Kommentar: Wie der Krieg Rassismus hochkriechen lässt

Die Reste eines zerbombten Wohnhauses in Zhytomyr, Ukraine (Bild: REUTERS/Viacheslav Ratynskyi)
Die Reste eines zerbombten Wohnhauses in Zhytomyr, Ukraine (Bild: REUTERS/Viacheslav Ratynskyi)

In Deutschland häufen sich die Diskriminierungen von Russen. Das ist nicht gegen den Kremlherrscher Putin gerichtet – sondern schlicht Rassismus.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Der Russe also. Er ist wieder da. Man hört es in diesen Tagen, dieses „die Russen sollen endlich mal“ oder „die Russen sind halt so“. Dabei ist doch klar: Einen Verbrecherlügner wie Wladimir Putin hat keine Bevölkerung verdient, der wäre auch auf Baltrum oder in Oslo eine Plage. Und so ist eine Vereinnahmung von „den“ Russen mit ihrem obersten Chef nur ein Vorwand, um den alten Rassismus hochkriechen zu lassen.

Russen werden in Deutschland angepöbelt, ihre Autos zerkratzt. Bäckereien benennen den russischen Zupfkuchen um. Ist dies etwa ein revolutionärer Akt? Oder sorgen sich die Zuckermeister um eine etwa ausbleibende Kundschaft? Es ist jämmerlich.

Russen leben in Deutschland wie alle anderen auch mit allen Rechten wie alle anderen auch. Sie prägen unsere Kultur seit vielen Jahrhunderten. Am russischen Zupfkuchen jedenfalls klebt nicht das Blut ukrainischer Zivilisten. Er bleibt: ein Kuchen. Und ein Mensch bleibt ein Mensch.

Woher wir kommen

Russen haben Deutschland von seinen deutschen Nazis befreit. Die Gedanken, die einem kommen, wenn man in Bergen-Belsen an den Massengräbern von russischen Kriegsgefangenen steht, sind unbeschreiblich. Allein bis zum Frühjahr 1942 starben 14.000 von ihnen an Hunger, Krankheit und Kälte; unter freiem Himmel mussten sie versuchen zu überleben; nein, halt: Einige hatten Erdhöhlen und Laubhütten.

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Aus dieser tiefen Sünde heraus hat sich eine deutsch-russische Freundschaft entwickelt. Natürlich ist der Kreml-Staat gerade zu ächten. Das Regime und all seine Nutznießer sind zu isolieren; letztendlich trägt eine Gesellschaft die Verantwortung für ihre politische Führung. Was nicht heißt, sie gleich in Sippenhaft zu nehmen.

Es ist Putins Krieg in der Ukraine. Die Desinformation in seinem Regime läuft perfekt. Das entschuldigt nichts. Aber für unsereins auf unseren warm gesessenen Stühlen lässt es sich leicht fordern, „die Russen“ sollten jetzt auch auf die Straße gehen und gegen die kriminellen Kriegsmachenschaften ihrer Regierung protestieren. Natürlich wäre das wichtig. Aber es wäre auch sehr mutig. Denn in Putins Diktatur werden Demonstranten flugs weggesperrt.

Was getan werden kann

In dieser Gemengelage macht es keinen Sinn, dass besorgte Musikmanager vor einem Boykott von russischen Künstlern warnen: Dann könnte man auch keinen Schostakowitsch mehr hören, heißt es; das ist Bullshit. Es ist Putins Krieg. Nicht der Russen. Und wenn ein Künstler sich nicht gegen den Krieg ausspricht, kann man ihn leichten Herzens boykottieren. Wenn der Dirigent Walerie Gergijew meint, auf eine Stellungnahme zu seinem Freund Putin verzichten zu können, dann können die Münchener Philharmoniker auf ihn verzichten. Ein Künstler ist nie unpolitisch. Wie ist etwa Gergijews Unterschrift unter einem Papier aus dem Jahr 2014 zur Annexion der ukrainischen Krim zu verstehen?

Und dann gibt es noch die 150-Prozentigen, die übers Ziel hinausschießen. Eine Universität in Mailand hatte einen Kurs über den großen Schriftsteller Fjodor Dostojewski abgesagt, angeblich, um Kontroversen zu vermeiden. „Es ist heute in Italien nicht nur falsch, ein lebender Russe zu sein, sondern auch ein toter Russe zu sein, der 1849 zum Tode verurteilt wurde, weil er etwas Verbotenes gelesen hatte“, kommentierte der ausgeladene Dozent. Wenig später revidierte die Unileitung ihre Entscheidung; zurück bleibt die Frage, wie man überhaupt auf eine solche Idee kommen konnte.

"Der Russe", unser altes rassistisches Feindbild, kriecht wieder hervor. Die deutsche Hochnäsigkeit, wie immer durch nichts gerechtfertigt, übersieht da einige Details. Zum Beispiel sprechen die derzeit von Rechten so gelobten Ukrainer wie die Russen eine slawische Sprache. Der slawenfeindliche Rassismus trifft sie beide.

Besinnen wir uns auf das Wesentliche: dass dieser Krieg rasch endet. Daher der Boykott, die Sanktionen. Mit dem Menschen hat das nichts zu tun.

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