Kurioser Bildungsweg - Das deutsche EM-Team ist voller Stars, die es eigentlich gar nicht geben darf

Niclas Füllkrug, David Raum und Chris Führich feiern gemeinsam ein Tor<span class="copyright">IMAGO/osnapix</span>
Niclas Füllkrug, David Raum und Chris Führich feiern gemeinsam ein TorIMAGO/osnapix

Die deutsche Nationalmannschaft gehört bislang zu den stärksten Teams der EM. Nun gilt es im Achtelfinale gegen Dänemark das zu bestätigen. In einem Gespräch mit David Raum wird mir das Erfolgsgeheimnis der DFB-Elf bewusst.

Ein Satz von David Raum bringt mich zum Nachdenken. Der Nationalspieler sitzt mit uns, einer Gruppe von Reportern, die über die Nationalelf berichten, bei einem Medientermin im Stuhlkreis. Er hatte uns lange warten lassen, die Trainingseinheit am Morgen zog sich. Jetzt macht er es sich in einem Sessel bequem, wir sitzen um ihn herum, besprechen diverse Themen.

Über die hohe Kunst der Flanke, über seine Hereingabe gegen die Schweiz, die Niclas Füllkrug in der letzten Spielminute zum Ausgleich verwertete, über seine Tattoos, seine Rolle als Ersatzmann von Maximilian Mittelstädt, die Unterschiede der Spielstile.

Raum antwortet ausführlich, stellt aufmerksam Gegenfragen, manövriert sich eloquent und gut gelaunt durch das rund halbstündige Gespräch. Am Ende blieb ein Halbsatz bei mir hängen, den er nur so lapidar in einer längeren Antwort dahinsagte, aber etwas bei mir auslöste: „Deniz Undav hat vor ein paar Jahren noch in Meppen gespielt.“

Über Meppen und Belgien in die Nationalmannschaft

Meppen, das stimmt: Über den TSV Halvese und einer Saison bei der zweiten Mannschaft von Eintracht Braunschweig ging es für den Stürmer ins Emsland zum SV Meppen. Dritte Liga.

Zwei Jahre spielte Undav dort, 23 Jahre war er da (schon) alt. Heute, nochmal vier Jahre später, ist Undav auf einmal Nationalspieler. In der vergangenen Saison, jetzt in der Bundesliga, schoss er beim VfB Stuttgart 18 Tore, gab zehn Vorlagen. So schnell kann es gehen.

Deniz Undav im EM-Spiel gegen Ungarn<span class="copyright">Getty Images</span>
Deniz Undav im EM-Spiel gegen UngarnGetty Images

Undavs Karriereweg ist ungewöhnlich. In der dritten Liga wurde er vom belgischen Erstligisten Union Saint-Gilloise entdeckt, vor dort ging es in die englische Premier League zu Brighton & Hove Albion. Dann die Leihe nach Stuttgart.

Zweiter Bildungsweg im deutschen Fußball

Der Werdegang von Undav ist für einen Nationalspieler höchst speziell. Aber in diesem Kader gibt es mehrere Spieler mit ähnlichen Entwicklungen.

David Raum erzählt weiter. „Auch Pascal Groß hat nach seiner Zeit in Ingolstadt noch den Umweg über England genommen und war hier lange nicht auf dem Radar. Gegen Chris Führich habe ich sogar noch in der zweiten Liga gespielt“, erinnert sich Raum und verdeutlicht mir, wie speziell dieses DFB-Team eigentlich ist.

Pascal Groß: Mit Ingolstadt auf- und wieder abgestiegen, dann der Wechsel nach Brighton. Dort unter dem Radar geblieben, mit 32 Jahren (!) dann sein Debüt im Nationalteam.

Chris Führich: Konnte sich weder beim 1. FC Köln noch bei Borussia Dortmund für die erste Mannschaft empfehlen. Eine Saison beim SC Paderborn in Liga zwei machte dann erst den VfB auf ihn aufmerksam. DFB-Debüt mit 25.

