Psychologin Stefanie Stahl im Gespräch - Eine Erfahrung in der Kindheit kann uns Angst vor der Liebe machen

Die Kindheit prägt unser gesamtes Leben - wenn wir es zulassen<span class="copyright">Getty Images/Cavan Images RF</span>
Die Kindheit prägt unser gesamtes Leben - wenn wir es zulassenGetty Images/Cavan Images RF

In der Kindheit wird das psychische Programm, das unsere Emotionen, unser Denken und unser Verhalten betrifft, im Gehirn programmiert und verknüpft. „Das hat Auswirkungen auf das gesamte Leben“, sagt die Psychologin Stefanie Stahl und erklärt, wie wir uns von alten Kindheitsmustern befreien können.

Marlen ist seit zwei Monaten wieder in einer Beziehung. Und schon spürt sie manchmal einen Fluchtimpuls. Es ist zu viel, zu eng. Sie merkt, dass die starken Gefühle der Anfangsphase schnell nachlassen. Sie sucht nach Fehlern bei ihrem Partner und findet sie. Als er sie schließlich seinen Eltern vorstellen wird, schnürt es ihr den Hals zu. Sie fängt einen Streit an und beendet die Beziehung. Endlich fühlt sie sich wieder frei. Ein Teil von ihr ahnt, dass auch die nächste Beziehung nicht von langer Dauer sein wird. Doch sie schiebt den Gedanken beiseite und sagt sich, dass sie irgendwann sicher den Richtigen finden wird.

So wie Marlen geht es vielen Menschen. Manche halten es länger in einer Beziehung aus, doch am Ende finden sie immer eine Möglichkeit, die Partnerschaft zu beenden, wenn es ihnen zu ernst wird. Sie haben Angst vor der Liebe – auch wenn sie das selbst wahrscheinlich so nie sagen würden. Diese Angst ist eine Bindungsangst. Sie hat ihren Ursprung meist in der Kindheit.

Sklavinnen und  Sklaven des eigenen Gehirns

Betroffene handeln nach einem unbewussten Muster, das sich immer wieder wiederholt, denn sie treffen ihre Entscheidungen automatisch. Sie meinen zwar, sich bewusst zu entscheiden, aber vieles würde aus dem Unbewussten heraus gesteuert, weil sie eine gewisse Programmierung haben und innerhalb dieser Matrix agieren, meint die bekannte Psychologin und Bestseller-Autorin Stefanie Stahl. Da diese Matrix nicht immer gesund ist, seien Menschen so lange Sklavinnen oder Sklaven ihres eigenen Gehirns, bis sie anfangen, ihr Verhalten zu reflektieren.

„Wenn ich verstehe, wie meine Psyche funktioniert, dann kann ich anfangen, etwas zu verändern. Wenn mir das nicht klar ist, dann mach ich immer so weiter“, sagt Stahl im Gespräch mit FOCUS online.

In ihrem Buch „Wer wir sind“ und dem neu erschienen Arbeitsbuch „Wer wir sind – das Arbeitsbuch“ erklärt Stahl den Bauplan der menschlichen Psyche und stellt verschiedene Übungen und Meditationen zur Verfügung, die helfen, die eigenen Verhaltensmuster zu erkennen, zu reflektieren und schließlich aufzulösen.

 

Durch unsere Kindheits-Prägungen handeln wir automatisiert

„Wenn ich mich nicht mit mir beschäftige, wenn ich mich nicht reflektiere, dann laufen viele Entscheidungen automatisiert ab“, sagt Stahl. Jeder habe irgendwo seine Prägung mitbekommen, innerhalb derer er relativ automatisiert reagiere. „Das sind dann alte Reaktionsmuster, die blitzschnell ablaufen und sowohl mich als auch andere Menschen ins Unglück führen können. Wenn ich die unterbrechen will, dann muss ich meinen Blick auf diese Programmierung richten“, sagt die Psychologin.

Programmierungen entstehen in der Kindheit. In den ersten Lebensjahren wird das psychische Programm, das unsere Wahrnehmung steuert, unsere Emotionen, unser Denken und unser Verhalten betrifft, im Gehirn programmiert und verknüpft. „Wenn da Unwuchten sind, dann wirkt sich das für den Rest meines Lebens aus“, sagt Stahl.

Wie solche Unwuchten entstehen können?

„Als Kinder lernen wir die Antworten auf die zwei ganz grundlegenden Fragen: Was bin ich wert? Und: Was muss ich dafür tun, um geliebt zu werden? Das ist ein ganz, ganz tiefsitzendes Programm, das wir in der Regel bei Mama und Papa lernen.

Wenn wir Glückspilze sind, dann haben wir liebevolle Eltern, die uns die Botschaft vermitteln: Du bist wertvoll, genauso wie du bist und du musst gar nichts tun, um geliebt zu werden, wir lieben dich einfach so. Liebe ist ein Geschenk.

Aber viele Leute haben nicht dieses Glück, sondern lernen in der Kindheit: Wenn ich will, dass du mich liebst, dann muss ich Erwartungen erfüllen. Dann muss ich mich deinen Bedürfnissen anpassen. Dann muss ich mich selbst auch immer mal wieder zurücknehmen, zurückstellen, meine Gefühle beiseiteschieben“, erklärt die Psychologin. 

Wenn Beziehungen erdrückend werden

Wenn die Eltern aus welchen Gründen auch immer überfordert sind, dann übernehme das Kind ganz automatisch die Verantwortung dafür, dass seine Beziehung zu den Eltern gelingt. Und mit diesen tiefen Programmen würden die Kinder dann groß werden. Ohne dass es ihnen jedoch bewusst sei. „Sie halten das für die Wahrheit, das ist jetzt ihre Matrix“, sagt Stahl.

