Martin Schulz – die schwatzhafte Sphinx der deutschen Politik

EU-Veteran Martin Schulz zieht es wieder in die deutsche Politik (Bild: dpa)
EU-Veteran Martin Schulz zieht es wieder in die deutsche Politik (Bild: dpa)


Der Präsident des Europaparlaments strebt in die Bundespolitik. Wer ist dieser Sozialdemokrat? Jedenfalls gelingt ihm das Kunststück, dass man ihn gleichzeitig über- und unterschätzt.

Eine Analyse von Jan Rübel

Martin Schulz ist ein Geschichtenerzähler. Wenn nichts mehr geht, alle nach einem langen Tag in den Seilen hängen, erzählt er noch eine Anekdote. Und noch eine, und noch eine. Schulz, 61, ist ein Dauerläufer unter den Sozialdemokraten. Lange nahm man ihn nicht wahr, das lag auch an seinem Arbeitsumfeld – das sind die EU und Brüssel, also eher weit weg vom deutschen Wahrnehmungshorizont.

Irgendwann handelte man Schulz für alle möglichen Ämter, das liegt auch an der überschaubaren Anzahl von Kandidaten in der SPD. Jedenfalls ist er derzeit als möglicher Außenminister im Gespräch, als Spitzenkandidat der NRW-SPD für den Bundestag – und vielleicht, wenn SPD-Parteichef Sigmar Gabriel nicht will, als Spitzenkandidat bei der Bundestagswahl im Herbst 2017.

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Was treibt also diesen Schulz an? Vielleicht gibt eine seiner Anekdoten Aufschluss. Sie handelt vom Bruder der Mutter, der hatte den Zweiten Weltkrieg überlebt, zuletzt an der Front in Russland. Dann erwischte ihn doch noch eine Mine, in Belgien, er hatte sich zur Räumung von Landminen gemeldet; die späte Rache des Krieges, die bis in den Frieden hinein reicht.

Das vielleicht wichtigste Motiv für Schulz in der Politik ist also das Projekt Europa. Sein Vater ein Polizist aus sozialdemokratischer Bergmannsfamilie, die Mutter aus konservativ-katholischer Familie – und beide Eltern vereint im Hass auf die Nazis und den ganzen Mist, den sie verzapft hatten. Die Grenzen waren in seiner Heimat bei Aachen nie weit weg; sie gen Belgien und Niederlande zu überschreiten ein Alltag. So lebt er Europa bis heute, legte sich mit allen Rechtspopulisten Europas an, als man hierzulande kaum ihre Namen kannte.

Reden kann er

Vieles hat Schulz sich früh erarbeitet, vor allem an Erfahrungen. Das Gymnasium brach er wegen schlechter Leistungen ab, eine Knieverletzung zerstörte den Traum vom Berufsfußballer, mit Anfang 20 verfiel er dem Alkohol. Und löste sich von dieser Sucht, seit 1980 lebt er abstinent. Mit 31 Bürgermeister in Würselen, der jüngste in NRW. Vielen weiteren Kampfabstimmungen stellte er sich.

Einstecken kann er. Manche halten ihn für großmäulig. Sieht er ein Mikro, fällt ihm immer etwas ein. Von sich überzeugt scheint er zu sein, aber es fällt auf, wie oft er seine eigene Bedeutung und Stellung herausstellt – als wollte er sich seiner selbst vergewissern oder letzte Zweifel bei seinem Gesprächspartner zerstreuen. Das klingt manchmal wenig souverän. Andererseits kann Schulz die Kumpelsprache, schraubt sich bei jedem auf Augenhöhe, kann zuhören.

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Man unterschätzt ihn, weil er hemdsärmelig wirkt und dennoch als Politiker einer echten Agenda folgt: der des Respekts, der Gerechtigkeit und Freiheit – also Europa. Man überschätzt ihn auch, weil er bisher vor allem gute Reden gehalten hat. Regieren aber ginge anders. Seine Exekutiverfahrungen halten sich in Grenzen. Sein Machtinstinkt bringt ihn immer weiter nach oben, aber in Ämtern mit echter Verantwortung wird Schulz sich umorientieren müssen. Er ist unvorhersehbar – die schwatzhafte Sphinx der deutschen Politik.

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