"Hart aber fair": Die Wirrungen der Dieselkrise

Barbara Metz und Dieter Köhler zanken sich über die wissenschaftliche Herleitung der NOX-Grenzwerte. Sind sie sinnvoll oder aus der Luft gegriffen? (Bild: ARD / Screenshot)
Barbara Metz und Dieter Köhler zanken sich über die wissenschaftliche Herleitung der NOX-Grenzwerte. Sind sie sinnvoll oder aus der Luft gegriffen? (Bild: ARD / Screenshot)

Es geht um Stickoxide und Kohlenstoffdioxid, alternative Antriebe, Fahrverbote, sinnvolle Grenzwerte, weniger sinnvolle Grenzwerte, Hardware-Nachrüstungen, Software-Updates, Flottenaustausch und so vieles mehr. Beim Thema „Grenzwerte geschätzt, Motoren manipuliert: ein Land im Diesel-Wahn?“ verlieren nicht nur die Talkgäste bei “Hart aber fair” den Überblick.

Die Diskutanten:

Cem Özdemir (Grüne), Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender des Verkehrsausschusses

Oliver Wittke (CDU), Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie

Bernhard Mattes, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie e.V. (VDA)

Barbara Metz, stellvertretende Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Umwelthilfe (DUH)

Prof. Dr. Dieter Köhler, Facharzt für Pneumologie. Er ist zudem ehemaliger Präsident der Gesellschaft für Lungenheilkunde

Heinz-Harald Frentzen, ehemaliger Formel-1-Rennfahrer (der aber nur kurz und unangebunden davon erzählt, dass sein Haus mehr Strom produziert, als es verbraucht und dass er mittlerweile nur noch elektrifiziert fährt. Das funktioniere nämlich und die Autobauer müssten sich da endlich drauf einlassen.)

Runde eins: Grenzwerte oder Humbug?

Ein Einspieler gibt das erste Thema vor, es sind die ominösen Grenzwerte: Maximal 40 Mikrogramm NO2, also Stickstoffdioxid, pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel sind erlaubt in Deutschland. In Österreich und der Schweiz ist es etwas weniger, in Amerika mit 100 Mikrogramm wesentlich mehr.

Der Grenzwert basiert auf einer Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und stützt sich auf zwei Studien, aus dem Jahr 1993 und den 1980er Jahren. Es ging damals um die Auswirkung von Luftverschmutzung auf Kinder in geschlossenen Räumen, daraus machte die EU später Grenzwerte. Kritiker sagen, die Werte seien viel zu streng, auch weil Menschen im Alltag viel höheren Werten ausgesetzt seien. Wer beispielsweise auf einem Gasherd koche, erreiche in 15 Minuten das 30-fache des Grenzwerts, sagte eine ARD-Reportage vor wenigen Wochen. Also Ring frei für die erste Runde, es treten an: Köhler gegen Metz.

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Köhler: „Der Organismus kann mit NO2 und NO umgehen, weil er es selbst in hohen Konzentrationen herstellt. 30.000 Mikrogramm pro Kubikmeter, davon wird vielleicht zehn Prozent als Stickstoffdioxid abgebaut. Allein dieser Tatbestand, den man bei Wikipedia nachlesen kann, ist vielen Forschern nicht bekannt.“

Die Daten sind „wissenschaftlich schlecht erhoben“

Metz: „Der Grenzwert wurde mittlerweile mehrfach betrachtet und geprüft, viele Studien können den klaren Zusammenhang inzwischen nachweisen. Deswegen hat man 1999 den Grenzwert festgelegt, die EU hat ihn 2008 bestätigt mit einer Richtlinie und in ein Gesetz gegossen. Es gibt diesen gesetzlich festgelegten Grenzwert, der seit 2010 gilt. Jetzt fällt uns ein, darüber zu diskutieren? Wo wir Dieselfahrverbote bekommen?“

„Durch die Fahrverbote wird das Problem demaskiert. Die Studie des Umweltbundesamtes beruht auf sekundären und tertiären Daten, von den 6.000 Toten durch NO2 ist kein Mensch gemessen worden. Sondern es wurden Unterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung untersucht, außerdem wurden Stäube gemessen. Seit ich die Daten gesehen habe, bin ich entsetzt, wie wissenschaftlich schlecht die erhoben worden sind.“

„Wenn das so ist, dann machen Sie eine neue Studie. Vielleicht gibt es dann einen Grenzwert, an dem wir uns orientieren. Bislang warten aber auf eine solche Studie.“

