Kommentar zu den Oscars 2023: Die Gewinner enttäuschen - der beste Film geht leer aus
Die Oscar-Gewinner 2023 stehen fest. Der Science-Fiction-Film “Everything Everywhere All at Once” ist der erwartete Abräumer. Man könnte meinen: Toll, endlich gewinnt mal ein Sci-Fi-Film im großen Stil - doch leider sind die Entscheidungen der 95. Academy Awards eine große Enttäuschung. Und auch der Triumph des deutschen Antikriegs-Films “Im Westen nichts Neues” hinterlässt einen faden Beigeschmack.
Die gute Nachricht vorweg: Bei der Oscar-Verleihung 2023 wurde niemandem eine Ohrfeige verpasst. Die weniger gute: Die Auszeichnung für Daniel Kwans und Daniel Scheinerts “Everything Everywhere All at Once” als bester Film des Jahres ist eine herbe Enttäuschung. Wenig überraschend ist das bisweilen leicht hyperventilierende Sci-Fi-Comedy-Martial-Arts-Drama zum Abräumer des Abends avanciert und konnte mit sieben gewonnenen Awards von elf Nominierungen seiner Favoritenrolle gerecht werden - warum das Werk im Vorfeld so gehyped und nun sogar in zentralen Oscar-Kategorien wie “Bester Film” und “Beste Regie” prämiert wurde, bleibt aber ähnlich rätselhaft wie die Prämisse des Films.
"Everything Everywhere All at Once": Eine Enttäuschung
Worum es darin geht? Die aus China stammende, in den USA lebende Waschsalonbesitzerin Evelyn (wie immer klasse: Michelle Yeoh) muss eines Tages feststellen, dass endlos viele Paralleluniversen mit endlos vielen Versionen ihrer selbst existieren und mit einer weltengefährdenden Bedrohung fertig werden müssen, die scheinbar nur durch Evelyn abgewendet werden kann. Kompliziert? Ein wenig. Komplex? Nicht wirklich. Durch die mitunter eigentümlichen Eigenschaften der jeweiligen Multiverse-Realitäten ergeben sich zahlreiche skurrile Momente und Albernheiten, die aber nur selten wirklich witzig sind - auch wenn es durchaus schöne Einfälle wie den unerwartet rührenden Dialog zwischen zwei Steinen gibt.
Das größte Problem ist aber, dass Storys über Parallelwelten nur dann wirklich reizvoll sind, wenn sie uns ein zwingendes “Was wäre, wenn”-Szenario zeigen, den alternativen Entwurf eines Lebens, das zuvor so ausgiebig vor unseren Augen ausgebreitet wurde, dass man um die verpassten Chancen, die Fehler der Vergangenheit ebenso trauert wie die Figuren selbst. Und das haben die Daniels, trotz der wunderbaren Schauspielleistungen ihrer ebenfalls an diesem Abend Oscar-prämierten Stars Michelle Yeoh, Ke Huy Quan und Jamie Lee Curtis, leider nicht geschafft. Dafür hätten sie dem angedeuteten Mutter-Tochter-Konflikt und der grob skizzierten Ehe-Krise, die als emotionales Fundament der Story dienen sollen, einen ebenso großen Spielraum geben müssen wie all den originellen und weniger originellen Durchgeknalltheiten des Films. Schade - doch ich bin sicher, dass ich “Everything Everywhere All at Once” in irgendeinem Paralleluniversum besser finde.
"Im Westen nichts Neues": Da gewinnt Deutschland mal endlich wieder - und dann sowas
Neben “Everything Everywhere All at Once” gab es einen zweiten großen Gewinner-Film - und der stammt aus Deutschland. Neun mal war der Antikriegsfilm “Im Westen nichts Neues” nominiert - darunter als bester Film und bester internationaler Film (in der Kombi ein Novum in der Geschichte des deutschen Films) - und vier Awards wurden es am Ende. Für den besten Film überhaupt hat es nicht gereicht, für den besten internationalen dagegen schon. Ein Triumph in puncto Oscar-Score - aber ist Edward Bergers Neuverfilmung von Erich Maria Remarques gleichnamigem 1929er-Roman über den Ersten Weltkrieg damit ein Meisterwerk? Eher nicht.
