Neuer Blick auf die Anfänge von "Aktenzeichen XY... ungelöst"

Er lehrte Deutschland Ängste, von denen keiner wusste, dass man sie haben musste. Eduard Zimmermann brachte mit "Aktenzeichen XY... ungelöst" echten Raub, Mord und Totschlag in die beschaulichen deutschen Wohnzimmer. Doku-Regisseurin Regina Schilling geht in die Beweis-Aufnahme und richtet einen kritischen Blick auf diese Ära.

Erst ab 1974 wurde
Erst ab 1974 wurde "Aktenzeichen XY... ungelöst" in Farbe ausgestrahlt. Und auch die Waffen in den nachgestellten Kriminalfällen wurden moderner. (Bild: ZDF/Renate Schäfer)

Am 20. Oktober 1967 ging "Aktenzeichen XY... ungelöst" um 20 Uhr auf Sendung. Erfinder, Produzent und Moderator Eduard Zimmermann sagte bei seiner Premiere: "Den Bildschirm zur Verbrechensbekämpfung einzusetzen, das ist das Ziel der neuen Sendung." Die unter anderem mit dem Grimmepreis ausgezeichnete Regisseurin Regina Schilling wirft nun einen kritischen Blick auf jene Ära. Sie lässt in der sehenswerten Doku "Diese Sendung ist kein Spiel - Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann" (Donnerstag, 10. August, ab 10 Uhr in der ZDF-Mediathek und um 23 Uhr im ZDF) ihre Sprecherin Martina Schrader sagen: "Die Zuschauer ahnen (an diesem Abend) nicht, dass sie künftig schlechter schlafen werden."

Eduard Zimmermann (1929 - 2009) war der erste Fernsehmann, der echte Kripo-Fälle in die Wohnstuben brachte. Seine Sendung gilt als erste "True Crime"-TV-Serie der Welt. Und war eine der erfolgreichsten. Bis zu 25 Millionen schauten zu, wenn Zimmermann "ermittelte". Noch heute ist die ZDF-Sendung, inzwischen seit vielen Jahren moderiert von Rudi Cerne, ein Erfolgsformat.

In den späten 60er-Jahren war der Nährboden ideal: Die gemütlichen und nach dem Wirtschaftswunder verwöhnten Deutschen liebten Krimis. Die Francis-Durbridge-Verfilmungen waren "Straßenfeger", im Kino knatterte von Millionen verfolgt ein Maschinengewehr die Buchstaben "Edgar Wallace" in Bluttropfenform auf die Leinwand. Da sorgte immerhin noch Eddi Arent oft für Spaß. Aber mit Zimmermann hörte der Spaß auf. Denn gleichzeitig, so mahnte der bald zu "Ganoven-Ede" Benannte, "legt die Kriminalitätsrate fünfmal so schnell zu wie die deutsche Bevölkerung". Solcherlei verfehlte seine Wirkung nicht.

Eduard Zimmermann war mehr als Moderator. Er erfand
Eduard Zimmermann war mehr als Moderator. Er erfand "Aktenzeichen XY... ungelöst", und er produzierte die Sendungen mit seiner eigens gegründeten Firma. (Bild: ZDF/Renate Schäfer)

Eduard Zimmermann moderierte 300 Sendungen von "Aktenzeichen XY... ungelöst"

Die Sprecherin sagt im Film das, was Johannes B. Kerner Zimmermann und dessen Tochter Sabine, die das XY-Erbe nach der 300. Ede-Show im Oktober 1997 vorläufig übernahm, einst gestand: "Ich habe mich immer gefürchtet." Zimmermann verneinte in dem für die Doku herangezogenen Interview, er habe Angst schüren wollen. Andererseits: "Angst hat ja eine pädagogische Wirkung: Man wird vorsichtig." Filmemacherin Schilling scheint anderer Ansicht zu sein. Sie stellt die Frage: Wollte Zimmermann wirklich nur Verbrechen aufklären? Oder spielte er vielmehr bewusst mit den Ängsten der Zuschauer, schürte er eher Angst und Paranoia, säte er Misstrauen und förderte Denunziantentum? Kurzum: "Brauchte Zimmermann die Angst?"

