NRW-Ministerpräsident Laschet will Corona-Ampel als Blaupause für ganz Deutschland

CDU-Vize Armin Laschet will die Pandemie-Risiken für die Bürger verständlicher darstellen. Es dürfe nicht nur auf Infektionszahlen geschaut werden.

„Mit Corona leben lernen bedeutet deshalb in erster Linie, alle Entwicklungen genau im Blick zu haben. Dabei dürfen wir nicht nur auf die reinen Infektionszahlen schauen“, sagte der NRW-Ministerpräsident. Foto: dpa
„Mit Corona leben lernen bedeutet deshalb in erster Linie, alle Entwicklungen genau im Blick zu haben. Dabei dürfen wir nicht nur auf die reinen Infektionszahlen schauen“, sagte der NRW-Ministerpräsident. Foto: dpa

In der Pandemie starrt Deutschland auf die steigenden Infektionszahlen. Das Robert Koch-Institut (RKI) hat zum vierten Mal mehr als 2000 bestätigte Neuinfektionen mit dem Coronavirus binnen eines Tages gemeldet. Die Zahl der Patienten auf Intensivstationen ist in Deutschland aber weiterhin niedrig, ebenso wie die Zahl der Todesfälle.

Vor der nächsten Videokonferenz von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Länderchefs am kommenden Dienstag prescht Nordrhein-Westfalen nun vor: Das bevölkerungsreichste Bundesland strebt eine differenziertere Sicht bei der Risikobewertung an, die neben den Neuinfektionen auch andere Richtwerte stärker einbezieht.

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) stellte sich auf Anfrage des Handelsblatts hinter einen Entwurf seines Corona-Expertenrats, der sich für die Einführung eines „Ampelsystems“ ausspricht. Ob die Gefährdungslage von Grün auf Gelb oder Rot springt, hängt dabei vom Zusammenspiel mehrerer epidemiologisch relevanter Kennzahlen ab.

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„Die Pandemie ist komplex und dynamisch. Das erfordert schnelle, aber auch zielgerichtete Reaktionen“, sagte Laschet. „Mit Corona leben lernen bedeutet deshalb in erster Linie, alle Entwicklungen genau im Blick zu haben. Dabei dürfen wir nicht nur auf die reinen Infektionszahlen schauen.“

Laschet sieht die Corona-Ampel als Modell für ganz Deutschland, um die Infektionszahlen in den kälteren Jahreszeiten Herbst und Winter besser einordnen zu können.

„Wir brauchen ein standardisiertes Corona-Monitoring, das die Pandemieentwicklung kommunenscharf abbildet“, sagte er dem Handelsblatt. „Ein solcher Corona-TÜV kann der Politik helfen, die Belastungen für unser Bildungssystem und unsere Wirtschaft zu minimieren.“ Gleichzeitig mache es das Handeln der Politik in der Coronakrise für die Bürger „verständlich und nachvollziehbar“.

Einheitliches Warnsystem

Nach Informationen des Handelsblatts aus Regierungskreisen gibt es im Bundesinnenministerium Gedankenspiele, eine bundesweite Ampel zur Risikobewertung in der Pandemie einzuführen. Das einheitliche Warnsystem würde in den verschiedenen Stufen unterschiedliche Maßnahmen vorsehen.

Diese könnten unter anderem öffentliche Veranstaltungen, private Feiern mit einer bestimmten Personenanzahl, Kontaktbestimmungen im öffentlichen und privaten Bereich sowie am Arbeitsplatz betreffen.

Im Kanzleramt hält man dagegen die 50er-Regel für ausreichend, also Einschränkungen, wenn in einer größeren zusammenhängenden Region binnen sieben Tagen mehr als 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner auftreten. Das sei ja auch bereits eine Ampel, wird dort argumentiert. Allerdings nur mit den Farben Grün und Rot.

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Laschet sagte, dass neben den Infektionszahlen auch die Kapazität der Krankenhäuser und die Zahl der intensivmedizinisch behandelten und beatmeten Covid-19-Patienten „wichtige Indikatoren“ seien. „Gleiches gilt für den Anteil zurückverfolgbarer Infektionen, die Anzahl der Tests und den Anteil positiver Testergebnisse.“

Der Ministerpräsident hatte im Frühjahr einen Corona-Expertenrat einberufen. In dem Gremium sitzen Vertreter aus Medizin, Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Philosophie, Psychologie, Soziologie und Sozialarbeit. Ihre Aufgabe: „Transparente Kriterien und Strategien für die Rückkehr ins soziale und öffentliche Leben entwickeln.“

In seiner aktuellen Stellungnahme geht der Expertenrat ausführlich auf die Bekämpfung der Pandemie im Herbst und Winter ein. Ein deutlicher Anstieg der Infektionszahlen sei „wahrscheinlich“ und müsse ernst genommen werden. Allerdings: „Vor dem Hintergrund der inzwischen gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen aus den letzten Monaten plädieren wir für eine differenziertere Sichtweise, als sie noch zu Beginn der Pandemie vorherrschte“, steht in dem Dokument, das dem Handelsblatt vorliegt.