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„Die Studie, die Sie ansprechen, kostet 20 bis 50 Millionen und dauert fünf Jahre. Die klassische Widerlegung sieht so aus: Man nimmt das Zigarettenrauchen. Das ist der Super-Feinstaub. Da erreichen wir ein halbes Kilogramm pro Kubikmeter, eine Million Mal höhere Werte. Raucher müssten nach wenigen Wochen tot umfallen.“

Metz: „Das ist keine Mehrheitsmeinung, die Herr Köhler vertritt. Deswegen muss sie zwar nicht falsch sein. Aber es gibt viele Ärzte, auch im Verein von Herr Köhler, die klar Evidenzen für einen Zusammenhang zwischen Dieselabgasen und Erkrankungen sehen. Aber der Grenzwert gilt, und er gilt eben auch für Kinder, alte Menschen und Kranke im Jahresmittel. Es geht nicht um Menschen, die sich persönlich entscheiden, zu rauchen.“

Runde 2: Fahrverbote umsetzen oder nicht?

Dann sagt Frank Plasberg den Satz, der mehr oder weniger auf alle Polittalkshows zutrifft: „Ich habe alle Argumente gehört, gehen wir zum nächsten Thema.“ Wieso hört die Debatte an dieser Stelle auf? Hier müsste sie doch eigentlich beginnen? Sind die Grenzwerte murks oder mehrfach bestätigt? Ist die Verfahrensweise wissenschaftlich „schlecht“ oder ist die Diskussion politisch „motiviert“?

Der „Faktencheck“, auf den Plasberg den ganzen Abend über verweist und der am Folgetag der Sendung Aussagen der Gäste verifizieren soll, kommt da einfach zu spät. Bis dahin hat sich jeder Zuschauer die Passage genommen, die zu seiner Überzeugung passt, und verbreitet diese weiter. So führt eine Sendung nicht zur Klärung, sondern zur weiteren Polarisierung der Gesellschaft. Indem sie Munition in Form von Argumenten liefert für beide Seiten einer Debatte. Starke und wachsweiche Argumente zu unterscheiden, das sollte die Aufgabe dieser Sendung sein.

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Weiter geht es um die grundsätzliche Debatte, die Grenzwerte auch umzusetzen. Dazu Özdemir: „Ich bin kein Lungenarzt und nicht im Verband der Pneumologen. Die WHO hat den Grenzwert beschlossen, die EU hat mit Beteiligung der Länder den Grenzwert beschlossen, wenn man ein Gesetz mit einem Grenzwert verabschiedet, muss man sich daran halten. Die Ursache der Debatte ist nicht die WHO-Studie, sondern weil vor drei Jahren die US-Umweltbehörde nachgemessen und veröffentlicht hat, dass VW getrickst und Abschalteinrichtungen illegaler Weise auf den Markt gebracht hat.“

Dann spricht er kurz seine Wähler an: „Wir Deutschen haben vor 120 Jahren das Auto erfunden, wir müssen auch das neue Auto erfinden, vernetzt, zunehmend selbst fahrend, und absolut emissionsfrei. Dafür brauchen wir andere Verkehrsminister und eine Automobilindustrie, die mutiger ist.“ Und weiter sagt er, in die NOX-Debatte wolle er jetzt nicht einsteigen. Stattdessen redet er von Klimaschutz und CO2-Emissionen des Verkehrssektors, die seit 1990 nicht zurückgegangen seien. Das stimmt und zieht dramatische Probleme nach sich, nur ist das ein völlig anderes Thema.

Wenigstens Wittke spricht Tacheles, ungewohnt klar für einen CDU-Politiker, dessen ehemalige Parteivorsitzende und regierende Bundeskanzlerin unentwegt versucht, die Grenzwerte aufzuweichen: „Ich muss mit der Realität klarkommen, es gibt europäisch vorgegebene Grenzwerte und in einem Rechtsstaat sind diese einzuhalten.“ Aber er sagt auch: „Ich wende mich dagegen, dass Deutschland vergiftet wird, weil Grenzwerte minimal überschritten werden. Die Lebenserwartung in Deutschland hat zugenommen, die NOX-Belastung haben wir um über 50 Prozent reduziert. Dennoch müssen wir die Grenzwerte einhalten, von den Kommunen bis in Bundesebene. Aber zu Panik besteht überhaupt kein Anlass.“

Runde 3: Ein Brief des Kraftfahrbundesamtes oder einfach Werbung?