Wenn diese Menschen dann als Erwachsene eine Liebesbeziehung eingehen, haben sie immer noch im tiefsten Inneren das Gefühl: So wie ich wirklich bin, kann man mich nicht lieben, ich werde nicht um meiner selbst willen geliebt, ich muss Erwartungen erfüllen.

„Da setzt bei nicht wenigen Menschen dann plötzlich so ein Widerstand ein. Sie merken, dass diese Erwartungen ihnen den Hals zuschnüren, weil sie ja in der Kindheit nicht gelernt haben, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse genauso wichtig sind wie des anderen und nicht gelernt haben, ihre Bedürfnisse angemessen zu behaupten in einer Beziehung. Deswegen fühlen sie sich schnell eingeengt von Beziehungen, weil sie sich selbst nicht gut vertreten. Und das gibt ihnen innerhalb der Beziehung das Gefühl der Unfreiheit.“

Würden diese Menschen das nicht reflektieren, dann wähnten Sie ihre einzige Freiheit in der Beendigung der Beziehung, der Partner müsse abgeschafft werden, damit sie sich wieder frei fühlen können.

Diese empfundene Freiheit ist jedoch keine echte Freiheit. Sie ist nur eine kurze Erleichterung, bevor der Kreislauf erneut einsetzt. Stahl plädiert deshalb dafür, sich eine Wahlfreiheit zu erarbeiten.

„Ich als Psychologin stehe natürlich immer für die persönliche Weiterentwicklung ein und damit auch für größere Entscheidungsmöglichkeiten“, sagt sie.

Psychologin Stefanie Stahl<span class="copyright">Susanne Wysocki</span>
Psychologin Stefanie StahlSusanne Wysocki

Bindungsangst ist eine Fehlprogrammierung

Ein typischer Hinweis auf Bindungsangst sei, wenn jemand sagt: In Beziehungen muss ich zu viele Kompromisse eingehen. Das sei eine Fehlprogrammierung.

„Das stimmt ja nicht. Das stimmt nur im Gehirn dieses Menschen aufgrund seiner Erfahrung, weil dieser Mensch meint, er müsste sich dauernd anpassen. Aber so ist es ja gar nicht. Es steht ihm völlig frei, sich innerhalb einer Beziehung selbst zu behaupten und seine Bedürfnisse auch einzubringen.“

Wer einer Fehlprogrammierung wie dieser Glauben schenke und meine, es gehe ihm mit einer Trennung besser als im Gefängnis einer Beziehung, der treffe diese Entscheidung aufgrund einer falschen Annahme. „Als Psychologin bin ich unbedingt dafür, diese Annahme zu hinterfragen“, betont Stahl.

Wer dazu bereit ist und herausfinden will, wie sein eigenes psychisches Programm funktioniert, der kommt nicht drum rum, seinen Blick auf das Elternhaus zu richten und zu fragen, wer diese Programme geschrieben hat. Ein Blick in die Vergangenheit ist nötig, um im Anschluss ganz bewusst das Vergangene vom Gegenwärtigen zu trennen.

Jeder Mensch muss sich von seinen Eltern lösen

Viele Menschen schrecken vor diesem Schritt jedoch zurück. Sie wollen ihre Eltern nicht als Schuldige sehen. Auch Stahl betont, dass die Eltern nicht an allem schuld sind. Sich jedoch dieser Aufarbeitung zu verweigern, sei der sichere Weg in die Unfreiheit:

„Wenn ich auf der psychischen Ebene gesund werden will, muss ich mich lösen. Jeder Mensch hat die Aufgabe, sich auf eine gesunde Art und Weise von seinen Eltern zu lösen. Das heißt nicht, dass man sie weniger lieb hat, sondern es bedeutet, dass man schaut: Was gehört wirklich zu mir und was gehört zu meinen Eltern?“

Sehr oft geht es um sogenannte Glaubenssätze, die Menschen in ihrer Kindheit und durch das Zusammenleben mit ihren Eltern verinnerlichen. Das können positive sein, wie: Du bist genau richtig, so wie du bist. Oder negative: Du musst dich anstrengen und anpassen, um geliebt zu werden.

„Diese Glaubenssätze sind die Programmiersprache des Selbstwertgefühls. Sie sind eine Introjektion, wie wir in der Psychologie sagen, also eine Verinnerlichung. Sie sind wie ein kleiner Fremdkörper, den ich wieder aus mir herausholen muss. Und das geht – aber nur, wenn ich mir zugestehe, diesen kritischen Blick aufs Elternhaus zu werfen. Wenn ich es aus falscher Loyalität zu meinen Eltern nicht tue, dann muss ich innerlich dabei bleiben: Ich bin der Fehler. Und das tun viele“, sagt Stahl.

Wie eine Umprogrammierung gelingt – und warum sie nicht nur uns selbst nützt

Doch wer es schafft, die eigenen Glaubenssätze zu hinterfragen und sich bewusst zu machen, dass sie der heutigen Realität nicht entsprechen, kann sie durch bessere, positivere und realistischere Glaubenssätze ersetzen. Auf diese Weise kann eine Umprogrammierung gelingen.

Damit helfen Menschen mit Bindungsängsten nicht nur sich selbst, ein zufriedeneres Leben zu führen. Sie verhindern auch, dass sie weiterhin andere Menschen belasten.

„Es hängt immer noch ein zweiter Mensch in der Beziehung drin, der sich vielleicht viel Hoffnung gemacht hat, der vielleicht total verliebt ist und kreuzunglücklich, wenn die Beziehung plötzlich beendet wird“, sagt Stahl. „Liebeskummer darf man nicht unterschätzen. Das ist ja wirklich einer der ätzendsten Zustände ever.“