Kommentar zu den Oscars 2022: Kontrollverlust, Cowboys, CODA

Die Oscars 2022 hatten es in sich. Das lag vor allem an Will Smith, der erst auf die Bühne lief und Chris Rock eine schallende Ohrfeige verpasste, bevor er unter Tränen seinen Oscar als bester Hauptdarsteller entgegennahm. Angesichts dessen droht ein wenig unterzugehen, dass der große Gewinner am Ende ein kleiner, wundervoller Film wurde, den zunächst wohl kaum einer auf der Rechnung hatte: "CODA".

Will Smith erhielt den Oscar als bester Hauptdarsteller in
Will Smith erhielt den Oscar als bester Hauptdarsteller in "King Richard". (Bild: Myung Chun / Los Angeles Times via Getty Images)

Ein Kommentar von Carlos Corbelle

Man traute zunächst seinen Augen kaum, als Will Smith plötzlich auf die Bühne ging und seinem Kollegen Chris Rock eine Ohrfeige verpasste. Der hatte zuvor eine Anspielung auf den Film "Die Akte Jane" gemacht, in dem einst Demi Moore einen kahl geschorenen Kopf hatte - um sich auf diese Weise über die Glatze von Smiths Ehefrau Jada Pinkett Smith lustig zu machen. Will Smith platzte daraufhin der Kragen, ohrfeigte Rock und setzte sich wieder auf seinen Platz.

Die anschließende Stimmung? Denkbar merkwürdig. Chris Rock? Beendete sichtbar irritiert seine Anmoderation. Und Will Smith? Der nahm später den ersten Oscar seiner Karriere als bester Hauptdarsteller entgegen - unter Tränen und mit einer Entschuldigung an die Academy. So merkwürdig verlief eine Oscar-Verleihung schon lange nicht mehr.

Der Prince wird zum King

Doch wie ist der Sieg Smiths aus filmischer Sicht zu bewerten? Ohrfeige und Tränen zum Trotz sollte es bei den Oscars ja vor allem um eine Sache gehen - und das ist die Filmkunst. Was das angeht, kann man nur sagen: eine verdiente Auszeichnung, mit der sich Smith gegen andere hochkarätige Schauspieler wie Benedict Cumberbatch in "The Power of the Dog", Andrew Garfield in "tick, tick...BOOM!", Javier Bardem in "Being the Ricardos" und Denzel Washington in "The Tragedy of Macbeth" durchsetzte.

In Reinaldo Marcus Greens "King Richard" bietet der einstige "Prinz von Bel-Air" eine eindringliche Performance, der man sich nicht entziehen kann. Das Biopic, in dem Smith den titelgebenden Vater der berühmten Tennis-Stars Venus und Serena Williams spielt, ist dagegen eine durchwachsene Angelegenheit. Zwar bietet das auch als bester Film nominierte Sport-Drama zahlreiche mitreißende und anrührende Momente, insgesamt fehlt es dem hier porträtierten Tennis-Übervater aber an Ecken und Kanten, er wirkt teilweise arg überhöht. Was im Grunde auch auf die Haltung der Erzählung zutrifft, die der Williams-Erfolgsgeschichte eine Art schicksalhafte Zwangsläufigkeit anzudichten versucht - ganz im Sinne des unbeirrbaren Vaters, der das Potential seiner Töchter früh erkennt.

"CODA" räumt ab - auch den Oscar als bester Film

Der große Gewinner des Abends war ein kleines Filmjuwel, das zunächst wohl kaum einer als Abräumer auf der Rechnung hatte und sich erst kurz vor der Oscar-Verleihung zunehmend zum Favoriten mauserte. Und tatsächlich: "CODA" erhielt insgesamt drei Oscars, darunter als bester Film des Jahres und für das beste adaptierte Drehbuch, geschrieben von Regisseurin Siân Heder. Ihr Coming-of-Age-Film erzählt die Geschichte der 17-jährigen Ruby Rossi (Emilia Jones), die das einzige hörende Mitglied ihrer ansonsten gehörlosen Familie ist und Gesang studieren will. Der Beginn eines Abnablungsprozesses, in deren Folge die vierköpfige Familie auf so unprätentiöse, bewegende und witzige Weise streitet und liebt, hadert und siegt, dass es eine wahre Freude ist.

Strahlende
Strahlende "CODA"-Gewinner: Eugenio Derbez, Sian Heder, Marlee Matlin, Troy Kotsur, Emilia Jones, Daniel Durant und Amy Forsyth. (Bild: Allen Schaben / Los Angeles Times via Getty Images)

Von allen 10 Nominierten in der Kategorie "Bester Film" zaubert "CODA" das breiteste Lächeln ins Gesicht und das liegt nicht zuletzt am wundervollen Ensemble, bei dem alle gehörlosen Figuren von Gehörlosen gespielt wurden und das mit Troy Kotsur als Familienvater einen würdigen Oscar-Gewinnner in der Kategorie "Bester Nebendarsteller" hervorgebracht hat.