Die Zahl der Neuinfektionen bleibe ein wichtiger Gradmesser für den Verlauf der Pandemie, die Darstellung der Risiken dürfe sich aber nicht darauf verdichten. Eine größere Rolle müssten auch Indikatoren für die aktuelle Belastung des Gesundheitssystems spielen.

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„Dabei muss beachtet werden, dass diese Indikatoren Steigerungen der Infektionszahlen erst mit zeitlicher Verzögerung abbilden, denn die Intensivpatienten von morgen haben sich schon vor einigen Tagen mit dem Virus infiziert“, heißt es. Als Beispiel für ein solches Frühwarnsystem führt der Expertenrat Österreich an, das ein auf mehreren Kennziffern beruhendes Ampelmodell zur regionalen Steuerung der Corona-Maßnahmen eingeführt hat.

Ein differenziertes und regional angepasstes Vorgehen minimiere die Belastungen für Gesellschaft und Wirtschaft, schreibt der Expertenrat in der Stellungnahme, die Laschet nun als Handlungsauftrag sieht.

Ein „evidenzbasiertes und abgewogenes Vorgehen“ könne den Entscheidungsträgern in den Regierungen mehr „Handlungssicherheit“ geben, sowohl in der politischen Kommunikation als auch in der rechtlichen Umsetzung von Maßnahmen. Von der Notwendigkeit, das öffentliche Leben wie im Frühjahr mit einer „gesamtstaatlichen“ Intervention erneut herunterzufahren, ist Deutschland nach Einschätzung des Expertenrats derzeit „weit entfernt“.

Fünf Prozent der Erkrankten müssen ins Krankenhaus

Die Infektionszahlen waren in Deutschland zuletzt deutlich angestiegen. Die Gesundheitsämter meldeten binnen 24 Stunden 2143 neue Fälle, wie das RKI am Donnerstag bekanntgab. „Nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ist aktuell ein weiterer Anstieg der Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten“, konstatierte die Seuchenschutzbehörde. Nordrhein-Westfalen verzeichnete im Schnitt der vergangenen sieben Tage 16,1 Fälle pro 100.000 Einwohner.

Schlagzeilen machte der Ausbruch nach einer Hochzeitsfeier in Hamm, dort gibt es mit 95,5 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner den bundesweit höchsten Wert. Auf das ganze Bundesland bezogen ist das Infektionsgeschehen in NRW aber weniger kritisch als in Berlin und Bayern.

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Der Höhepunkt bei den täglich gemeldeten Neuansteckungen in Deutschland hatte Ende März und Anfang April bei mehr als 6000 gelegen. Im Vergleich zum Frühjahr wird allerdings mittlerweile viel mehr getestet und zu einem gewissen Grad auch die Dunkelziffer besser ausgeleuchtet.

Viele Infektionen mit Sars-CoV-2 verlaufen ohne Krankheitssymptome. Zuletzt stieg der Anteil positiver Coronatests an, was ein Hinweis darauf ist, dass die Infektionslage sich verschärft. Die Daten des RKI zeigen zugleich, dass der Anteil der ins Krankenhaus eingelieferten Fälle seit Wochen nur bei fünf Prozent liegt. In intensivmedizinischer Behandlung befinden sich demnach 293 Patienten, von denen 159 beatmet werden müssen.

Die Zahl der wöchentlich an oder mit Sars-CoV-2 Verstorbenen bewegte sich zuletzt im niedrigen zweistelligen Bereich. Insgesamt starben in Deutschland bislang 9400 Menschen im Zusammenhang mit Corona, von denen 85 Prozent 70 Jahre und älter waren.

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Da sich gerade eher jüngere Menschen infizieren, besteht die Sorge, dass auch die Krankenhausbelegungen und Todeszahlen ansteigen könnten, wenn der Erreger wieder stärker in die ältere Bevölkerung getragen wird. All diese Faktoren sollten in die Risikobewertung einfließen – so die Empfehlung von Laschets Corona-Expertenrat. Für das Ampelmodell hatte in den vergangenen Wochen der Bonner Virologe Hendrik Streeck geworben, der dem Gremium angehört.

Im Interview mit dem Handelsblatt hatte Streeck gesagt, dass man aufgrund der Vielzahl der vorhandenen Daten die Auslastung des Gesundheitssystems in der Pandemie mittlerweile viel besser vorhersagen könne. „Es geht darum, eine Balance zu finden.“