Kommentar: Wie demokratische Regierungen aus Julian Assange ein Monster machten

LONDON, ENGLAND - NOVEMBER 18: Julian Assange supporters demonstrate outside of the Westminster Magistrates Court on November 18, 2019 in London, England. (Photo by Hollie Adams/Getty Images)
Ein Unterstützer Julian Assanges demonstriert vor einem Londoner Gericht für den inhaftierten Wikileaks-Gründer (Bild: Getty Images)

Am Wikileaks-Gründer soll ein Exempel statuiert werden. Mit ihm auf der Anklagebank: die Pressefreiheit, die Demokratie – alles, was uns wichtig ist.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Langsam wird das Ausmaß staatlichen Versagens klar. Die Regierungen in den USA, in Großbritannien, Schweden und Ecuador sind demokratisch. Aber in einem Fall handeln sie wie klassische Bösewichte: im Verfahren gegen Julian Assange.

Das Unglaubliche wird wahr: Wir alle sind von unseren Regierungen getäuscht und belogen worden. Wir wurden manipuliert. Denn wir sollten glauben: Assange, dieser komische Typ mit seinen Ticks in der Botschaft, sauber ist der nicht. Irgendwie.

Auch ich dachte so. Mit dem Fall Assange wollte ich mich seit Jahren nicht wirklich befassen. Was man so hörte, reimte sich zusammen zum Bild eines Egomanen, unsympathisch. Dass er vom russischen Geheimdienst gehackte Emails von Hillary Clinton bei Wikileaks ausstellte und sogar einen Algorithmus entwarf, der diese Mails nicht nach Relevanz, sondern Aufregungsfaktor präsentierte, roch fade. Denn die Mails waren mehr oder weniger unverfänglich, wurden dennoch von Donald Trump im Präsidentschaftswahlkampf ausgeschlachtet – im Grund betätigte sich Assange als Wahlhelfer dieses fiesen Typen, der nun im Weißen Haus tatsächlich üble Dinge anstellt.

Komische Ermittlungen in Schweden

Und dann war da noch der Vorwurf der Vergewaltigung. Er kam aus Schweden, das ist unserer Vorstellung eine Art Musterländle, und im kollektiven Gedächtnis blieb, dass Assange sich den Untersuchungen entzogen habe, dass er meine über dem Gesetz zu stehen.

Doch nun sieht alles anders aus. Man wollte, dass wir so über Assange denken. Damit man ihn fertigmachen kann. Wer ist “man”? Da sind wir wieder bei den Regierungen.

Licht ins Dunkel gebracht hat ein angesehener Anwalt und Diplomat aus der Schweiz, Niels Melzer. Er ist UN-Sonderberichterstatter für Folter und hat eine Menge Mosaiksteine zusammengefügt. Auch er wollte sich anfangs nicht mit diesem Fall befassen, von wegen Sympathie und so. Doch dann setzte er sich dran. Was er nun als Ergebnis vorstellte, lässt Verschwörungstheoretiker jubeln und am Rechtsstaat zweifeln. Es ist eine unglaubliche Geschichte.

Rapperin M.I.A. spricht auf einer Kundgebung gegen die Auslieferung Assanges (Bild: Reuters/Simon Dawson)
Rapperin M.I.A. spricht auf einer Kundgebung gegen die Auslieferung Assanges (Bild: Reuters/Simon Dawson)

Am 24. Februar wird in London erstmals in einem komischen Gerichtsverfahren verhandelt. Assange sitzt gerade im Gefängnis, wegen eines Verstoßes gegen Kautionsbestimmungen. Und die USA wollen seine Auslieferung – wegen Spionage. Allein dies ist ein Skandal. Denn Assange ist Australier, was schert ihn ein amerikanisches Gericht? Aber die US-Behörden stufen als Spionage ein, was man woanders Journalismus nennt: Weil Wikileaks Kriegsverbrechen und andere, weniger schlimme bis völlig harmlose Vertraulichkeiten veröffentlichte, will man Assange ans Leder. Wikileaks ist Anti-Geheimhaltung. Und die amerikanische Regierung will ungestört weiter illegale Operationen betreiben. Da stört einer wie Assange. Und daher wird er seit zehn Jahren in die Mangel genommen.

Vorwürfe, von denen das Opfer nichts wissen will

Diese Odyssee beginnt im Juli 2010. Wikileaks stellt das “Afghan War Diary” online, welches Kriegsverbrechen der USA dokumentiert. Ende August beginnen Ermittlungen der schwedischen Polizei gegen ihn. Aber was ist passiert?

Dem Magazin “Republik” gab Melzer ein ausführliches Interview: “Am 20. August 2010 betritt eine Frau namens S.W. in Begleitung einer zweiten Frau namens A.A. einen Polizeiposten in Stockholm. S.W. sagt, sie habe mit Julian Assange einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehabt. Allerdings ohne Kondom. Jetzt habe sie Angst, dass sie sich mit HIV infiziert haben könnte, und wolle wissen, ob sie Assange dazu verpflichten könne, einen HIV-Test zu machen. Sie sei in großer Sorge. Die Polizei schreibt ihre Aussage auf und informiert sofort die Staatsanwaltschaft. Noch bevor die Einvernahme überhaupt abgeschlossen werden kann, informiert man S.W. darüber, dass man Assange festnehmen werde wegen Verdachts auf Vergewaltigung. S.W. ist schockiert und weigert sich, die Befragung weiterzuführen. Noch aus der Polizeistation schreibt sie einer Freundin eine SMS und sagt, sie wolle Assange gar nicht beschuldigen, sondern wolle nur, dass er einen HIV-Test mache, aber die Polizei wolle ihn ganz offensichtlich ‘in die Finger kriegen’.”

