Kommentar: Deshalb sind die KZ-Prozesse gerade heute noch so wichtig

Gerade wurde das Urteil im KZ-Prozess von Stutthof gesprochen. Warum es immer noch so wichtig ist, die Mittäter*innen des Nationalsozialismus strafrechtlich zu verfolgen.

Irmgard F. musste sich als ehemalige Sekretärin im KZ Stutthof vor einem Gericht in Itzehoe verantworten. (Bild: Christian Charisius/Pool via REUTERS )
Irmgard F. musste sich als ehemalige Sekretärin im KZ Stutthof vor einem Gericht in Itzehoe verantworten. (Bild: Christian Charisius/Pool via REUTERS )

Es gibt diejenigen, die von Prozessen gegen ehemalige Beteiligte an den Verbrechen der NS-Zeit wenig halten. Viel zu spät, warum sollte man jetzt noch uralte Greise und Greisinnen wegsperren. Niemand könne sich zudem in die Zeit hineinversetzen und nachvollziehen, unter welchen Bedingungen die damals jungen Menschen zu Täter*innen geworden sind. Wohl richtig, und auf gewisse Weise wirkt es ungerecht, diese letzten Überbleibsel der Nazi-Zeit mit 70 Jahren Verspätung vor Gericht zu stellen. Deshalb ist es auch aus juristischer Sicht völlig in Ordnung, wenn sie, wie zuletzt die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. im Stutthof-Prozess, mit einer Bewährungsstrafe "davonkommen". Denn es geht hier nicht mehr um Bestrafung oder gar eine Aussicht auf Einsicht und Besserung. Es geht um die Sichtbarkeit der Verbrechen und die klare Botschaft: Eine Mittäterschaft an so etwas Grausamem wie dem Holocaust bleibt nicht ungestraft, auch Jahrzehnte später nicht.

Die letzten NS-Prozesse - und was sie den Angehörigen bedeuten

Die aktuellen Prozesse werden wohl die letzten sein, in denen der Rechtsstaat dies noch einmal deutlich machen kann. Irmgard F. ist 97, die Generation der Täter*innen stirbt langsam aus - die der Zeitzeug*innen aber auch. Wer einmal in einer Schulklasse dabei war, wenn jemand aus der NS-Zeit erzählt, der sie miterlebt hat, wird verstehen, dass kein Film, keine Audioaufnahme oder Buchtext diese Funktion ersetzen kann. Und je weniger dieser Zeitzeug*innen es gibt, desto wichtiger wird es, ihnen zuzuhören. Das Unfassbare im Kleinen fassbar zu machen hat eine immense Wirkung. Auch dafür dienen die Prozesse.

Als Reporter beim Lüneburger Prozess gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning konnte ich mit den Angehörigen der Opfer sprechen. Sie waren teilweise aus Kanada und Israel angereist, um den Prozess zu verfolgen. Ihre Aussagen waren übereinstimmend deutlich: Uns ist das Urteil egal, wichtig ist, dass der Prozess stattfindet, dass der Täter sich verantworten muss und dass der deutsche Staat seiner Verantwortung endlich gerecht wird. Manche hatten zuvor Angst davor gehabt, das Land der Täter überhaupt zu betreten, das ihren Familien so viel Leid beschert hatte. Erst die Prozesse machten einen Schritt zur Versöhnung mit heutigen Generationen überhaupt denkbar. Nie wurde mir so deutlich, wie in diesen Gesprächen, warum die Gerichtsverfahren gegen die letzten NS-Täter*innen so immens wichtig sind.

Das Vergessen schleicht sich ein

Ja, es wäre wünschenswert gewesen, die großen Täter*innen wären konsequenter und härter verfolgt worden, über die Nürnberger Prozesse hinaus. Viel zu viele der Profiteure und Strippenzieher der Nazi-Ideologie konnten es sich in den Nachkriegsjahren in Deutschland wieder ziemlich gemütlich einrichten. Machten weiter Karriere als Richter*innen, Polizist*innen, Professor*innen oder Ärzt*innen. Es war der halbgare Kompromiss, auf den sich die Siegermächte und die deutsche Nachkriegsgesellschaft stillschweigend einigten, er wurde erst mit dem Aufkommen der Studentenbewegung von 1968 in Frage gestellt. Die Versäumnisse der Vergangenheit sind nicht ungeschehen zu machen. Die Erinnerung wach zu halten, kann uns aber davor bewahren, Schlimmeres in Zukunft zu verhindern.

Doch heute kann man das Gefühl bekommen, das Vergessen schleiche sich ein. Man kann es an dem Aufkommen rechtspopulistischer Politiker wie Donald Trump oder Victor Orbán festmachen. Oder an dem Aufstieg rechter Parteien wie der AfD in Deutschland oder der italienischen Fratelli d’Italia, die sich mit Ministerpräsidentin Giorgia Meloni klar in eine post-faschistische Tradition stellt. Die NSU-Morde sind ebenso wie der jüngst verhinderte Coup durch die sogenannten Reichsbürger Beweis dafür, dass rechtsradikales, menschenverachtendes Gedankengut keineswegs in der Versenkung verschwunden ist. Selbst der Verfassungsschutz räumt mittlerweile ein, dass die größte Gefahr heute von rechtem Terror ausgeht.

Auch wenn viele es "nicht mehr hören können", die unmenschlichen Verbrechen des Nationalsozialismus bringen die Verpflichtung mit sich, dass kommende Generationen und auch der Staat sich mit ihnen auseinandersetzen und alles dafür tun, dass so etwas - nicht nur in Deutschland - nie wieder geschehen kann. Die NS-Prozesse sind dabei ein entscheidender Anteil.

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