Habeck, Wahlkampf, Kanzlerkandidatur - Politikexperte verrät, was der Baerbock-Rückzug über das grüne Innenleben offenbart

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Robert Habeck und Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen)Britta Pedersen/dpa

Annalena Baerbock hat überraschend ihren Verzicht auf eine erneute Kanzlerkandidatur erklärt. Ihre Entscheidung am Rande des Nato-Gipfels in Washington hat weitreichende Folgen - für Robert Habeck und die Grünen. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder analysiert die Situation.

Grünen-Chefin Annalena Baerbock will auf eine erneute Kanzlerkandidatur verzichten. Das sagte sie am Mittwochnachmittag (Ortszeit) am Rande des Nato-Gipfels in Washington in einem Interview mit der CNN-Journalistin Christiane Amanpour.Angesichts der internationalen Krisen wolle sie sich voll auf ihre Aufgabe als Außenministerin konzentrieren, betonte Baerbock in dem Gespräch. Statt sich mit einer Kanzlerkandidatur zu beschäftigen, wolle sie ihre Kraft in ihre aktuelle Aufgabe stecken.

Was der Auftritt Baerbocks über das Innenleben der Grünen verrät und was das nun für den Wahlkampf und Vizekanzler Robert Habeck bedeutet, erklärt der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder von der Universität Kassel im Interview mit FOCUS online.

FOCUS online: Herr Schroeder, Annalena Baerbock hat erklärt, dass sie nicht als Kanzlerkandidatin für die Grünen antreten wird. Sind Sie überrascht über diesen Schritt?

Wolfgang Schroeder: Ich bin in mehrfacher Hinsicht überrascht. Erstens über den Zeitpunkt, zweitens über den Ort und drittens über die Form, in der sie das verkündete. Entsprechend ihrer bisherigen Aufstellung hätte ich damit gerechnet, dass sie ihren Hut da in den Ring wirft. Trotz der überragenden Bedeutung, die Habeck für die Grünen hat, wäre es auf jeden Fall nicht ganz ausgeschlossen, dass Habeck und Baerbock sich 2029 oder später noch einmal im Kampf um die Kanzlerkandidatur duellieren.

„Es wirkt wie ein Alleingang“

Sie hat es angesprochen, die Art und Weise, der Ort, der Zeitpunkt waren irritierend. Was lesen Sie aus Baerbocks Erklärung heraus?

Schroeder: Ich lese daraus zunächst einmal, dass es darüber kaum Kommunikation untereinander bei den Grünen gibt. Es wirkt wie ein Alleingang in einer Partei, die so viel Wert auf Kooperation und Teamarbeit legt. Das ist sehr merkwürdig. Und es ist auch eine gewisse Selbstüberschätzung, nach dem Motto: „Ich kommuniziere hier aus dem Zentrum der Macht in den USA in die kleine Welt in Deutschland, um auch deutlich zu machen, ich bin eigentlich in einer anderen Sphäre und habe jetzt keine Lust, mich mit solchen Fragen wie Kanzlerkandidaturen weiterzubeschäftigen.“ Also das ist für die politische Kultur der Grünen schon eher befremdlich.

Auch Habeck wurde offenbar von Baerbocks Rückzug überrascht. Sie hat auch deutlich gemacht, dass es allein ihre Entscheidung war. Was bedeutet das jetzt für Habeck?

Schroeder: Habeck hat sehr klug reagiert, indem er sich jetzt nicht als der Sieger und der natürliche Kanzlerkandidat darstellt, sondern als derjenige, der auch auf dem falschen Fuß erwischt wird. Für ihn schien dieses Thema aktuell nicht auf der Tagesordnung zu stehen.

Für ihn bedeutet das natürlich, dass die Belastung noch größer wird, wobei sich das mit etwas Abstand auch wieder relativiert. Man muss sehen: Frau Baerbock ist 43 Jahre alt, sie kann noch sehr häufig als Kanzlerkandidatin antreten. Habeck ist auch nicht der Älteste, also auch da ist viel Luft nach oben. Und die Grünen selber sind in der Positionierung mit 11, 12, 13 Prozent in Umfragen dort, wo die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Sie stehen aktuell dort, wo so eine Kanzlerkandidatur zwar eine Mobilisierungsmöglichkeit ist, aber eben nicht unbedingt durch eine realpolitische Chance gedeckt ist.

Wolfgang Schroeder ist Professor für das politische System der Bundesrepublik Deutschland an der Universität Kassel.<span class="copyright">privat</span>
Wolfgang Schroeder ist Professor für das politische System der Bundesrepublik Deutschland an der Universität Kassel.privat

 

Der Fokus liegt jetzt also mehr auf Habeck. Baerbock tritt etwas mehr in den Hintergrund. Ist das schlecht für die Grünen oder sogar eine Chance?

