Kommentar: Putins Auftritt beim G20-Gipfel könnte ihn ins eigene Gefängnis bringen

Es war zwar nur ein virtuelles Format: Aber erstmals traf sich der Kreml-Herrscher mit Regierungschefs der G20-Länder. Für seinen Krieg musste sich Wladimir Putin einiges anhören. Er selber streute wieder einmal Gerüchte. Und brachte Worte, für die man in Russland eingesperrt wird.

Russlands Präsident Wladimir Putin (rechts) und sein Vizepremier Alexei Overchuk beim virtuellen G20-Gipfel am vergangenen Mittwoch
Russlands Präsident Wladimir Putin (rechts) und sein Vizepremier Alexei Overchuk beim virtuellen G20-Gipfel am vergangenen Mittwoch.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Dass für Wladimir Putin in seinem Land eigene Gesetze gelten, ist klar. Steht er doch ganz oben an der Spitze eines politischen Systems, das Freiheit auf spezielle Art definiert. Und der Diktator zelebriert seine eigene Freiheit auf höchster Bühne: Als er sich online zu einem virtuellen Treffen der G20-Länder schaltete, nahm er sich einiges raus.

"Kriegerische Handlungen" statt "Spezialoperation"?

"Ja natürlich, kriegerische Handlungen sind immer eine Tragödie." Man müsse darüber nachdenken, wie diese Tragödie beendet werden könne, sagte er. Die "G20-Länder" sind ein Format der größten und mächtigsten Länder weltweit. Der seit seinem Angriffskrieg international geschnittene Putin war von Gastgeber Indien wohl eingeladen worden, weil der nationalistische Premier Modi gern sein Land mit billigem Öl eindeckt.

Aber halt, sagte Putin tatsächlich "kriegerische Handlungen"? Für solche Formulierung würde er auf den Straßen Moskaus eine Verhaftung riskieren.

Denn das Wort "Krieg" darf man nicht in den Mund nehmen. Zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hieß es offiziell "Spezialoperation". Dann wurde den Medien verboten, von "Angriff" oder "Invasion" zu sprechen. Wer über ukrainische Zivilopfer berichtete, oder über Kriegsverbrechen, wurde und wird für Jahre ins Gefängnis gesteckt. Und dann spaziert der oberste Machthaber in ein Studio und redet freimütig über diese "Tragödie". Das ist die Tragödie. Es ist die 1000 und erste Aufführung von "Was mir erlaubt ist, ist noch lange nicht euch erlaubt" – ein menschlicher Klassiker.

Und dennoch sind Putins Worte auch inhaltlich gesehen ein Hohn. Wenn er diesen Krieg als Tragödie ansieht, warum beendet er ihn dann nicht? Niemand würde ihn daran hindern. Eine Gefahr für Russland ginge von diesem Schritt auch nicht aus. Er müsste es nur wollen. Aber Putin nützt der Status quo viel mehr – die Perspektive auf ein Einfrieren der Waffengänge in einen endlosen Krieg. Solange die Ukraine derart gebunden ist, kann Putin drohen und erpressen, seine Karten in der Hand behalten.

Ich bin's nicht gewesen

Stattdessen also zu tun, als habe er mit diesem Krieg nichts zu tun, könnte Putin tatsächlich darüber nachdenken, "wie diese Tragödie beendet werden könnte". Aber Nebelkerzen scheint er zu bevorzugen. "Russland hat Friedensgesprächen mit der Ukraine nie eine Absage erteilt", behauptete Putin nun zudem. Die Ukraine hingegen verweigere sich Verhandlungen.

Aha. Ein Blick ins Medienarchiv zeigt mir zig Meldungen, in denen Putin oder einer seiner Lakaien sagte, dass Verhandlungen "zu diesem Zeitpunkt" keinen Sinn ergäben.