Nach 90 Minuten, die nach hinten raus immer beklemmender wirken, steht fest: Weder Schilling noch Schrader müssen sich vorwerfen lassen, Fans von Zimmermann zu sein, jenen Mann, den Ulrike Meinhof (vor ihrer Radikalisierung) despektierlich "Fernseh-Sheriff" nannte und des "Massenbetrugs am Bürger" bezichtigte. Sie transportieren weniger das Bild des "Kämpfers wider das Verbrechen", als das des erzkonservativen Wahrers veralterter Traditionen und des apokalyptischen Mahners. Nicht nur vor Verbrechern, sondern auch vor allem Neuen. Erstarkte Frauen? Die Grünen? Atomkraftgegner? Sie alle schienen, so vermittelt die Doku, Zimmermann ein Gräuel.

Eduard Zimmermann verbüßte selbst eine Haftstrafe

Eduard Zimmermann moderierte 300 Sendungen von
Eduard Zimmermann moderierte 300 Sendungen von "Aktenzeichen XY... ungelöst". Die Doku "Diese Sendung ist kein Spiel - Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann" (ZDF) beschäftigt sich kritisch mit der Serie und ihrem Moderator. (Bild: ZDF/Renate Schäfer)

Es gibt einen kurzen Sidestep ins Leben des "TV-Fahnders", der in seiner Biografie gestand: "Es haftete stets etwas Illegales an mir." Zu Recht übrigens. Nach unsteter Kindheit - der Vater, ein Stammkunde seiner kellnernden Mutter, kümmerte sich nie - schlug er sich nach dem Krieg mit Gelegenheitsarbeiten und auch Diebstählen durch. Das führte zu einem Kurzbesuch in der JVA Fuhlsbüttel. Länger saß er ihn Bautzen. Dort sollte er 1950 für 25 Jahre eingeknastet werden, weil ihn das russische Militärgericht in der SBZ wegen Spionage verurteilte. Im Rahmen einer Amnestie kam er nach vier Jahren frei und bot seine Geschichte im Westen Boulevardblättern an. Dieser erste Kontakt zum Journalismus führte ihn, so heißt es in der Doku, nach Mainz, zum 1963 gegründeten ZDF.

Die Doku reißt etliche der insgesamt 4.977 Fälle an, die "Aktenzeichen XY" in 588 Sendungen vorstellte - 1.953, also 39,2 Prozent konnten aufgeklärt werden. Aber es geht mehr um "Zimmermann im Wandel der Zeiten". Und die Zeiten waren bei Sendestart eigentlich schön: Die Welt der meisten Deutschen war ja in Ordnung: Vater stand seinen Mann im Beruf, Mutter toll aufgehoben am Herd, dazwischen der Kinder gern mehrköpfiger Schar. Aber diese gutbürgerliche Ordnung geriet bald aus den Fugen. Was "Aktenzeichen XY" auch zu einer Begleitsendung des gesellschaftlichen Umbruchs machte.

Kritischer Blick auf das Frauenbild

Studentenrevolte (1967), Regierungsübernahme durch die SPD (1969), die schwappende Sex-Welle (ab 1970), Debatte um den Abtreibungsparagrafen 218 (1971), der deutsche Herbst mit den RAF-Gewalttaten (1977), in den 80ern Demos gegen NATO-Aufrüstung, Startbahnen und Atomkraft, die Gründung der Grünen... Und vor allem der Freiheitsdrang der Jugend - und dann dieser furchtbare Feminismus. Das alles war, so wird es hier erzählt, nicht nach Eduard Zimmermanns Wohlgefallen. Und das hört man auch in seiner Moderatorin von damals.

