Muster des Wahnsinns: Erschütternde Doku zum "Massaker von Butscha"

Die Russen haben sich längst zurückgezogen, doch noch immer werden um Butscha oder Zdvyzhivka Leichen gefunden. (Bild: ZDF / Tim Grucza )
Die Russen haben sich längst zurückgezogen, doch noch immer werden um Butscha oder Zdvyzhivka Leichen gefunden. (Bild: ZDF / Tim Grucza )

Die Bilder aus dem russischen Vorort schockierten die Welt: Butscha gilt längst als trauriges Symbol für russische Kriegsverbrechen in der Ukraine. Ein beklemmender Dokumentarfilm vollzieht nun die Gräueltaten nach und begibt sich auf die Spur der Verantwortlichen.

Vor der städtischen Leichenhalle im ukrainischen Butscha werden die Namen der identifizierten Toten verlesen. Tania Boikiv sucht schon drei Wochen nach ihrem Mann Kolia. Als der Tote antransportiert wird, springt Tania von der Bank auf und rennt zum Laster, aus dem der Leichensack entladen wird. "Russische Soldaten haben meinen Mann getötet", berichtet die Ukrainerin. "Sie haben in jedem Dorf Menschen umgebracht, einfach so, ohne Grund." Die Leiche wird in einen Sarg gelegt, dieser von zwei Männern in einen Sprinter verladen. Dann verabschiedet sich Tania von den Männern: "Danke Leute, ihr seid schon wie Verwandte für mich."

Kolia gehört zu den zahlreichen Zivilisten, die den Gräueltaten russischer Soldaten in der Ukraine zum Opfer fielen. Insbesondere der Kiewer Vorort Butscha wurde zum blutigen Symbol möglicher russischer Kriegsverbrechen, die Bilder der Leichen am Straßenrand gingen um die Welt. Der erschütternde Film "Das Massaker von Butscha - Russlands Kriegsverbrechen auf der Spur" (Mittwoch, 22. Februar, ab 23.15 Uhr, auf ZDFinfo, ab 22. Februar in der ZDFmediathek) von Thomas Jennings und Annie Wong dokumentiert das Ausmaß der brutalen Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung. Stück für Stück entsteht so das erschreckende Bild systematischer Muster.

In der 80-minütigen Dokumentation begibt sich die Journalistin Erika Kinetz mit ihrem Team auf die Suche nach den Verantwortlichen. In Butscha und den nahegelegenen Dörfern, aber unter anderem auch im Center for Information Resilience in London, wo etwa Truppenbewegungen nachvollzogen werden können, sammelt sie exklusive Beweise. So werden etwa mit dem Fotografen, der die Toten in Butscha fotografierte sowie den Aufnahmen von Überwachungskameras die Geschehnisse nachvollzogen. Über eine Befehlskette stellt das Team Verbindungen zu Russlands obersten Befehlshabern her. Hintergrundinformationen liefern zudem Interviews mit ukrainischen Politikern, Strafverfolgern und internationalen Experten zu Kriegsverbrechen.

Die letzte Ruhe finden zahlreiche zivile Opfer erst spät. Ihre Identifikation ist selbst für Angehörige nicht immer leicht. (Bild: Anastasia Vlasova / Getty Images)
Die letzte Ruhe finden zahlreiche zivile Opfer erst spät. Ihre Identifikation ist selbst für Angehörige nicht immer leicht. (Bild: Anastasia Vlasova / Getty Images)

Telefonat eines russischen Soldaten: "Versteckt das Gewehr vor mir! Ich drehe durch"

Dabei hangelt sich die Doku auch am Schicksal des getöteten Kolia und seiner hinterbliebenen Frau entlang: Von der Suche nach seinem Leichnam über die Autopsie bis zur Frage nach dem Warum. Zu Beginn scheint noch völlig unklar, weshalb es ausgerechnet den unbewaffneten Elektriker traf. "Sie nannten ihn einen Spitzel, einen Informanten für die Ukrainer", berichtet sein Freund Petro von dem Tag, als russische Soldaten Kolias Handy durchsuchten und das Bild einer Lagerhalle fanden - laut Petro Bilder seines Arbeitsplatzes. Sie stülpten ihm eine Tüte über den Kopf und nahmen ihn mit, später wird er exekutiert.