Jane Campion: Oscar für die beste Regie

Damit ließ "CODA" den zuvor als Favoriten gehandelten Western "The Power of the Dog" hinter sich. Am Ende konnte der für zwölf Oscars nominierte Film von Jane Campion lediglich den Preis für die beste Regie gewinnen - den aber umso verdienter. Der unkonventionelle Western spielt im Montana des Jahres 1925 und porträtiert das komplexe Verhältnis zwischen den zwei Brüdern Phil (Benedict Cumberbatch) und George Burbank (Jesse Plemons), Georges Ehefrau Rose (Kirsten Dunst) und Rose' jugendlichen Sohn Peter (Kodi Smit-McPhee) aus erster Ehe. Da der betont potent und rüpelhaft auftretende Phil weder die neue Frau seines sanfteren Bruders noch den sensiblen, zerbrechlich wirkenden Jungen von Rose auf seiner Ranch erträgt, lässt er sie das mit seinem zermürbenden Verhalten immer wieder spüren.

Campions Film ist alles andere als ein gewöhnlicher Western - vielmehr ist er eine brillante Dekonstruktion des Genres und seiner toxischen Männlichkeitsmythen. Jegliche Klischees werden hier meisterlich umschifft. Duelle werden nicht mit dem Finger am Revolverabzug ausgetragen, sondern mit der Fingerfertigkeit am Banjo. Die Weite der Landschaften taugt nicht länger als affirmative Kulisse des im "Lonesome Cowboy" verkörperten Freiheitsversprechens, sondern kontrastiert vielmehr den verengten Blickwinkel des bornierten, innerlich aber tatsächlich sehr einsamen Protagonisten. Im vermeintlichen "Marlboro Man" Phil verdichtet sich all das, was eine falsch verstandene Männlichkeit anrichtet - eine Männlichkeit, die Sanftheit als Schwäche abtut, Homosexualität verteufelt und verdrängt und die eigene Virilität so lange zur Schau stellt, bis sie alles andere um sich herum in den Abgrund reißt.

Die bittere Aktualität dieser toxischen Männlichkeit zeigt sich nicht nur in der wütenden Reaktion des 77-jährigen Hollywood-Schauspielers Sam Elliott, der den Western im Podcast "WTF With Marc Maron" als "ein Stück Scheiße" bezeichnete, unter anderem weil ihm der Film zu schwul sei. Auch Männer in gefährlichen Machtpositionen führen uns schmerzlich vor Augen, dass sich das in "Power of the Dog" dekonstruierte Männlichkeitsbild des potenten Machers keineswegs auf harmlose Cowboy-Darsteller wie Elliott beschränkt. Sondern auch auf Leute wie Trump zutrifft, der nur allzu gern seinen Machismo zur Schau stellt. Oder Bolsonaro, dem Gewaltfantasien in den Sinn kommen, wenn er an Schwule denkt. Oder Putin, dem es nicht mehr ausreicht, sich selbst als kernigen Kerl zu inszenieren und Homosexuelle zu unterdrücken - nun führt er auch noch einen brutalen, furchtbaren Angriffskrieg gegen die Ukraine. Von dem Krieg konnte Jane Campion noch nichts wissen, als sie vor zwei Jahren "The Power of the Dog" drehte, vom verhängnisvollen Verhältnis zwischen toxischer Männlichkeit und Macht versteht der finstere Film aber eine Menge.

Regisseurin Jane Campion mit ihrem Oscar für
Regisseurin Jane Campion mit ihrem Oscar für "The Power of the Dog". (Bild: Allen Schaben / Los Angeles Times via Getty Images)

Der zeitgemäße Western von Jane Campion, die bereits 1994 für "Das Piano" Oscar-nominiert war und nun erst als dritte Frau überhaupt den Oscar für die beste Regie erhielt (nach Kathryn Bigelow 2010 für "The Hurt Locker" und Chloé Zhao 2021 für "Nomadland"), war im Vorhinein der Favorit auf die Regie-Auszeichung und hat sie auch zu Recht gewonnen.

Die meisten Oscars erhielt "Dune"

Rein zahlenmäßig gab's für "Dune" die meisten Oscars - stolze sechs Awards von insgesamt zehn Nominierungen. Denis Villeneuves Science-Fiction-Film war auch als bester Film im Rennen, konnte am Ende aber "nur" in den technischen Kategorien wie Kamera und visuelle Effekte gewinnen - was keine Überraschung ist. Schließlich ist die Verfilmung von Frank Herberts berühmter Romanreihe um den Wüstenplaneten Arrakis und den Kampf um dessen wertvollen Rohstoff Spice ein visuell beeindruckendes Kino-Ereignis, das Herberts spekulative Welt des Jahres 10191 auf grandiose Weise lebendig werden lässt.

