Nach der Antisemitismus-Fernsehdoku: Die echten Fragen haben wir beiseitegelegt

Abgelegte Plakate der israelfeindlichen Demonstration zum “Al-Kuds-Tag” 2017 in Berlin (Bild: dpa)
Abgelegte Plakate der israelfeindlichen Demonstration zum “Al-Kuds-Tag” 2017 in Berlin (Bild: dpa)

Zuerst ging es hoch her – und nun tote Hose. Keiner redet mehr über den Film und Antisemitismus. Es wäre ja auch zu unangenehm.

Ein Kommentar von Jan Rübel

In den vergangenen drei Wochen ließ sich trefflich beobachten, wie man eine wichtige Debatte versenkt. Es gab da eine TV-Dokumentation, es ging um Antisemitismus in Deutschland und Europa und einen Streit, ob dieser stark agitatorisch angelegte Film im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt werden sollte oder nicht.

Dieser Film war voller Fehler und propagandistischer Ansätze, er verfolgte eine Agenda. Und gleichwohl setzte er wichtige Punkte, wies auf große Probleme in Deutschland hin: Als da wären antisemitische Stränge unter Linken, unter christlichen Helfern, unter Rechten und unter Muslimen. Antisemitismus ist so ein Zauberwort, das nur in Schwarz und Weiß teilt; oft vergessen wir dabei, dass diese gewaltvolle Verhalten gegenüber Juden, weil sie Juden sind, nicht nur zwei Schubladen kennt, sondern eher mit einem Spektrum vergleichbar ist und daher uns alle in Deutschland angeht. Der Film war wütend. Er zeigte zum Beispiel starke Bilder von Juden in Frankreich, die von einem Mob verprügelt wurden – da ist es doch egal, ob diese Juden nun selbst zu einer rassistischen Gruppe gehörten oder nicht; als wäre Rassismus ein christliches oder muslimisches Privileg.

Ich dachte vor drei Wochen, man würde über all das reden. Dass dieser in großen Teilen schlecht gemachte Film dennoch eine Wucht in sich trägt, mit deren Hilfe wir über den Antisemitismus reden, der eben nicht nur bei Randgruppen wie Neonazis oder Salafisten zu finden ist, sondern vor unserer Haustür. Aber diese drei Wochen haben mich gelehrt, dass man den eigenen Türeingang lieber sauber hält. Es kam ein medialer Besen und räumte auf mit diesen unangenehmen Fragen. Wir haben eine Chance verspielt.

Onkel Norbert plaudert aus dem Nähkästchen

Heute redet niemand mehr über den Film und die Fragen, die er aufwirft. Dies gelang dadurch, indem in all den Diskussionen, in den Talkshows fast alles sich darum drehte, Fehler des Films zu offenbaren, nach dem Motto: Wenn ich dieser Doku ihre Mängel vorhalte, gehe ich der Frage nach meinem eigenen Antisemitismus erfolgreich aus dem Weg. Wie hysterisch ist das denn?

Den Höhe- und Endpunkt dieser verpatzten Debatte setzte der TV-Talk von Sandra Maischberger vom 22. Juni. Es ging schon unsanft los, mit einem Hintergrundbild und einer anbrennenden Israelfahne. Rauch lag in der Luft. Konkrete Symbolik. Da überraschte nicht, dass das Wort „Israelkritik“ unwidersprochen die Runde machte, als wäre es normal, wenn ich sagen würde: Ich bin ein Dänemarkkritiker. Man würde mich schräg anschauen und in mir einen Dachschaden vermuten, vielleicht freundlich die Frage stellen, ob es im vergangenen Urlaub zu viele Mücken gab, oder eine fade Hotdog-Sauce. Wie kann ich ein Land an sich anders kritisieren, als an ihm an sich zu rütteln?

Kommentar: News vom entrückten Peter

Genauso ging es weiter, indem Jörg Schönenborn als WDR-Fernsehdirektor auf die Frage antwortete, ob man für die Produktion solch eines Films eine „projüdische“ Einstellung haben müsse, dass man „pro-menschlich“ sein müsse. Aha. Warum ging ihm ersteres nicht über die Lippen? Ich dachte immer, pro-jüdisch ist per se pro-menschlich, es geht ja um eine Religion und um Leute, die sich darunter versammeln – was soll man dagegen hegen?