Die Botschaft des Films ist unmissverständlich: Der Krieg ist das pure Grauen, Nationalismus der giftige Nährboden, der diesem Grauen den Weg ebnet. Gegen diese Haltung des Stoffes kann kein vernünftig denkender Mensch etwas haben. Was die Qualität des Films angeht, kommt es letztlich aber nicht auf die Botschaft, sondern vielmehr auf die künstlerische Umsetzung an - und bei “Im Westen nichts Neues” bleibt ein ungutes Gefühl, was weniger mit der Drastik der Umsetzung zu tun hat, um die tödliche, Leiber zerreißende Gewalt des Krieges sichtbar zu machen, als vielmehr mit einer Inszenierung, die immerzu auf Überwältigung setzt - bis auf die Verhandlungsszenen, die manchmal unangenehm steif wirken, beinahe so, als wären es Spielszenen eines Doku-Dramas. Ansonsten wird der Krieg, so brutal er auch dargestellt sein mag, mit dem krachenden Bombast des Blockbuster-Kinos in Szene gesetzt und damit einer gewissen Spektakel-Ästhetik unterworfen, die einen etwas schalen Beigeschmack hinterlässt.
"The Banshees of Inisherin": Der beste Film geht leer aus
Eine riesige Enttäuschung ist die völlige Awardlosigkeit für den neunfach-nominierten und letztlich völlig leer ausgegangenen “The Banshees of Inisherin”. Unter den zehn Nominierten in der Kategorie “Bester Film” ist das schwarzhumorige Drama von Regisseur und Drehbuchautor Martin McDonagh der stärkste Anwärter gewesen, ein vordergründig unspektakulärer Film, unter dessen Oberfläche es jedoch ordentlich brodelt. Die Prämisse von “The Banshees of Inisherin” ist so simpel wie beunruhigend: Von einem Tag auf den anderen erfährt Pádraic (Colin Farrell), dass sein bester Freund Colm (Brendan Gleeson) nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Einfach so. Ohne ersichtlichen Grund.
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Wie sich der daraus resultierende Streit dieser beiden einfachen Männer auf der (fiktiven) irischen Insel Inisherin zunehmend hochschaukelt (es ist 1923 und nicht allzu weit entfernt tobt der Irische Bürgerkrieg), lässt einen nicht mehr los. Farrell und Gleeson liefern sich ein brillant gespieltes Duell, das immer drängender um die Frage kreist, was dem Leben angesichts der uns umgebenden Absurditäten überhaupt einen Sinn verleiht und zur Tragödie von existentialistischer Tragweite avanciert.
Colin Farrell hätte für sein ungeheuer nuanciertes Spiel den Preis als bester Hauptdarsteller zweifellos verdient. Doch sowohl er, als auch der mitfavorisierte Austin Butler für seine minutiös einstudierte Interpretation der Rock-’n’-Roll-Legende Elvis Presley im Biopic “Elvis” mussten sich dem ebenfalls hoch gehandelten Brendan Fraser für seine Rolle eines stark übergewichtigen Mannes in Darren Aronofskys Vater-Tochter-Drama “The Whale” geschlagen geben. Wie auch den anderen an diesem Abend prämierten Schauspiel-Stars Michelle Yeoh, Ke Huy Quan und Jamie Lee Curtis gönnt man auch dem zwischenzeitlich schon abgeschriebenen Fraser seinen hart erarbeiteten Oscar.
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Und was ist mit den anderen Werken der Kategorie "Bester Film"?
