Kommentar: Christian Lindner, das Bürgergeld und die Märchen vom faulen Arbeitslosen

Der Bundesfinanzminister mag das Bürgergeld nicht, es belastet ja seine Kassen. Aber vielleicht mag er auch keine Armen. Jedenfalls kündigt er für kommendes Jahr eine Nullrunde an – und redet von der Sozialhilfe, als lebte er auf dem Mars.

FDP-Chef Christian Lindner beim Dreikönigstreff der Partei im Januar in Stuttgart (Bild: REUTERS/Leonhard Simon)
FDP-Chef Christian Lindner beim Dreikönigstreff der Partei im Januar in Stuttgart. (Bild: REUTERS/Leonhard Simon)

Ein Kommentar von Jan Rübel

Ups, er hat es schon wieder getan. Wenn sich Christian Lindner über Sozialleistungen äußert, beugt er sich tief herab. Der Bundesfinanzminister ist eben auch FDP-Chef, und diese Partei der Besserverdienenden singt stets den Evergreen von der Leistung, die sich wieder lohnen soll. Der stammt zwar von CDU und CSU. Aber keiner singt ihn lauter als die FDP.

Also hat sich Lindner am vergangenen Montag zum Bürgergeld geäußert. "Es muss in der Praxis stärker durchgesetzt werden, dass das Bürgergeld keine Rente ist, sondern eine Hilfe in der Not", sagte Lindner im Gespräch mit der "Rheinischen Post". Der Regelsatz sei "jetzt tendenziell zu hoch". Die Berechnung des Regelsatzes folge der Statistik, die Entwicklung der Inflation sei aber überschätzt worden. Lindner bekräftigte daher seine Prognose, dass es 2025 eine Nullrunde beim Bürgergeld geben könnte.

Arbeit müsse sich für alle lohnen

Mit seinen Äußerungen zum Bürgergeld folgt Lindner einer Logik, die er seit geraumer Zeit ausbreitet. Im Dezember sagte er in der Fernsehsendung "Maybritt Illner", Bürgergeld sei "kein Netz, in das man sich fallen lässt, sondern es sollte ein Trampolin sein, das im Fall des Schicksalsschlags die Menschen zurück in den Arbeitsmarkt bringt". Und, hallo Politikpopcharts: Arbeit müsse sich für alle lohnen. Lindner sagte auch, man wolle "keine Anreize" für So­zi­al­leis­tungs­emp­fän­ge­r setzen, die sich "nicht um Integration und bessere Sprachkenntnisse" bemühten.

Im September hatte er schon gegenüber der "Welt" gesagt: "Wir haben zu viele Menschen, die arbeiten könnten, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht arbeiten."

Fassen wir zusammen: Rente und Netz. Zum Fallenlassen und Herumfläzen. Eben voller Anreize zum Nichtstun. So sieht Lindner das Bürgergeld. Er bemüht damit jene Märchen, die in Deutschland alle Jahre wieder auftauchen – es gab sie in den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts, in den Nullerjahren und eben jetzt. Sie haben eines gemeinsam: Man erzählt sie, wenn gerade ein wenig Krise ist, dann denken manche Mitbürger, dass man sich Solidarität mit Schwächeren nicht mehr "so" leisten könne. Dann kommt der Reflex hoch, nach unten zu treten – obwohl Arbeitslose in der Regel nichts für Konjunkturflaute oder Inflation können. Aber im Sündenbockdasein sind sie prima.

Nun also zu den Fakten. Das Bürgergeld war zu Jahresbeginn im Vergleich zu 2023 im Schnitt um rund zwölf Prozent gestiegen. Für Alleinstehende bedeutet das ein Plus von 61 auf 563 Euro im Monat. Erwachsene, die mit einem Partner oder einer Partnerin zusammenleben, bekommen 506 Euro. Für Kinder und Jugendliche liegen die Sätze je nach Alter zwischen 357 und 471 Euro.

"Niemand sollte den Eindruck erwecken, dass der Regelsatz im Bürgergeld gewürfelt wird", reagierte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gegenüber dem "Spiegel" auf Lindners Worte. "Er entspricht viel mehr den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts, ein menschenwürdiges Existenzminimum abzusichern." Denn was Lindner verschwieg: Dieser Erhöhungsmodus gilt seit vielen Jahren. Das hat nicht die aktuelle Ampel-Regierung beschlossen.

