbar sein wird. Und je weiter es weg ist, desto mehr wird es auch für mich zu einem abgetrennt von mir wahrgenommenen ikonenhaften Bild. Natürlich war es ein Privileg, Conchita Wurst zu sein. Ich sprach neulich mit einer Journalistin, die mir von einer bärtigen Frau in einem Theaterstück erzählte, das sie gesehen hatte. Die bärtige Frau stand im Stück symbolisch für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Es ist ein Geschenk, eine solche Figur initiiert zu haben. Gleichzeitig kann ich dieses Geschenk nicht annehmen, denn das bin nicht mehr ich.

Conchita Wurst gewann den Eurovision Song Contest im Jahr 2014 für Österreich mit dem Lied "Rise Like A Phoenix". Es war der erste Sieg der Alpenrepublik seit Udo Jürgens und "Merci, Chérie" im Jahr 1966. Die Kunstfigur Conchita Wurst war nicht unumstritten. (Bild: Ragnar Singsaas / Getty Images)
Conchita Wurst gewann den Eurovision Song Contest im Jahr 2014 für Österreich mit dem Lied "Rise Like A Phoenix". Es war der erste Sieg der Alpenrepublik seit Udo Jürgens und "Merci, Chérie" im Jahr 1966. Die Kunstfigur Conchita Wurst war nicht unumstritten. (Bild: Ragnar Singsaas / Getty Images)

"Jetzt lebt es sich auf jeden Fall entspannter"

teleschau: Wie anstrengend war die Zeit als nationale, wenn auch umstrittene Ikone Österreichs?

Neuwirth: Ich habe mich wie eine Präsidentengattin gefühlt. Man will gut repräsentieren, alles richtig machen, nichts Falsches sagen und nirgendwo anecken. Man will für eine Sache werben, die man darstellt und an die man ja auch glaubt. Außerdem wollte ich gut aussehen. Conchita war nach dem Song Contest meist sehr konservativ gekleidet. Und sie war auch konservativ in den Dingen, die sie sagte. Allein deshalb musste ich das irgendwann hinter mir lassen. Ich wollte damit aufhören, einem System zu gefallen, nur um in diesem System funktionieren zu können. Jetzt lebt es sich auf jeden Fall entspannter als damals.

teleschau: Auch Lena Meyer-Landrut, machte irgendwann den Eindruck, von ihrem Image als ESC-Siegerin und nationaler Symbolfigur genervt zu sein. Kennen Sie sie - und wie gut können Sie das nachvollziehen?

Neuwirth: Ich kenne sie und kann das natürlich nachvollziehen. Bei mir war es so, dass ich vor allem von mir selbst genervt war. Vom Bedienen dieser Schublade. Man macht das ja schließlich freiwillig, niemand zwingt einen dazu. Gleichzeitig denkt man, die Sache ist so groß, dass man sie nicht abstreifen darf. Wir sind ja schließlich in der "Hall of Fame" der ESC-Sieger. Bei mir kommt noch dazu, dass ich mein ganzes Leben zuvor schon ein unfassbar großer Fan des ESC war. Dieses Ding zu gewinnen, war das Geilste, was mir in meinem Leben passieren konnte. Schon als Kind saß ich vor dem Fernseher und ich habe jede Minute dieses Wettbewerbs in mir aufgesaugt. Oft waren meine Eltern schon im Bett, als ich immer noch geschaut und mitgefiebert habe. Der ESC war mein Gay Heaven.

Tom Neuwirth sagt heute über seine Kunstfigur: "Wenn ich über Conchita Wurst nachdenke, würde ich sagen: Das bin nicht mehr ich. Es war eine Idee, ein Moment, eine Überzeugung, eine Emotion. Eine, die für immer visuell erkennbar sein wird."  (Bild: Thomas Lohnes / Getty Images)
Tom Neuwirth sagt heute über seine Kunstfigur: "Wenn ich über Conchita Wurst nachdenke, würde ich sagen: Das bin nicht mehr ich. Es war eine Idee, ein Moment, eine Überzeugung, eine Emotion. Eine, die für immer visuell erkennbar sein wird." (Bild: Thomas Lohnes / Getty Images)

"Es ist schon ein Unterschied, wenn man da - wie ich - als Fan teilnimmt"

teleschau: Das ist dann wohl anders als bei Lena ...

Neuwirth: Das könnte ich mir denken. Es ist schon ein Unterschied, ob man Musiker oder Musikerin ist - und mehr oder weniger zufällig beim ESC Erfolg hat - oder wenn man da - wie ich - als Fan teilnimmt. Als jemand, der diese Art von Ausdruck, Unterhaltung und Lifestyle als persönliche Heimat empfindet ...

teleschau: Welche Pläne haben Sie für die weitere Karriere? Bei "Music Impossible" sind Sie Moderator und Talkmaster, kein Musiker ...

Neuwirth: Es ist auf jeden Fall eine Rolle, die mir enorm viel Spaß bereitet. Ich liebe es, Menschen zu treffen und sie näher kennenzulernen. So etwas kann ich mir auf jeden Fall auch weiterhin vorstellen. Außerdem haben mein Team und ich eine eigene Video-Streaming-Plattform gestartet, da können Fans exklusiven Content rund um mein künstlerisches Schaffen ansehen. Film und visuelle Kunst sind auf jeden Fall etwas, das mich sehr interessiert. Ich liebe es, Menschen zu unterhalten - auf möglichst vielfältige Art und Weise. Ich bin ein spontaner Mensch und möchte das auch in meiner Kunst weiterhin bleiben.

Ein Jahr nach dem ESC-Sieg von Conchita Wurst fand der nächste Wettbewerb 2015 in Wien statt: Conchita Wurst sprach auf der Pressekonferenz und war als Botschafterin ihres Landes gefragt. (Bild: 2015 Getty Images/Nigel Treblin)
Ein Jahr nach dem ESC-Sieg von Conchita Wurst fand der nächste Wettbewerb 2015 in Wien statt: Conchita Wurst sprach auf der Pressekonferenz und war als Botschafterin ihres Landes gefragt. (Bild: 2015 Getty Images/Nigel Treblin)