Im weiteren Verlauf streiten sich dann die Diskutanten über die Messstationen (aufgewärmtes Thema einer ARD-Reportage vor wenigen Wochen, es war wohl einfach Bildmaterial da), wie hoch die sein müssen und wie weit von der Straße. Wieder kommt es zu keinem vernünftigen Ergebnis. Nur ein Highlight hat die Sendung noch zu bieten. Nachdem ein Einspieler einen Brief des Kraftfahrbundesamts (KBA) vorstellt, den 1,5 Millionen Besitzer älterer Dieselfahrzeuge seit Herbst 2018 geschickt bekommen. Darin steht: „Durch ihr Mitwirken an der Flottenerneuerung kann die Luft in unseren Städten weiter verbessert werden, ohne dass Sie eine Einschränkung für ihr Mobilitätsverhalten befürchten müssen.“ Darunter die Hotlines von BMW, Daimler und VW.

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Eine Aktion, die an Dreistigkeit kaum zu überbieten ist. Eine Institution des Bundes mit dem KBA, die neutral und keine Konjunkturspritze für deutsche Autobauer sein sollte, schaltet unerlaubter Weise Gratiswerbung, mit der höchsten Zielgruppendefinition, die es gibt. Zudem: Wieso wird vom Staat der Verbraucher in die Verantwortung genommen und nicht die Hersteller, die für die Fahrverbote verantwortlich sind? Wieso stehen auf dem Briefkopf keine ausländischen Unternehmen, die nicht „getrickst“ haben?

Ach ja, getrickst, das klingt schön niedlich, die deutschen Autobauer haben auf dem Rücken der Verbraucher Profite gemacht, weil sie die notwendigen technischen Innovationen nicht bezahlen wollten und deswegen mit geheimen Absprachen und Abschaltvorrichtungen betrogen haben. Jeden einzelnen Autofahrer. Dazu sagt immerhin Wittke: „Ich halte den Brief für skandalös, den kann man nicht versenden.“

Umtauschaktion oder Geschäftsmodell?

Aber Mattes fängt das ein: „Es geht nicht darum, dass wir unsere Kunden übervorteilen wollen. Es geht darum, die Mobilität sicherzustellen, die in Gebiete einfahren, die von Fahrverboten betroffen sind. Ich verstehe die Sorge der Menschen. Eine Möglichkeit ist, das bestehende Fahrzeug gegen ein Neues zu tauschen. Aber auch Gebrauchte werden bezahlt. Wir arbeiten aber auch daran, dass es keine Fahrverbote gibt.“

Plasberg: „Bieten Sie eine Umtauschaktion an oder ein Geschäftsmodell?“

„Eine Möglichkeit, die Mobilität zu erhalten durch ein entsprechend neues Fahrzeug. Die Automobilindustrie hat auch 250 Millionen Euro in den Dieselfonds eingezahlt, zur Verbesserung der Luft in den Städten. Saubere Luft hat mit der Manipulation nichts zu tun, sondern saubere Luft hat mit Grenzwerten zu tun.“

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Wieder eine Diskussion, die in der Schwebe erstarrt. Doch einmal, da erwischt Plasberg den Verbandschef der Autohersteller. Als es um die Hardwarenachrüstung geht, die von offizieller Seite kompliziert bis unmöglich ist. Ein Einspieler zeigt ein ZDF-Team, das bei einem BMW X3 mit einem simplen Umbau die Stickoxide von 846 Milligramm pro Kilometer auf 219 Milligramm pro Kilometer senkt, unter den gesetzlichen Grenzwert, der vorher vielfach überschritten wurde. Mit BMW-Originalteilen aus Amerika, dort kommen die zum Einsatz, wie auch am Unterboden des Fahrzeugs zu sehen ist, an der vorgesehenen Stelle ist eine Aussparung. Die Teile wurden bestellt, versandt, eingebaut, alles problemlos.

Mattes: „Die Zulassung in verschiedenen Ländern unterliegt verschiedenen Gesetzen.“

Plasberg: „Also tun Sie nicht, was Sie können, sondern wozu Sie gezwungen werden? Sie haben gerade gesagt, dass die Automobilindustrie ihr Bestes gibt, um die Luft in Deutschland zu verbessern. Man muss sich nur die Bodenplatte anschauen, da sieht man, dass das Bauteil da hinpasst.“

Dann aber sagt Mattes, dass bei jedem deutschen und amerikanischen Modell 1.000 Teile angefasst werden müssten, um es für den jeweils anderen Markt anzupassen. Und da müssten erst lange Tests durchgeführt werden, ob der Umbau so tatsächlich funktioniere. Wieder bleibt am Ende die Frage: Wer hat recht?

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