Assange lebte fast sieben Jahre lang als Flüchtling in der ecuadorianischen Botschaft in London (Bild: Reuters/Peter Nicholls)
Assange lebte fast sieben Jahre lang als Flüchtling in der ecuadorianischen Botschaft in London (Bild: Reuters/Peter Nicholls)

Wenig später lanciert die Polizei die Vorwürfe an schwedische Boulevardmedien. Assange hört sie gar nicht erst an. Der erfährt von alldem aus der Zeitung. Es gibt auch Vorwürfe einer zweiten Frau: Man habe einvernehmlichen Sex gehabt, mit Kondom, aber Assange habe absichtlich während des Verkehrs das Kondom kaputtgemacht – was sie allerdings erst nachher bemerkt habe. Spuren am als Beweis hinterlegten Kondom gibt es keine.

Die zuständige Staatsanwältin erfährt von dem Spuk auch aus der Zeitung und verfügt innerhalb von vier Tagen die Einstellung. Keine Hinweise. Aus. Aber dann schaltet die Polizei einen Gang hoch. Der Vorgesetzte schreibt nach Angaben Melzers eine Mail an die vernehmende Polizistin, sie solle die Aussage von S.W. umschreiben – was geschieht. Die Ermittlungen werden wieder neu aufgenommen.

Assange will zu den Vorwürfen Stellung nehmen, doch mal passt es der Staatsanwaltschaft nicht, mal ist jemand krank. Dann will Assange zu einem Kongress nach Berlin und fragt die Behörden, ob er aus Schweden kurzfristig ausreisen dürfe. Das wird ihm erlaubt. Und dennoch wird am Tag seines Fluges ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt.

Regierungen wie Banditen

Zeitgleich erfährt Assange, dass die USA heimlich ein Spionageverfahren gegen ihn vorbereiten. Das wird 2010 noch abgestritten. Heute weiß man, dass Assange richtig lag. Er fliegt nach London weiter und gibt den schwedischen Behörden zu verstehen, dass er nach Schweden fahren und sich den Ermittlungen stellen wolle – aber unter der Bedingung, dass er nicht an die USA ausgeliefert wird. Da es sich um zwei unterschiedliche Vorwürfe handelt, ist dies völlig normal. Solche Garantien werden ständig gegeben. Doch Schweden gibt diese Garantie nicht. Bis heute nicht. Die USA hätten einen Auslieferungsantrag nicht gestellt, da brauche man auch keine Garantie aussprechen, heißt es. Es sind lauter Pontius Pilatuse, die in Stockholm auf unschuldig tun. Klar, dass Assange nicht nach Schweden fliegt und stattdessen in die Botschaft Ecuadors in London flieht, wo er neun Jahre bleiben wird.

Ungefähr 30 Mal hätten seine Anwälte den schwedischen Behörden angeboten, dass diese nach London kommen und ihn verhören. Oder dass es eine Videoschalte gibt. Auch das geschieht zwischen Großbritannien und Schweden häufig, aber ausgerechnet im Fall Assange meint Stockholm: Das geht nicht.

Eine Strategie wird sichtbar: Schweden geht es nicht um Aufklärung eines Vergewaltigungsvorwurfs, sondern dass der Fall in der Schwebe bleibt. Dass die Falle der US-Regierung irgendwann zuschnappt.

Julian Assange im Januar nach einem Gerichtstermin in London (Bild: Reuters/Simon Dawson)
Julian Assange im Januar nach einem Gerichtstermin in London (Bild: Reuters/Simon Dawson)

Im Jahr 2017 bekommt Ecuador eine neue Regierung. Die Beziehungen zu den USA verbessern sich, man winkt mit Hilfen – aber da gebe es noch dieses Problem in der Botschaft in London. Über Nacht wird Assange die zuvor erteilte ecuadorianische Staatsbürgerschaft aberkannt, und im April 2019 holt ihn die britische Polizei aus der Botschaft.

Wegen des Verstoßes gegen Kautionsbestimmungen erhält Assange 50 Wochen Haft – das ist äußerst ungewöhnlich, normalerweise werden Bußgelder fällig. Und er landet in einem Hochsicherheitstrakt, wird von Mithäftlingen isoliert – bis heute. In der Zwischenzeit hat die US-Regierung die Auslieferung beantragt; die Zeit dafür hatte sie von London ja erhalten.

Und darum geht es nun am 24. Februar. Es ist ein Skandal, der bestimmt bald von Netflix verfilmt werden wird. Natürlich haben die schwedischen Behörden mittlerweile das Verfahren gegen Assange eingestellt, man braucht es ja nicht mehr.

Und es gruselt, wie Regierungen hier Hand in Hand das Recht brechen. Nur, weil jemand ihnen auf die Finger schaute. Daher ist nur zu wünschen, dass wenigstens jetzt ein großer Aufschrei den Prozess in London begleitet. Er ist eh eine Farce. Und viele von uns waren viel zu passiv beim Verfolgen von Assanges Schicksal. Was Assange für uns alle verteidigt, ist die Demokratie. Die Pressefreiheit. Die Freiheit an sich.

Video: Prominente fordern Freilassung von Assange