Kommentar: Darum sollte jeder Deutsche "Der vermessene Mensch" im Kino sehen

Einen Film über die deutsche Kolonialgeschichte und den Völkermord in Namibia zu drehen, ist ein heikles Unterfangen. Nicht immer gelingt dieser Drahtseilakt in "Der vermessene Mensch". Und dennoch sollte der Film zur Pflichtveranstaltung an deutschen Schulen und Universitäten werden.

Ein Kommentar von Moritz Piehler

Dem jungen Ethnologen Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) kommen nach der Begegnung mit Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) Zweifel an der vorherrschenden Rassenlehre. (Bild: Studiocanal GmbH / Julia Terjung)
Dem jungen Ethnologen Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) kommen nach der Begegnung mit Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) Zweifel an der vorherrschenden Rassenlehre. (Bild: Studiocanal GmbH / Julia Terjung)

Im Geschichtsunterricht an der Schule wird die deutsche Kolonialzeit oft nur in einem kurzen Seitenblick betrachtet. Und so dürften viele Schüler*innen nur wenig wissen über das Grauen, dass im heutigen Namibia zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter deutscher Flagge angerichtet wurde und die Auswirkungen, die his heute anhalten. Ein Kinofilm allein wird das nicht grundlegend ändern, er kann aber einen Anstoß geben, der mehr als überfällig ist.

Bei dem brutalen Kolonialkrieg in den Jahren 1904 bis 1908 wurden nach dem Vernichtungsbefehl des deutschen Generals Lothar von Trotha zehntausende Herero und Nama erschossen oder zum Verdursten in die Wüste getrieben. Anschließend wurden unzählige Menschen zur Zwangsarbeit gezwungen und in Konzentrationslager eingesperrt. Die Hälfte aller Gefangen kamen dabei unter grausamen Bedingungen ums Leben. Insgesamt starben bei dem Völkermord in "Deutsch-Südwestafrika" zwischen 40.000 und 60.000 Herero und etwa 10.000 Nama. Diesen furchtbaren Genozid ehrlich abzubilden, ohne dabei "Exploitation" zu betreiben, war die schwierige Aufgabe, die sich für Lars Kraume bei "Der vermessene Mensch" stellte.

Heikler Drahtseilakt

Ob der Film aus cineastischer und moralisch-ethischer Sicht gelungen ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Wer sich auf ein so sensibles bisher kaum im Kino erkundetes Feld begibt, der muss mit Kritik rechnen. Das hat Kraume auch und, so scheint es, sich so gut wie möglich abgesichert, den richtige Ton zu treffen. Bei einem Kino-Gespräch in Hamburg berichtete der Regisseur von den Dreharbeiten in Namibia. Dort sei darauf geachtet worden, ein möglichst diverses Team zusammenzustellen. Die Nama und Herero im Film seien jeweils auch von Nama und Herero-Schauspieler*innen besetzt gewesen. Dazu gab es vor allem für die gewalttätigen Szenen eigens eine Herero-Psychologin am Set, die auf Traumatherapie spezialisiert gewesen sei. Bei der Drehbuchentwicklung arbeitete Kraume eng mit der beeindruckenden Hauptdarstellerin Girley Charlene Jazama zusammen. Bereits zuvor hatte er das Gespräch mit namibischen Filmemacher*innen gesucht.

Ovaherero bei einem Screening in Namibia. (Bild: Studiocanal GmbH / Willem Vrey)
Ovaherero bei einem Screening in Namibia. (Bild: Studiocanal GmbH / Willem Vrey)

Die fragwürdige Figur des "guten Deutschen"

Dennoch bleiben Fragen, denn die Hauptfigur ist ein deutscher Ethnologe namens Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher), den ohnehin Zweifel plagen, ob die damals verbreitete Theorie der überlegenen weißen Kulturrasse, die anhand von Schädelvermessungen belegt werden soll, seine Richtigkeit hat. Die Figur entlässt die Zuschauer*innen ein wenig aus der Verantwortung, indem sie einen "guten Deutschen" abbildet - zumindest zunächst. Dass dieser sich unter dem Vorwand der Wissenschaft dennoch schuldig macht, schlägt den Bogen dann aber zu heutigen Debatte um den Umgang mit dem kolonialen Erbe.

Auch zu der vor allem hierzulande und auch von schwarzen Deutschen geäußerten Kritik, dass der Film eine weiße, deutsche Perspektive einnehme, hat sich Kraume zahlreiche Gedanken gemacht. Sein Fazit sei es gewesen, dass er als deutscher Regisseur eben nur diese Perspektive glaubhaft erzählen könne. Alles andere, beispielsweise die Heldengeschichte des Freiheitskämpfer Jakobus Morenga zu erzählen, hätte er als kulturelle Aneignung empfunden. Diese Geschichte solle von namibischer Seite erzählt werden, findet Kraume.

Der Film zeigt die brutale Praxis der Schädelvermessung, durch die die Theorien der Rassenlehre gestützt werden sollte. (Bild: Studiocanal GmbH / Willem Vrey)
Der Film zeigt die brutale Praxis der Schädelvermessung, durch die die Theorien der Rassenlehre gestützt werden sollte. (Bild: Studiocanal GmbH / Willem Vrey)

Bis heute ist ein Großteil des Farmlands in Namibia der Hand einer winzigen weißen Minderheit. Bis heute gab es keine ernstzunehmende Entschuldigung der Bundesregierung bei den Herero und Nama. Auch wenn die Restitution von menschlichen Überresten und gestohlenen Kulturgütern inzwischen voranschreitet, ist sie längst nicht abgeschlossen. Die Ovaherero, denen Kraume seinen Film in Namibia zeigte, hätten in dem Film eine "Waffe" gesehen, die ihnen zu ihrem Recht im Kampf um Anerkennung verhelfen könne, erzählte Kraume in Hamburg.

Die deutsche Kolonialgeschichte muss gezeigt werden

In der Ethnologie bewegt sich mittlerweile viel, Museen wie das Humboldt Forum in Berlin oder das MARKK in Hamburg wollen (oder müssen) sich mit ihrer Kolonialgeschichte auseinandersetzen. Der weiße, eurozentrische Blick auf die Welt, der noch immer vorherrschend ist und Geschichtsschreibung, Kultur und globale Wirtschaft prägt, wird zumindest nicht mehr unkritisch weitervermittelt.

Der Genozid an den Herero ist lange ein unausgesprochenes, verdrängtes Verbrechen der deutschen Geschichte gewesen, überdeckt von der Singularität des Holocaustes. Der aber letztlich auf den gleichen wahnwitzigen Rassentheorien beruhte, die der Rechtfertigung der Kolonialisierung dienten. Kraumes Film könnte nun nicht nur den Nachkommen in Namibia eine angemessene Sichtbarkeit verschaffen, er könnte die Deutschen auch dazu bewegen, dieses schuldbehaftete Kapitel der eigenen Geschichte endlich angemessen wahrzunehmen.

Im Video: Trailer zu "Der vermessene Mensch"