Langsam merkte ich, dass zu viele Fragen die Fernsehabendlaune verderben, aber Norbert Blüm gelang es, die Stimmung in den Keller zu treiben. Der langjährige Bundessozialminister von der CDU sah im Film das „Prinzip der Rache“, machte also das ganz große Fass auf, sah wohl in den Filmautoren Vertreter eines archaischen Denkmusters aus irgendwo hinter den sieben Bergen. Er verwechselte Jahreszahlen und Ereignisse, erzählte von den – wahren – Demütigungen von Palästinensern durch Israelis um folglich, den Onkel mimend, an ein Erlebnis zu erinnern, in dem er einen israelischen Soldaten fragte: „Schämst du dich nicht?“ Klar schämte er sich, wie sonst sollte er wohl den Onkel wieder loswerden – und überhaupt verdeutlichte Blüms paternalistische Anekdote, wie er über Juden denkt. Vorhang auf: „Wenn ich Israel und israelische Politik kritisiere, bin ich kein Antisemit. Und ich bin kein Antisemit, wenn ich den Finanzkapitalismus kritisiere.“ Nun, lieber Herr Blüm, abgesehen davon, dass niemand Sie vorher fragte, wie Sie es mit den Einstellungen zu israelischer Politik halten und die Frage eigentlich sich darum drehte, was bei uns falsch läuft: Wenn es Ihnen gelingt „Israel kritisieren“ und „Finanzkapitalismus kritisieren“ in einem Atemzug zu servieren, liegt ein Klassiker des Antisemitismus gleich mit auf dem Tablett.

Natürlich faselte Blüm, der mit seinen 81 Jahren mir alles andere als gebeutelt vorkommt, von der „Keule“, dass Auschwitz „eines unserer größten Verbrechen“ gewesen sei (wer spielt denn mit Auschwitz noch so alles in derselben Liga?) und er erlebt habe, wie „unsere Nachbarin, Frau Lang, abgeholt wurde“. Daraus leitete Blüm ab, an einer Welt arbeiten zu wollen, in der niemand gequält wird, „und das gilt dann auch für Israel“. Natürlich gilt das für Israel wie für alle anderen 192 Staaten dieses Planeten, aber ich finde es imposant, wie schnell Blüm von Frau Lang zu Israel kam.

Weit, weit weg mit diesen Fragen

Niemand in der Sendung widersprach übrigens Blüm, niemand senkte seinen erhobenen Zeigefinger, mit dem er wedelte wie ein Dirigent beim Radetzkymarsch. Maischberger fragte die anwesenden Juden, „Erleben Sie diesen alltäglichen Antisemitismus“? Ähm, also DIESEN meinte sie. Sie hätte auch einen Gemüsehändler fragen können, ob er Gemüse führt, aber sei’s drum. Die Sendung plätscherte dahin, und bei Minute 58 von 75 meinte der geladene Gast Ahmad Mansour, „es wäre schade, wenn wir nicht über die Zustände in Deutschland reden“. Taten wir dann doch nicht, bis heute.

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Am vergangenen Mittwoch war ich bei einer Veranstaltung des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment der ZWST – das ist die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Man hatte zum „Debattencheck“ geladen – und die Bilanz war ernüchternd. „Wir sind wirklich nicht hysterisch, aber da war was, zum ersten Mal seit 16 Jahren in Deutschland war ich geschockt“, sagte Moderatorin Marina Chernivsky. Und die freie Journalistin Mirna Funk: „Die Schwächen dieses Films führten mitunter dazu, dass die Debatte stoppte. Aber es gibt eine Kontinuität, dass Debatten über Antisemitismus so verlaufen.“ Die Medienwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg merkte an: „Die Exklusionsbemühungen greifen immer wieder.“ Wie könnten Juden differenziert reden, Israel kritisieren, fragte sie, wenn Debatten so verlaufen? Und die Bloggerin Juna Grossmann resümierte schließlich: „Was seit 1000 Jahren andauert, ist nicht 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überwunden. Damit muss man leben.“

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