Robert Andrich: Durchlief zwar in der Jugend die U-Mannschaften des DFB, tingelte dann aber von Verein zu Verein. Als Wandervogel irgendwann bei Bayer Leverkusen gelandet, dort mit 29 Jahren Nationalspieler geworden.

Maximilian Mittelstädt: War ebenfalls früher mal U-Nationalspieler, hat aber bei Hertha BSC den nächsten Schritt verpasst. Erst nach seinem Wechsel nach Stuttgart aufgeblüht. DFB-Debüt mit 26.

Niclas Füllkrug: In der Jugend bei Werder Bremen ausgebildet. Von dort über Greuther Fürth, Nürnberg und Hannover nach sieben Jahren wieder bei Werder gelandet und richtig durchgestartet. Vor dem WM 2023 in Katar erstmals nominiert. Sein Debüt gab er mit fast 30.

Eine DFB-Karriere, die eigentlich nicht mehr so vorgesehen ist

„Man merkt einfach, wie groß die Wertschätzung und Dankbarkeit ist, hier dabei sein zu dürfen“, sagt Raum, der selbst gerade mal drei Erstliga-Einsätze mit der TSG Hoffenheim hatte, ehe er unter Hansi Flick im September 2021 das weiße Trikot mit dem Adler auf der Brust überstreifen durfte.

Viele mussten sich durch tiefe Täler quälen, an die Nationalmannschaft war nie zu denken. Sie sind durchs Raster gefallen.

Über Jahrzehnte wurde der deutsche Fußball professionalisiert, die Jugendarbeit perfektioniert. Die größten Talente des Landes sollen früh gefunden, gefiltert und gefördert werden, um eines Tages in der Bundesliga zu strahlen. Die Besten der Besten in der Nationalelf. Die Profivereine bezahlen für ihre Scoutingsysteme viel Geld.

David Raum und Niclas Füllkrug<span class="copyright">IMAGO/Ulmer/Teamfoto</span>
David Raum und Niclas FüllkrugIMAGO/Ulmer/Teamfoto

Damit die talentiertesten Kinder die bestmögliche Ausbildung genießen, wurden überall im Land sogenannte Nachwuchsleistungszentren (NLZ) gegründet. Ein sechssilbiger Begriff, der die Bürokratisierung des Fußballs versinnbildlicht.

Ein Karriereweg weit weg von diesen NLZ, sogar über Umwege hinein in die Nationalmannschaft, das ist nicht vorgesehen. Und trotzdem ist genau das noch immer möglich: Spieler wie Undav und Groß dürfen die deutsche Flagge bei einem Heim-Turnier vertreten. Unbezahlbar!

David Raum erklärt besondere Mischung im DFB-Team

„Die Mischung aus diesen Spielern und solchen, die schon immer Superstars waren wie Florian Wirtz, Jamal Musiala und Kai Havertz, die Mischung macht’s einfach aus", sagt David Raum. "Hinzu kommen total erfahrene Jungs, die in ihrer Karriere schon sehr viel erreicht haben. Die Zusammenstellung des Kaders ist einfach einzigartig. Wir haben einen tollen Spirit, sind jetzt gemeinsam hier und wollen etwas Großes schaffen.“

Ist genau das das Geheimnis dieser Mannschaft? Julian Nagelsmann verglich die Zusammensetzung einer Mannschaft zuletzt mit einer Schulklasse auf dem Pausenhof: „Da hast du deine fünf, sechs Freunde. Dann gibt es fünf, sechs, bei denen du sagst, die sind neutral und fünf, sechs, mit denen du jetzt keinen Kakao trinkst in der Pause. So ist es im Fußball auch.“

Ob das DFB-Team abends zusammen genüsslich am Kakao-Päckchen schlürft, ist bisher nicht überliefert. Doch wer diese Truppe verfolgt und beobachtet, der sieht einen eingeschworenen Haufen, eine Einheit.

Sehen wir diesen besonderen Geist auch im Achtelfinale in Dortmund gegen Dänemark? Vielleicht flankt ja wieder Raum, vielleicht köpft wieder Füllkrug. Vielleicht sind aber auch ein Musiala oder Wirtz zur Stelle. Egal, die Mischung macht's.

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