Insbesondere Zimmermanns Frauenbild wird kritisch hinterfragt. Nur war er eben auch ein Mann seiner Zeit. Jedenfalls war er nicht der einzige, der in den nachgestellten Kriminalfällen das Frauenklischee "KKK" (Kinder, Küche, Kabelfernsehen) der damaligen Zeit bediente. Gerade feiert "Monaco Franze" 40-Jahre-Jubiläum. Da ist das Frauenbild, auch wenn's eine Komödie ist, nun wahrlich auch nicht fortschrittlich. Und noch ein bisschen früher lief in der ARD, die Zimmermann 1970 als "Gangsterschreck" bezeichnete, "Der 7. Sinn". Der attestierte Frauen unter anderem Probleme mit dem Sicherheitsgurt ("Ihr Busen ist im Weg") oder sprach ihnen die Fahrtüchtigkeit gleich total ab - vor Millionenpublikum und absolut ernstgemeint.

In jeder Sendung wurden Indizien und Beweismittel präsentiert. Sie reichten vom Puffreisriegel über Waffen, Manschettenknöpfe, Kleider und Perücken (Foto) bis hin zu Milchtüten oder einem Handfeger. (Bild: ZDF/Renate Schäfer)
In jeder Sendung wurden Indizien und Beweismittel präsentiert. Sie reichten vom Puffreisriegel über Waffen, Manschettenknöpfe, Kleider und Perücken (Foto) bis hin zu Milchtüten oder einem Handfeger. (Bild: ZDF/Renate Schäfer)

Das "Gespenst des Feminismus" erschreckte auch Eduard Zimmermann

Zimmermann trat gerne als nostradamaesker Mahner auf. Die Teufel, die er in seinen Moderationen an die Wand malte, waren das Trampen ("Ich habe ein ungutes Gefühl, wenn ich die jungen Leute an Autobahnauffahrten sehen stehe"), Drogen (in einem einzigen Fall ging es gar nicht um Tätersuche, sondern um ein abschreckendes Beispiel: Das Opfer war der süchtige Siegfried, der sich tot fixte) und Frauen, die sich aus der "traditionellen" Rolle befreien wollten. Damals mochte all das seine Wirkung haben, aber wie ist es aus der heutigen Perspektive? - Da dräut dem Zuseher eher das ungute Gefühl, dass Zimmermann bei vielen Mordfällen an Frauen den Frauen eine "Mitschuld" zuschanzte. Zimmermann, live im TV 1970: "Frauen, die ihr Leben in Kneipen oder mit mehr oder weniger zufälligen Männerbekanntschaften verbringen, leben gefährlich."

Ja, Zimmermann, der von 1964 bis 1997 in insgesamt 161 Sendungen auch die von ihm initiierte Reihe "Vorsicht Falle! - Nepper, Schlepper, Bauernfänger" moderierte, machte die Menschen gewiss vorsichtiger, und das kann gar nicht das Schlechteste sein. Aber vermutlich pflanzte XY den Deutschen auch Ängste ein. Steig nicht zu Fremden ins Auto! Trampen ist riskant (was eine Studie widerlegte)! So decken sich, wie es in dem Beitrag heißt, vielleicht einige "blinde Flecken Zimmermanns mit unseren eigenen". Aber die These, wonach die Faszination der Bürger an der Verbrecherhatz via TV neben der "Lust auf Angst" und den Belohnungen vielleicht darauf gründete, dass sich die Menschen nach dem verlorenen Krieg selbst als Opfer sahen, die erscheint schon ziemlich gewagt.

Die Doku "Diese Sendung ist kein Spiel - Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann" trägt ihren Namen zu Recht. Sie ist als kulturhistorischer Exkurs hochinteressant. Aber sie wird gegen Ende auch ein wenig unheimlich. Man fragt sich: Was mag wohl "Ganoven-Ede" der Frau Schilling oder der Frau Schrader angetan haben? Schlecht geschlafen haben wir damals doch alle nach XY. Und trotzdem dabei auch einiges gelernt.

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