Putin will aber eine Erzählung aufrechterhalten. Und die geht so: Recht kurz nach Kriegsbeginn hatte es direkte Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine gegeben. Sie kamen ins Stocken, weil Kiew auf Sicherheitsgarantien bestand, die nicht nur Russland, sondern auch westliche Staaten geben sollten – keine Nato-Mitgliedschaft, wohlgemerkt. Ein rotes Licht für Putin, der selbst Sicherheitsgarant für die von ihm angegriffene Ukraine sein wollte, also dass man den Bock zum Gärtner macht. Ferner wollte die ukrainische Regierung nicht über die Regionen Luhansk und Donezk verhandeln, die von Russland in der Invasion besetzt worden waren. Dann kursierten die ersten Bilder der Kriegsverbrechen von russischen Soldaten, die Massenhinrichtungen von Butscha, und die Istanbuler Verhandlungen gerieten in eine Sackgasse.

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Infografik: 500 Tage Ukraine-Krieg: Das Ausmaß der Zerstörung | Statista
Infografik: 500 Tage Ukraine-Krieg: Das Ausmaß der Zerstörung | Statista

Seitdem wird ständig miteinander gesprochen. Es gibt Austausch. Aber für formelle Waffenstillstands- oder Friedensverhandlungen bietet Putin nichts an. Er sagt nur, dass er reden will, was schon geschieht.

Putin trat auf dem G20-Gipfel auf, um sein russisches Märchen aufrecht zu erhalten, und welches in Deutschland von Personen wie Sahra Wagenknecht oder Alice Schwarzer weiterverbreitet wird: dass man im Kreml einen offenen und friedenswilligen Gesprächspartner habe. Damit versuchen sie, vom wahren Verursacher abzulenken und der Nato eine Verantwortung zuzuschieben. Angeblich habe der Westen, also die Nato, die Ukraine unter Druck gesetzt, die Istanbuler Verhandlungen zu beenden und zu kämpfen, bis Russland "besiegt" sei. Das ist Nonsens, der von Einzelpersonen aufrechterhalten wird, aber sich mit keiner seriösen Geschichtsquelle deckt.

In Wirklichkeit war, ist und bleibt Putin bis heute der Kriegstreiber. Gegen Verhandlungen irgendwelcher Art ist gewiss nichts einzuwenden. Reden geht ja immer. Aber so zu tun, als würden diese sofort die Waffen zum Schweigen bringen, ignoriert die Fakten. Und dies bleibt der andauernde Angriffskrieg.

Schnell zu was anderem

Da jede Nebelkerze irgendwann ausbrennt, zündete Putin bei seinem Redebeitrag auf dem virtuellen G20-Gipfel sogleich eine weitere. Er lenkte auf den Gaza-Konflikt über. Ob die Kollegen nicht erschüttert seien über die Ermordung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen, fragte er. Terroristen der islamistischen Hamas hatten am 7. Oktober Massaker in Israel verübt. Wollte er damit sagen: Wenn ihr über meine Massaker erschüttert seid, müsst ihr es auch über andere sein? Putins Worte sind ein Ablenkungsmanöver, er taugt als Ratgeber in Sachen Menschlichkeit nur bedingt. Und, na klar: Über die Tötung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen kann man nur erschüttert sein. Der russische Präsident kann in viele Schafpelze schlüpfen, er bleibt aber: ein Lügenverbrecher.

Am Ende sagte der Mann im Kreml wirklich interessantes: Er machte schließlich noch die führenden westlichen Mächte für Teuerung und andere Probleme der Weltwirtschaft verantwortlich. Es seien Billionen US-Dollar und Euro in die Wirtschaft geflossen, teilweise auch zur Bekämpfung der Corona-Epidemie, sagte Putin. Dies führe aber zu globaler Inflation, zu gestiegenen Preisen für Lebensmittel und Energie, unter denen vor allem die armen Länder litten.

Über diese These kann man reden, streiten. Es tut sich nur ein Widerspruch auf: Es sind seine Anhänger in Deutschland, vornehmlich in der AfD zu finden, die den größten Aufschrei hingelegt hätten, hätte die deutsche Bundesregierung keine Coronahilfen, keinen Wumms und Doppelwumms für die Bevölkerung bereitgestellt. Im Gegenteil: Intern haben sich die AfD-Kader immer gewünscht, es werde im Land ganz schlimm werden, damit sie ihren Katastrophensound besser bespielen können. Putin kritisiert also, was seine Fanboys und -girls in Deutschland vehement forderten. Putin ist ein Rechter. Und Rechte machen zynische Politik. Wie man immer wieder aufs Neue festzustellen hat. So sad.

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