Für Joseph Kosinskis “Top Gun: Maverick” gab’s einen Oscar für den besten Sound und das muss für das Tom-Cruise-Kampfpilot-Action-Sequel des 80er-Militärkitsches trotz sechs Nominierungen auch reichen. Der Preis als bester Film oder für das ebenfalls nominierte Drehbuch wär für die seichte Nostalgie-Parade - trotz der technisch hervorragend umgesetzten Szenen im Cockpit der Kampfflieger - nicht nachvollziehbar gewesen.
Die andere Fortsetzung, James Camerons “Avatar: The Way of Water”, bekam trotz der Nominierung als bester Film ebenfalls nur einen Award: für die visuellen Effekte. Klar verdient für ein Sequel, das die außerirdische Welt von Pandora erfreulich plastisch vor unseren Augen wieder zum Leben erweckt, um die Geschichte der wehrhaften Na'vi mit einer keinesfalls bahnbrechenden, aber durchaus emotional packenden Familiengeschichte fortzusetzen.
Und auch für Sarah Polleys “Women Talking” gab’s immerhin einen Oscar für ihr Drehbuch - und auch hier: verdient. Schließlich steht im Mittelpunkt des Films, wie der Titel schon andeutet, die Debatte - und damit auch die stark geschriebenen Dialoge einer Gruppe von Frauen, die angesichts der grauenhaften Verbrechen in ihrer Glaubensgemeinschaft eine überlebenswichtige Entscheidung treffen müssen.
Wer ging leer aus bei den Oscars?
Und zum Abschluss die völlig leer ausgegangenen “Bester Film”-Kandidaten im Schnelldurchlauf! Baz Luhrmanns “Elvis”: nervig überdrehtes Biopic trotz überzeugendem Hauptdarsteller. Steven Spielbergs “The Fabelmans”: autobiographisch geprägte Familiengeschichte Spielbergs, die zwischen allzu gefälligen und überzeugend schmerzhaften Momenten changiert - aber: mit einer Schlusspointe der cineastischen Extraklasse endet. Todd Fields “Tár”: komplexes Dirigentinnen-Porträt über Machtmissbrauch mit einer überragenden Cate Blanchett in der Titelrolle, die neben Michelle Yeoh als Favoritin galt. Und Ruben Östlunds “Triangle of Sadness”: Satire über kotzende Arschgeigen, die zu viel Geld haben, aber von einem Film aufs Korn genommen werden, dessen Erkenntnisgewinn über das Gefälle von Arm und Reich sich in Grenzen hält.
Die Oscar-Auszeichnungen 2023 im Überblick:
Bester Film: Everything Everywhere All at Once
Beste Regie: Daniel Kwan, Daniel Scheinert für Everything Everywhere All at Once
Bester internationaler Film: Im Westen nichts Neues (Deutschland)
Beste Hauptdarstellerin: Michelle Yeoh für Everything Everywhere All at Once
Bester Hauptdarsteller: Brendan Fraser für The Whale
Bester Nebendarsteller: Ke Huy Quan für Everything Everywhere All at Once
Bester Nebendarstellerin: Jamie Lee Curtis für Everything Everywhere All at Once
Bestes Original-Drehbuch: Everything Everywhere All at Once
Bestes adaptiertes Drehbuch: Women Talking
Bester Animationsfilm: Guillermo del Toro’s Pinocchio
Bester Dokumentarfilm: Navalny
Beste Kamera: Im Westen nichts Neues
Bester Schnitt: Everything Everywhere All at Once
Beste visuelle Effekte: Avatar: The Way of Water
Bester Sound: Top Gun: Maverick
Bestes Produktionsdesign: Im Westen nichts Neues
Beste Filmmusik: Im Westen nichts Neues
Bester Song: “Naatu Naatu” aus RRR
Bestes Make-Up und Hairstyling: The Whale
Bestes Kostüm-Design: Black Panther: Wakanda Forever
Bester Live-Action-Kurzfilm: An Irish Goodbye
Bester animierter Kurzfilm: The Boy, the Mole, the Fox, and the Horse
Bester Dokumentar-Kurzfilm: The Elephant Whisperers