Die Soldaten waren auf der Suche nach Zivilisten, welche die ukrainischen Militärs mit Informationen zu Aufenthaltsort und Stärke russischer Truppen versorgen sollten. Die brutale Militärstrategie lautete offenbar, jede auch nur potenzielle Gefahr auszuschalten, Journalistin Kinetz spricht von "strategischer Gewalt". Dies geschah mit teils unmenschlicher Kälte: "Das Massaker von Butscha" mutet den Zuschauerinnen und Zuschauern durch die drastischen Bilder und Schilderungen der Gräuel in Interviews einiges zu. Allerdings handelt es sich hierbei um die einzige Möglichkeit, den Wahnsinn begreifbar zu machen.

Als ebenso aufschlussreich wie bis ins Mark erschütternd erweisen sich abgehörte Telefonate russischer Soldaten in die Heimat. Einer berichtet über einen möglichen Spitzel: "Einem 18-Jährigen schossen sie mit einem Maschinengewehr ins Bein. Dann schnitten sie ihm die Ohren ab." Er habe gestanden und sei dann erschossen worden. "Wir lassen keine Gefangenen am Leben", erklärt der russische Soldat. Auch der Satz "Versteckt das Gewehr vor mir! Ich drehe durch" fällt.

Der Kiewer Vorort Butscha steht symbolisch für die Gräuel russischer Soldaten im Ukraine-Krieg. (Bild: Anastasia Vlasova / Getty Images)
Der Kiewer Vorort Butscha steht symbolisch für die Gräuel russischer Soldaten im Ukraine-Krieg. (Bild: Anastasia Vlasova / Getty Images)

Ehemaliger UN-Chefankläger: "Putin bringt uns zurück ins Mittelalter"

Neben der Dokumentation des Massakers selbst, geht der Film auch der Frage nach, inwiefern die Täter zur Rechenschaft gezogen werden können. Im konkreten Fall von Erschießungen im Umfeld einer russischen Kommandozentrale ist Taras Semkiv von der Staatsanwaltschaft Butscha optimistisch: "Ich denke, unsere Chancen stehen recht gut. Wir haben eine Menge Beweise."

Doch wie ist es um die oberste Ebene, um Russlands Präsident Wladimir Putin, bestellt? Dass sich Russlands Machthaber nicht um einen vermeintlichen Konsens moderner Kriegsführung schert, wurde bereits deutlich, als er aufseiten Baschar al-Assads in den syrischen Bürgerkrieg eingriff. "Putin bringt uns zurück ins Mittelalter: Belagerungen, kein Verschonen der Bevölkerung", erklärt auch Dr. Stephen Rapp, der ehemalige US-Sonderbotschafter für Kriegsverbrechen. Diese Kriegsführung verstoße gegen die Grundregeln der Genfer Konvention. Seit etwa 160 Jahren sind sie in Kraft - laut Rapp "für nichts".

Der ehemalige UN-Chefankläger Rapp weiß um die Tücken der internationalen Justiz. "Es war klar, dass kein internationaler Strafgerichtshof eingesetzt würde", erklärt er zu Syrien. Denn Russland und China legten ihr Veto im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein. Rapps trauriges Fazit: Man kommt damit durch. Ob das auch für den Angriffskrieg in der Ukraine gilt, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Ukraine schlug im Sommer 2022 vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag einen Prozess auf Grundlage der Nürnberger Prinzipien vor. Russlands Angriff wäre demnach per se ein Verbrechen. Jedoch handelt es sich bei Russland nicht um einen Vertragsstaat.