Putin verhängt Kriegszustand in annektierten Gebieten der Ukraine

Die Ukraine will ihre von Russland eroberten Gebiete zurück - so viel ist klar. Jetzt rüstet sich Moskau für Angriffe. Besonders brisant: Aus Präsident Putins Sicht geht es um russisches Staatsgebiet.

Wladimir Putin (Bild: Getty Images)
Wladimir Putin (Bild: Getty Images)

Knapp drei Wochen nach der rechtswidrigen Annexion von Gebieten im Osten und Süden der Ukraine hat Russland dort den Kriegszustand verhängt. Präsident Wladimir Putin verkündete den Schritt am Mittwoch. Zuvor hatte Moskau eine Massierung ukrainischer Truppen im Gebiet Cherson und erste Angriffe der Ukraine zur Rückeroberung gemeldet. Beides spitzt die Lage im Kriegsgebiet weiter zu. Auch hinter der Front attackiert Russland weiter ukrainische Städte. Zehntausende sind ohne Obdach oder ohne Strom.

Russland hatte den Angriffskrieg gegen die Ukraine vor rund acht Monaten begonnen und unter anderem Teile des im Süden gelegenen Chersoner Gebiets erobert. Dieses Gebiet sowie Teile der Regionen Luhansk, Donezk und Saporischschja wurden dann nach international nicht anerkannten Scheinreferenden am 30. September von Russland annektiert.

Mit dem von Putin per Dekret verhängten Kriegsrecht verbinden sich erweiterte Befugnisse der russischen Besatzungsverwaltung. Der Kremlchef begründete den Schritt damit, dass die Ukraine die Ergebnisse der im September abgehaltenen Abstimmungen über einen Beitritt zu Russland nicht anerkenne. «Im Gegenteil, der Beschuss geht weiter. Unschuldige Menschen sterben», sagte Putin. Rückeroberungsversuche der Ukraine seien Angriffe auf russisches Staatsgebiet.

Darin liegt die besondere Brisanz der Annexionen, denn die Ukraine will die Gebiete keinesfalls aufgeben. Die Verhängung des Kriegsrechts ändere nichts, twitterte der Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak. Der russische Schritt sei eine «Pseudolegitimierung der Plünderung des Eigentums der Ukrainer».

Russland meldet Angriffe

Am Mittwoch meldeten die russischen Besatzer bereits ukrainische Angriffe auf das Gebiet Cherson. Die Ukrainer seien in Richtung der Orte Nowa Kamjanka und Beryslaw in die Offensive gegangen, schrieb der Vizechef der Besatzungsverwaltung, Kirill Stremoussow, auf Telegram. Alle Angriffe seien abgewehrt worden. Am Morgen hatte Stremoussow mitgeteilt, die ukrainische Armee habe Zehntausende Soldaten an der Front zusammengezogen. Zivilisten wurden zur Flucht aufgerufen. Auch die Besatzungsverwaltung sollte auf das linke Ufer des Flusses Dnipro verlegt werden. Angaben aus den Kriegsbgebieten sind schwer überprüfbar.

Der neue Oberbefehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine, Sergej Surowikin, hatte die Lage in dem Frontabschnitt am Vorabend als schwierig bezeichnet. Die Ukraine beschieße Wohnhäuser und die Infrastruktur von Cherson, sagte er.

Von ukrainischer Seite gab es zunächst keine schlüssigen Angaben. Kiew erklärte am Vormittag nur, im Gebiet Cherson einen russischen Kampfhubschrauber vom Typ Ka-52 abgeschossen zu haben. Der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andrij Jermak, warf den russischen Besatzern vor, die Menschen in Cherson durch «gefälschte Nachrichten» über ukrainische Angriffe auf die Stadt einschüchtern zu wollen.

Russland berichtete auch von ukrainischen Angriffen auf ein Verwaltungsgebäude der Stadt Enerhodar im Gebiet Saporischschja. Zudem sei ein ukrainischer Versuch abgewehrt worden, das russisch besetzte ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja zurückzuerobern.

Explosionsgeräusche in Kiew

Die Ukraine berichtete ihrerseits von russischen Angriffen hinter der Front, so etwa im Gebiet Winnyzja. Auch in Kiew waren Explosionsgeräusche zu hören, wie eine dpa-Reporterin in der Hauptstadt berichtete. Laut Gebietsgouverneur Olexij Kuleba war die ukrainische Luftabwehr aktiv. Die ukrainischen Streitkräfte erklärten, Russland habe vom Gebiet seines Verbündeten Belarus aus Raketen und Kampfdrohnen Richtung Kiew geschossen. Erneut gab es zwischenzeitlich im ganzen Land Luftalarm.

Der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow, sprach von acht russischen Raketen auf seine Stadt. Mehr als 150 000 Einwohner von Charkiw - vor dem Krieg mit mehr als einer Million Einwohnern zweitgrößte Stadt nach Kiew - hätten kein Dach über dem Kopf. Viele seien geflohen.

Seit Tagen überzieht Russland das Nachbarland wieder großflächig mit Raketen- und Drohnenbeschuss und zielt dabei nach eigenen Angaben vor allem auf Energieinfrastruktur. Getroffen wurden aber auch Wohnhäuser. Angaben aus Kiew zufolge starben infolge der jüngsten Angriffswelle bereits mehr als 70 Menschen.

Von der Leyen spricht von Kriegsverbrechen

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wertete die russischen Attacken auf die Energieversorgung als Kriegsverbrechen. «Gezielte Angriffe auf zivile Infrastrukturen - mit der klaren Absicht, Männer, Frauen und Kinder von Wasser, Strom und Heizung abzuschneiden - sind reine Terrorakte», sagte sie in Straßburg. Gerade jetzt müsse man auf Kurs bleiben und der Ukraine weiter beistehen.

Die Europäische Union arbeitet auch an weiteren Sanktionen gegen den Iran, weil dieser Russland Drohnen für Angriffe auf die Ukraine geliefert haben soll. Dafür habe man nun genügend Beweise gesammelt, sagte eine Sprecherin des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nannte den Einsatz der Waffen aus Teheran am Dienstagabend eine Bankrotterklärung des Kremls. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte in Berlin, mit Luftabwehrwaffen aus dem Ausland werde die Ukraine sich bald gegen die Drohnenangriffe wehren können.

SPD-Chef Lars Klingbeil bekräftigte, mit der Unterstützung für die Ukraine gehe es darum, deren Recht auf Selbstverteidigung zu unterstützen und ihre Verhandlungsposition zu stärken. «Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Krieg nicht auf dem Schlachtfeld, sondern irgendwann am Verhandlungstisch entschieden wird», sagte Klingbeil dem Portal «Web.de News». Die Bedingungen dafür lege die Ukraine fest. «Es geht jetzt darum, dass wir mit unserer Unterstützung Putin deutlich machen, dass er diesen Krieg nicht gewinnen wird», sagte der SPD-Vorsitzende.