NS-Prozess: Vergebung für einen Helfer des Holocausts?

Dieses Bild postete Eva Mozes Kor auf Twitter
Dieses Bild postete Eva Mozes Kor auf Twitter

Die Auschwitz-Überlebende Eva Mozes Kor reicht dem wegen Beihilfe zum Massenmord angeklagten früheren SS-Mann die Hand. Es ist eine fast übermenschliche Geste der Gnade. An der Schuld des Angeklagten ändert das nichts.

Von Wiebke Ramm

Eva Mozes Kor vergibt dem Angeklagten Oskar Gröning. Der 93-Jährige wird beschuldigt, als SS-Mann im Konzentrationslager Auschwitz beim Massenmord an mindestens 300.000 vor allem jüdischen Kindern, Frauen, Männern geholfen zu haben. Eva Mozes Kor sagt, sie habe auch allen anderen Nazis vergeben. Sie sagt es, obwohl ihre Eltern, ihre beiden Schwestern und Abertausende andere Menschen in Auschwitz ermordet wurden. Sie sagt es, obwohl sie selbst und ihre Zwillingsschwester bei den grauenhaften Menschenversuchen des NS-Arztes Josef Mengele gequält wurden und sterben sollten.

Eva Mozes Kor sagt es, weil sie beschlossen hat, sich selbst von dem Hass gegen die Nazis zu befreien. Sie nennt es einen Akt der Selbstbefreiung und Selbstheilung. Sie betont, dass ihr Vergeben kein Vergessen ist und schon gar kein Entschuldigen der grauenhaften Taten. Ihr Vergeben mindere nicht die Schuld der Täter. Sie betont, dass sie nur für sich selbst und nicht im Namen anderer Überlebenden spricht. Ihr Vergeben ist ihre höchstpersönliche Art des Umgangs mit der Geschichte des Horrors.

Auf Twitter postete die 81-Jährige ein Foto, das zeigt, wie sie dem früheren SS-Mann die Hand reicht. Oskar Gröning ergreift ihre Hand mit seinen beiden Händen. Er lächelt sie an und sieht glücklich aus. Man kann das Foto auch so lesen: Eine Auschwitz-Überlebende besiegt einen früheren SS-Mann durch eine fast übermenschliche Geste der Gnade. Während Gröning grausam empathielos und in unerträglicher Unbefangenheit über seinen Alltag in Auschwitz vor Gericht plaudert und die Begriffe „Reue und Demut“ nur vom Blatt abliest, begegnet Eva Mozes Kor ihm mit unfassbarer Menschlichkeit.

Kritik an Mozes Geste

Das Bild wird einige Holocaust-Überlebende schwer erschüttert haben. Wenige Tage später tritt Hedy Bohm in den Zeugenstand. Auch ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Sie hat das Konzentrationslager überlebt. Die 87-Jährige sagt: „Ich empfinde keine Rachegefühle. Aber ich kann den Mördern meiner Mutter, meines Vaters und all der Tausenden von Kindern, Frauen und Männern nicht vergeben, niemals.“ Sie kämpft mit den Tränen. „Vielleicht kann Gott vergeben. Ich kann es nicht.“

Die Anwälte von Auschwitz-Überlebenden und Hinterbliebenen der Opfer sagen nun, Eva Mozes Kor hätte nicht Nebenklägerin im Prozess werden sollen, wenn sie doch öffentlich fordere, die Anklagen müssten aufhören. Natürlich kann sie trotzdem Nebenklägerin sein. Sie kann vergeben und trotzdem bezeugen, was in Auschwitz geschehen ist. Vergebung ist keine juristische Kategorie. An den Taten und der Schwere der Schuld des Angeklagten ändert sie nichts.

Dass es nach 70 Jahren noch zu einem Prozess gegen den früheren SS-Mann gekommen ist, ist auch deshalb so wichtig, weil die Überlebenden vor einem deutschen Gericht endlich Zeugnis darüber ablegen können, welche Verbrechen bar jeder Menschlichkeit in Deutschland systematisch an ihnen verübt worden sind. Endlich hört ein Gericht, das im Namen des Volkes Recht spricht, ihre ganz persönlichen Geschichten an. Wir sollten jedem Einzelnen ganz genau zuhören. Aber wir sollten uns sich anmaßen, über den Weg der Bewältigung zu urteilen, den Holocaust-Überlebende je für sich gewählt haben.

Sehen Sie im Video: Oskar Gröning bitten vor Gericht um Vergebung