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Statistik: Höhe des Bürgergelds bzw. des Hartz-IV-Regelsatzes in den Jahren von 2005 bis 2024 (in Euro) | Statista
Statistik: Höhe des Bürgergelds bzw. des Hartz-IV-Regelsatzes in den Jahren von 2005 bis 2024 (in Euro) | Statista

Zahlen können entwirrt werden

Die aktuelle Erhöhung des Bürgergeldes ist das Ergebnis eines komplexen Berechnungsschlüssels, der Verbraucherpreise und Lohnentwicklungen berücksichtigt. Auch beziehen die Beamten seit 2022 eine Schätzung der erwarteten Preisentwicklung im zweiten Quartal des Folgejahres ein. In die Berechnung der Regelsätze fließen zu rund 70 Prozent die Veränderungen des Mischindexes der Preisentwicklung aller "regelbedarfsrelevanten" Güter ein. Und zu 30 Prozent wird die Entwicklung der Nettolöhne berücksichtigt.

All dies ist normal und gerecht. Es sei denn, man sagt, Arbeitslose seien vollständig und ausschließlich alleinverantwortlich für ihre Arbeitslosigkeit, aber, liebe FDP: Es kann ja nicht jeder Apotheker werden, das vermieste die Preise. Will man also nicht weiter von unten nach oben verteilen, braucht es eine Anpassung. Alle sitzen in einer Gesellschaft in einem Boot, das sollte zumindest das Ziel sein.

Es ist bei der Berechnung demnach nichts "überschätzt" worden, wie Lindner behauptet. Oder in den Worten seines Arbeitskollegen Heil: "Da die für das Existenzminimum ausschlaggebenden Preise, etwa bei Lebensmitteln und Strom, im vergangenen Jahr stark gestiegen sind, gab es eine deutliche Anpassung des Bürgergelds." Aber da war die Neiddebatte längst wieder ausgebrochen, mit den Trittreflexen nach unten.

Erstmal zum wichtigsten Grundpfeiler des Märchens, Arbeit lohne sich nicht mehr: Alle Haushalte – egal ob Single, Alleinerziehende oder Familien – haben mehr Geld in der Tasche, wenn sie arbeiten, als wenn sie arbeitslos sind. "Für einen Single, der zum Mindestlohn arbeitet, beträgt die Differenz 532 Euro im Monat", zitiert die "Junge Welt" das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. "Für Eltern mit zwei Kindern unter sechs Jahren sind es 674 Euro im Monat.

Gegen Migranten geht immer

Auch Lindners Äußerungen über angeblich integrationsunwillige Menschen, die lieber aufs tolle Bürgergeld schielen, geraten auf eine Bahn, die einem Realitätscheck nicht standhält. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat dokumentiert, dass der Bezug von Bürgergeld, auch von aufstockendem Bürgergeld, unter Familien mit einer Einwanderungsgeschichte auch deshalb öfter zu finden ist, weil die Eltern schlecht bezahlte Jobs haben und mehrere Kinder im Haushalt leben. Daraus folgt die Erkenntnis: Damit erledigen sie jene Arbeiten, für die sich nicht wenige Deutsche zu fein sind. Nebenbei erziehen sie jene nachwachsenden Generationen, die auch in Zukunft den Fachkräftemangel lindern und dafür sorgen, dass die Rente nicht vollends vor die Hunde geht. Aber ich vergaß: Der Arzt von der FDP hat da längst in seine Immobilienfonds zur Altersvorsorge investiert.

Ich weiß, das klingt gehässig. Aber wirklich herzlos finde ich das realitätsferne Reden von Leuten, die haben, über Leute, die weniger haben. Um wen geht es eigentlich genau?

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Statistik: Bürgergeld: Verteilung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nach Gruppen im September 2023 | Statista
Statistik: Bürgergeld: Verteilung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nach Gruppen im September 2023 | Statista

Unter den Beziehern von Bürgergeld gibt es eine sehr kleine Gruppe von Menschen, die seit vielen Jahren arbeitslos sind. Das sind die Fälle, die man besser nicht auf ein FDP-Trampolin à la Lindner schickt. Denn sie sind nicht faul, sondern aus vielen Gründen gehandicapt. Eine engmaschige Begleitung braucht es da, kein Bootcamp bei der Maklerinnung. Lindners Erkenntnis als damals 18-Jähriger, als er mal in eine Fernsehkamera posaunte, Probleme seien nur dornige Chancen, erschließt sich ihnen womöglich nicht im Nu.

"Es gab schon immer Langzeitarbeitslose und dagegen kann man nur bedingt vorgehen. Und die Gruppe der Arbeitslosen, die sich einfach weigert, Erwerbsarbeit aufzunehmen, die ist nicht wahnsinnig groß und die ist auf keinen Fall so entscheidend für die deutsche Volkswirtschaft", sagte die Soziologin Mona Motakef von der TU Dortmund gegenüber dem "ZDF". Nur sind das die Leute, über die besonders viel gesprochen wird. Leider.

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