Beste Hauptdarstellerin wurde Jessica Chastain für ihre Rolle der titelgebenden Fernsehpredigerin in "The Eyes of Tammy Faye", die sich damit gegen Kristen Stewart in "Spencer", Penélope Cruz in "Parallele Mütter", Olivia Colman in "Frau im Dunkeln" und Nicole Kidman in "Being the Ricardos" durchsetzte. Höchst Zeit, möchte man meinen, nachdem sie bereits zwei Mal leer ausging - was besonders bei ihrer Nominierung für "Zero Dark Thirty" vor fast zehn Jahren schade war. Den Preis als beste Nebendarstellerin erhielt Ariana DeBose für ihre Rolle in Steven Spielbergs "West Side Story" (auch als bester Film nominiert). Als resolute Anita trägt sie maßgeblich dazu bei, das handwerklich perfekte Musical über ein tragisches Liebespaar vor dem Hintergrund zweier rivalisierender Banden (angelehnt an Shakespeares "Romeo und Julia") zu einer gelungenen Neuverfilmung zu machen, die den Geist der einstigen 1961er-Verfilmung atmet und ihr zugleich neues Leben einhaucht.

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Oscar für Japan

Bester internationaler Film wurde erwartungsgemäß das japanische Drama "Drive My Car" von Ryūsuke Hamaguchi, der auch für die beste Regie nominiert und in der Kategorie "Bester Film" im Rennen war. Die Geschichte eines trauernden Theaterregisseurs, der eine unerwartete Vertraute in einer ihm zugewiesenen Fahrerin findet, lässt sich enorm viel Zeit beim Erzählen. Die nötige Geduld wird aber umso mehr mit Charakteren belohnt, deren Schmerz irgendwann so greifbar wird, dass der Film noch lange nach dem Abspann seine emotionale Wirkung entfaltet.

Einen Drehbuch-Oscar - für das beste Original-Drehbuch - gab es für "Belfast". Gemessen an den Erwartungen hat Kenneth Branaghs Film aber insgesamt eher bescheiden abgeschnitten. Das weitgehend in Schwarz-Weiß gehaltene Drama über eine Kindheit im nordirischen Belfast Ende der 1960er ging mit insgesamt sieben Nominierungen, darunter als bester Film, als einer der großen Favoriten ins Rennen - holte am Ende aber "nur" den einen Preis. Qualitativ kann sich der Film angesichts der Konkurrenz aber ohnehin glücklich schätzen: "Belfast" ist zweifelsohne sympathisch, kommt aber trotz aller Wehmut an entscheidenden Stelle ein wenig zu gefällig daher.

Wer ging leer aus bei den Oscars?

Völlig leer aus gingen die "Bester Film"-Kandidaten "Nightmare Alley" - eine atmosphärische, bitterböse Gaunergeschichte von Guillermo del Toro. "Licorice Pizza" - eine ungewöhnliche, lässige Boy-meets-Girl-Woman-Story von Paul Thomas Anderson. Und "Don't Look Up" - eine alles andere als subtile, dafür aber ziemlich witzige Katastrophenfilm-Polit-Medien-Satire von Adam McKay über das Ende der Welt. Mit Meryl Streep als völlig beknackte Präsidentin, eine Art weiblicher Donald Trump. Und Wissenschaftlern, denen keiner so recht zuhören will, obwohl unser gesamter Planet in ernsthafter Gefahr schwebt. Vielleicht doch keine Satire...

Die Oscar-Auszeichnungen 2022 im Überblick:

Bester Film: CODA

Beste Regie: Jane Campion für The Power of the Dog

Bester internationaler Film: Drive My Car (Japan)

Beste Hauptdarstellerin: Jessica Chastain für The Eyes of Tammy Faye

Bester Hauptdarsteller: Will Smith für King Richard

Bester Nebendarsteller: Troy Kotsur für CODA

Bester Nebendarstellerin: Ariana DeBose für West Side Story

Bestes Original-Drehbuch: Belfast

Bestes adaptiertes Drehbuch: CODA

Bester Animationsfilm: Encanto

Bester Dokumentarfilm: Summer of Soul (…Or, When the Revolution Could Not Be Televised)

Beste Kamera: Dune

Bester Schnitt: Dune

Beste visuelle Effekte: Dune

Bester Sound: Dune

Bestes Produktionsdesign: Dune

Beste Filmmusik: Dune

Bester Song: "No Time to Die" von Billie Eilish und Finneas O'Connell für James Bond 007: Keine Zeit zu sterben

Bestes Make-Up und Hairstyling: The Eyes of Tammy Faye

Bestes Kostüm-Design: Cruella

Bester Live-Action-Kurzfilm: The Long Goodbye

Bester animierter Kurzfilm: The Windshield Wiper

Bester Dokumentar-Kurzfilm: The Queen of Basketball

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