Schroeder: Das kommt darauf an, wen man fragt. Diejenigen, die Habeck nicht als Alleinherrscher haben wollen, für die war es schon wichtig, jemanden zu haben, der als Konkurrent auftritt und sich einmischt. Eine Alleinherrschaft innerhalb der Grünen, das ist auch nicht gewollt, es ist ja auch die Partei, die als erste mit einer Doppelspitze angefangen hat und die eigentlich das kooperative Moment schätzt. Für Habeck, glaube ich, wird der Druck aber nicht wirklich größer, weil die Partei im Gegensatz zu 2021, wo man noch den Hype von Fridays for Future und der Klimapolitik im Rücken hatte, eher in der Defensive ist. Statt Rückenwind gibt es jetzt Gegenwind. Und insofern sind die Erwartungen im Moment nicht übermäßig hoch.

„Er brennt schon dafür, diese Partei zu gestalten und zu führen“

Wie sicher ist es nun, dass Habeck für die Grünen als Kanzlerkandidat ins Rennen geht?

Schroeder: Das ist eine offene Frage. Ich glaube, er brennt schon dafür, diese Partei zu gestalten und zu führen, insofern würde ich schon davon ausgehen, dass er diese Rolle annimmt. Man darf aber auch nicht unterschätzen, dass er mit der letzten Kanzlerkandidatenrunde schon einen Höllenritt hinter sich hat. Ebenso den wirklich enervierenden Job als Wirtschaftsminister mit allen Höhen und Tiefen. Und vor allem mit der Graichen-Affäre und der Wärmepumpen-Niederlage hat er maßgeblich dazu beigetragen, dass die Grünen so abgestürzt sind. Habeck ist also schon das Gravitationszentrum dieser Partei, im Positiven wie im Negativen.

Nun gibt es auch innerhalb der Grünen Akteure, die seine „Alleinherrschaft“ nicht begrüßen würden. Gibt es überhaupt Köpfe, die jetzt auf den Platz von Baerbock drängen könnten?

Schroeder: Direkt drängt sich niemand auf. Der Ministerpräsident in Baden-Württemberg ist ein Auslaufmodell, Cem Özdemir ist machtpolitisch nicht so stark aufgestellt, dass er automatisch in diese Rolle hineinwächst. Und dann kommt schon lange nichts mehr.

Wie sieht es mit den Parteiflügeln bei den Grünen aus? Welche Reaktionen sind dort auf Baerbocks Rückzug zu erwarten?

Schroeder: Es wird schon Reaktionen geben, allein was die Balance innerhalb der Partei angeht. Habeck und Baerbock kommen vom gleichen Flügel, insofern ist jetzt kein Kurswechsel zu erwarten. Und vom linken Flügel drängt sich auch niemand auf, der da in die erste Reihe rücken könnte. Insofern ist Habeck schon der ungekrönte König.

„Mehrheit der Partei wird diesen Rückzug vermutlich sehr begrüßen“

Welche Vor- oder Nachteile hat der Rückzug Baerbocks für die Partei?

Schroeder: Die Mehrheit der Partei wird diesen Rückzug vermutlich sehr begrüßen. In der Partei haben alle gesehen, was das 2021 für ein Kraftakt war. Dieser permanente Zweikampf kann eine Partei zum Teil attraktiver machen, wenn es wirklich um Richtungsentscheidungen geht und am Ende ein Kompromiss steht, der für alle nachvollziehbar ist. Aber hier war es keine Richtungsfrage, sondern es sind zwei Kandidaten aus dem gleichen Lager.

Was bedeutet der Rückzug für den Wahlkampf der Grünen? Können sie daraus Kapital schlagen?

Schroeder: Das kann man so direkt nicht sagen, weil, wie gesagt, eine Doppelspitze kann interessant sein, aber sie kostet auch viel Kraft, das darf man nicht unterschätzen. Mit einem Kandidaten kann man sich mehr darauf konzentrieren, die Partei wieder besser aufzustellen und zu stärken. Dann müsste man sich weniger um die innerparteilichen Konflikte einlassen.

Sie haben die derzeit schlechten Umfragewerte der Grünen angesprochen. Werden die Grünen überhaupt einen Kanzlerkandidaten aufstellen, wenn das so weitergeht?

Schroeder: Letztlich werden sie nicht darum herumkommen, denn die mediale Aufmerksamkeit ist doch ein paar Stufen höher, wenn man mit einem Kanzlerkandidaten ins Rennen geht. Und da Wahlkampf auch eine Frage der Aufmerksamkeit ist, muss man das zumindest berücksichtigen. Insofern wären die Grünen gut beraten, sich mit einem entsprechenden Spitzenkandidaten zu schmücken. Und das wird nach Lage der Dinge auf Habeck zulaufen.