Mitten in Russland: ZDF-Reporterinnen filmten Gehirnwäsche-System

Eine Zehnjährige als "Verbrecherin", Patriotismus-Unterricht an Schulen und Soldaten, die "wie Tiere" behandelt werden: Die dreiteilige ZDF-Reihe "Geheim in Russland" gibt verstörende und so bislang nicht gesehene Einblicke in den russischen (Kriegs-)Alltag.

In der russischen Junarmija werden bereits Kinder an Waffen ausgebildet. (Bild: ZDF / Ksenia Bolchakova)
In der russischen Junarmija werden bereits Kinder an Waffen ausgebildet. (Bild: ZDF / Ksenia Bolchakova)

Kleine Kinder, die kaum größer sind als die Gewehre, die sie abfeuern sollen: Die Bilder, die die Dokumentation "Geheim in Russland" am Dienstagabend im ZDF zeigte (vorab war sie als Mini-Dreiteiler in der Mediathek zu sehen), sollten eigentlich nicht nach außen dringen - schon gar nicht in die "verfeindeten" westlichen Staaten, um es im Duktus russischer Kriegspropaganda auszudrücken.

Doch Ksenia Bolchakova und Veronika Dorman, zwei deutsche Journalistinnen russischer Herkunft, reisten Ende 2022 drei Wochen durch Russland und gingen unter dem Radar der russischen Behörden auf die Suche nach bislang kaum gezeigten Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine.

In der 45-minütigen Dokumentation, die im Rahmen der "Frontal"-Reihe entstand, bekommt das Publikum unter anderem Einblicke hinter die Kulissen der Junarmija, einer Armee von Nachwuchsrekruten, die Außenminister Sergei Schoigu 2016 ins Leben rief. "Unsere russischen Militärs erfüllen gerade ihre Pflicht gegenüber der Heimat", beschreibt Ausbilderin Olga Sachran ihre Mission. "Sie verteidigen die russische Welt. Wir bereiten die Kinder auf schwere Zeiten vor." Man müsse die westlichen Staaten "umformatieren", es brauche eine "Denazifizierung der Ukraine", sagt sie arglos und unverblümt vor der Kamera der ZDF-Reporterinnen. Russland werde den Westen "vernichten" - Sachran liegt voll auf Propagandalinie.

Russische Lehrerin wird wegen "Unterrichtssabotage" aus Schuldienst entfernt

Auch in die Schulen hat die Junarmija längst Einzug erhalten. 1.000 Kilometer entfernt von Moskau gelang es den Filmemacherinnen, in einem Gymnasium zu drehen. Beim wöchentlichen Fahnenappell marschieren Mitglieder der Paramilitärs zu den Klängen der Nationalhymne, flankiert von fein säuberlich aufgereihten Schülerinnen und Schülern. Längst wurden Schulstunden unter dem Titel "Gespräche über Wichtiges" eingeführt, in denen Kindern ungefiltert russische Propaganda eingebläut wird.

Wer aufmuckt, wird klein gehalten. Die Journalistinnen trafen die Lehrerin Tatja Tscherwenko. "Neunjährige Kinder werden darauf eingestimmt, dass es gar nicht so schlimm sei, für die Heimat zu sterben", berichtet sie. Per Beschwerdebrief wurde die Pädagogin wegen "Unterrichtssabotage" denunziert, erhielt einen Verweis, weil sie sich verweigerte, Patriotismus zu unterrichten. Ihr Verhalten sei einer Lehrerin "nicht würdig", warf ihr die Schuldirektorin in einem heimlich aufgezeichneten Gespräch an den Kopf. Für Tscherwenko ist ihr Job wenige Monate später Geschichte. Vor Gericht wird sie aus dem Schuldienst entfernt.

"Vergib mir, dass ich dich der Armee gab": Mutter trauert um getöteten Sohn

Swetlana Latiouk trauert um ihren Sohn, der von einem russischen Armeeoffizier getötet wurde. (Bild: ZDF / Ksenia Bolchakova)
Swetlana Latiouk trauert um ihren Sohn, der von einem russischen Armeeoffizier getötet wurde. (Bild: ZDF / Ksenia Bolchakova)

Es sind diese vermeintlich kleinen menschlichen Schicksale, die den ZDF-Beitrag so sehenswert machen. Sie gehen gleichermaßen ans Herz, wie sie schockieren. Da ist etwa Ruslan. Eigentlich hätte der 26-Jährige wegen einer Krebserkrankung gar nicht eingezogen werden dürfen, doch er wurde an die Front geschickt - und kam als nur einer von zwei Kameraden seines 114-köpfigen Regiments lebend zurück. "Ich muss immer an die Jungs denken, die dort geblieben sind", berichtet der Traumatisierte, der seit seinem Einsatz von Albträumen geplagt ist.

Nicht zurückkam Stanislav. Mit 19 Jahren wurde er 2019 eingezogen, kam in eine Kaserne 8.000 Kilometer weit weg von zu Hause. Einige Monate später erreichte seine Mutter Swetlana Latiouk die Meldung, ihr Sohn sei bei einer Schießübung ums Leben gekommen. Die Wahrheit sieht anders aus, und sie kommt nur ans Licht, weil Stanislavs Kameraden ihren verstorbenen Kumpanen nicht im Stich lassen. Offiziere ließen Stanislav demnach vor seinem Tod hungern und verprügelten ihn mehrfach. Später fand man Stanislav im Wald, aufgehängt an einem Baum - ein Mord, der als Selbstmord getarnt ist. An seinem Grab klagt Mutter Swetlana: "Vergib mir, dass ich dich der Armee gab."

Wie eine zehnjährige, russische Schülerin zur "Verbrecherin" erklärt wurde

Pawel Filatjew kämpfte für die russische Armee an der Front in der Ukraine, floh dann aber ins französische Exil. (Bild: Screenshot ZDF)
Pawel Filatjew kämpfte für die russische Armee an der Front in der Ukraine, floh dann aber ins französische Exil. (Bild: Screenshot ZDF)

Doch der Umgang mit Stanislav bei der Armee ist bei weitem kein Einzelfall, wie Deserteur Pawel Filatjew in "Geheim in Russland" bestätigt: "Man schlägt dich, man zwingt dich, Dinge zu tun, das ist völlig normal." Er und die anderen Soldaten seien "wie Tiere" behandelt worden: "Es war widerwärtig." In einer wöchentlich stattfindenden Politikausbildung sei ihnen Propaganda zuteilgeworden - Gehirnwäsche. Um nicht zum Kriegsverbrecher zu werden, floh Filatjew nach Paris, wo er nun im Exil lebt.

Als Verbrecherin wurde derweil auch Waria hingestellt - eine zehnjährige Schülerin in Moskau. Sie hatte ein Internet-Meme auf dem Handy, das den russischen Behörden eine nicht gewollte Nähe zur Ukraine herstellte. Obendrein malte das Mädchen ein Friedensbild, das Einigkeit im Ukraine-Krieg herbeisehnt. Sowohl das Mädchen als auch ihre Mutter Jelena - wegen "schlechter Ausübung elterlicher Pflichten" wurden von Polizei und Geheimdienst verhört. Als Folge gestand Waria ihrer Mutter, sie wolle weg aus Russland - man kann es verstehen.