Kommentar: Warum es uns nicht juckt, wenn Haustiere sterben

Eine Drohnenaufnahme der entgleisten Waggons in Palestine, Ohio (Bild: NTSBGov/Handout via REUTERS)
Eine Drohnenaufnahme der entgleisten Waggons in Palestine, Ohio (Bild: NTSBGov/Handout via REUTERS)

Im US-Bundesstaat Ohio kommt es zu einem riesigen Chemie-Unfall, und kaum einer schaut hin. Die Umweltkatastrophe wird erst langsam wahrgenommen – mit Socialmedia als Treiber. Über Journalistenversagen und unser schlechtes Gewissen.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Zugegeben, diese Schlagzeile da oben, die zieht rein. Nicht wahr? Haustiere gehen immer, sagte mir mal ein Mann bei „Bild“, und er hatte recht. In diesem Text geht es tatsächlich um sterbende Haustiere, was uns mehr entsetzt als das Sterben von Kiefern oder Käfern; sie sind uns halt nahe, ich lebe ja selbst mit einem.

Nun sterben gerade Pflanzen, Wildtiere und Wuffi und Mausi – und zwar im US-Bundestaat Ohio, nachdem Zugwaggons mit giftigen Chemikalien entgleist sind. Nur erweckt diese Katastrophe kaum das mediale Interesse, das es verdient. Mein Verdacht: Wir drücken weg, was unser schlechtes Gewissen erhöht.

Vor ein paar Tagen bin ich aus purem Zufall auf diesen Unfall gestoßen. Auf Twitter stolperte ich über den Hashtag „#Palestine“, und ich fragte mich: Was ist denn schon wieder los im Westjordanland; erst dann erfuhr ich vom Örtchen Palestine in Ohio, USA, und davon, dass am 3. Februar bei einem Güterzug etwa 50 Waggons entgleist waren, zehn davon mit Gefahrengut. Eine riesige Rauchwolke war auf Socialmedia zu sehen, Anwohner rätselten, Behörden beschwichtigten, Medien berichteten gar nicht oder verhalten. Was ist denn los in Palestine, USA, fragte ich mich da. Und: Warum erfahre ich davon nicht in den Nachrichtenmedien meiner Wahl?

Der Unfall erhielt riesige Dimensionen. Es waren Vinylchlorid und andere Chemikalien ausgetreten und explodiert. Weil das Zeug hochexplosiv ist, ließ die Feuerwehr aus fünf Kesselwagen die Flüssigkeiten auslaufen und kontrolliert abbrennen. Die Rauchwolke wurde noch größer.

Währenddessen wurde der Unfall weiterhin kleingeredet, Anwohner blieben kaum informiert, Journalisten behinderte man bei den Recherchen, viele andere schrieben schlicht auf, was Offizielle erzählten. Und in Deutschland nahm man davon nicht Notiz. Nur Socialmedia übernahm in diesem Fall, so traurig es auch sein mag, die Aufgaben des Journalismus.

Erst jetzt berichten deutsche Medien über den Vorfall, und dies immer noch nicht flächendeckend. Denn nun sterben in der Region von Palestine die Fische in den Flüssen. Haustiere kippen um krepieren. Und die Menschen klagen über Halsschmerzen und Übelkeit. Was, verdammt, ist da passiert?

Ein Tweet fragte vor ein paar Tagen, vielleicht ein wenig höhnisch, wo Greta Thunberg sei. Jedenfalls hat er damit, womöglich ungewollt, einen wahren Kern enthüllt: Vielleicht hatte die Klimaaktivistin von diesem Unfall noch nicht erfahren – die Berichterstattung war eben mager. Und die Frage nach dem warum drängt sich auf.

Es ist ja weit weg

Vinylchlorid ist der Baustein, aus dem PVC gemacht wird. Das kennen wir alle, es ist unser Kunststoff schlechthin, wir benutzen es in unserem Alltag, unsere Welt ist quasi daraus gebaut. PVC ist der Schmierstoff unserer industrialisierten Welt. Ohne Vinylchlorid kein Fortschritt, jedenfalls nicht unsere aktuelle Art des Fortschritts. Und nun ist uns das in Palestine, Ohio, USA, um die Ohren geflogen.

Man kann sagen: Es war ein Unfall, sowas passiert. Auf Kunststoff verzichten, das geht auch kaum. Warum also dem so viel Aufmerksamkeit schenken? Ich finde: Dieser Unfall ist Ausweis unseres Paktes, den wir geschlossen haben. Und dieser besiegelt gerade die ökologische Schwächung unseres Planeten, die in Palestine gerade die Haustiere sterben lässt, aber früher oder später auch den Homo sapiens treffen wird.

Eine Frage der Prioritäten

Die Umweltkatastrophe von Palestine wäre nach meinem inneren Barometer eine Top-Meldung. Ein Aufschrei. Es betrifft uns alle, trifft unsere Art zu leben. Aber unsere Offenheit dafür scheint geschrumpft zu sein: So viel Krieg in der Ukraine, die Inflation, und dann will man noch wissen, was dieser Hans Georg oder Hans-Georg oder wie hieß nochmal dieser Maaßen und was hatte der noch neulich gesagt?

Ständig finden wir Dinge, die wir wichtiger finden. Sie sollen uns aber nur ablenken. Palestine ist wichtig. Mich erinnert dieser Unfall an den Film „Weißes Rauschen“, einer Romanverfilmung vom vergangenen Jahr. In „White Noise“ entsteht nach einem Unfall auch eine Chemiewolke – und der panische Umgang mit dem mysteriösen Zeug wird zu einem Dokument der Zeitgeschichte, das brandaktuell ist; übrigens sehr sehenswert.

Kann es sein, dass wir solche Ereignisse wegdrücken? Dass wir uns weniger mit den Folgen unseres Lebensstils beschäftigen wollen, der eben PVC braucht? Wenigstens Bewusstsein dafür sollten wir schaffen.