"Rassismus ist auch hier ein großes Problem"
Eins-zu-Eins-Adaptionen alter Literaturschinken langweilen sie, gesteht Jella Haase im Interview. Die Schauspielerin freut sich, dass die Neuverfilmung von "Berlin Alexanderplatz" eine sehr moderne Geschichte über die Verführungen einer Großstadt und den alltäglichen Rassismus erzählt.
Eigentlich hätte das Interview Anfang April stattfinden sollen, in der Stadt, in der "Berlin Alexanderplatz" (Kinostart 16. Juli) spielt. Eigentlich hätte der Film kurz darauf im Kino laufen sollen. Doch dann kam alles anders, die Welt musste ein paar Wochen innehalten, die Stille ertragen. Das war nicht einfach, und das fiel auch Jella Haase (27) schwer. Die quirlige Berlinerin ist beim Telefongespräch hörbar erleichtert, dass es nun endlich losgeht und die von Burhan Qurbani meisterhaft geschriebene und inszenierte Neuinterpretation des Alfred Döblin-Romans doch noch ins Kino kommt. Jella Haase, die als Chantal in den "Fack Ju Göhte"-Filmen zu Deutschlands liebster Proll-Göre wurde, aber sehr viel mehr kann, spielt darin Mieze, die Freundin eines Geflüchteten, auf den im Großstadtdschungel kaum jemand achtgibt. Und das ist nicht nur im Film ein Problem, findet die Schauspielerin.
teleschau: Nach der gefeierten Premiere bei der Berlinale wurde der Kinostart immer wieder verschoben: Wie hat sich das Warten denn für Sie angefühlt?
Jella Haase: Das Warten auf den Kinostart hat sich eingereiht in das generelle Warten. Das war schon eine sehr spezielle Zeit. Ich freue mich natürlich sehr, dass der Film jetzt endlich den Weg auf die große Leinwand findet - dafür wurde er schließlich gemacht. Ich glaube, dass die Leute wieder eine große Lust auf das Kino haben, es jetzt ganz anders wertschätzen und eine andere Sehnsucht danach verspüren. Vielleicht kommt die Verzögerung dem Film zugute. Mir persönlich haben gemeinschaftliche Veranstaltungen jedenfalls sehr gefehlt.
teleschau: Konnten Sie das irgendwie kompensieren?
Haase: Nachdem der Lockdown verhängt wurde, brauchte ich drei Wochen, um zu lernen, mit der neuen Situation umzugehen. Das fiel mir ziemlich schwer. Ich bin jemand, der immer viele Sachen auf einmal macht - und dann wurde ich ausgebremst, zum Beispiel ein paar Tage vor der Premiere in einer Theaterproduktion. Ich musste mich aktiv daran gewöhnen, nichts zu machen. Das war sehr neu und merkwürdig für mich. Glücklicherweise ging es dann doch recht schnell wieder los mit anderen Projekten, in sozialen Medien zum Beispiel, in denen ich mich engagieren konnte. Und ich hatte das Gefühl, dass zumindest in der Filmbranche aus der Erkenntnis heraus, dass wir alle in einem Boot sitzen, eine große Solidarität erwachsen ist.
teleschau: Ihr Regisseur Burhan Qurbani hat sich nach eigenen Angaben mit "Berlin Alexanderplatz" durchs Abi gequält. Kannten Sie den Roman auch vorher?
Haase: Nein, ich bin damit erst durch den Film in Berührung gekommen. Aber ich habe ihn gelesen, das war nicht unanstrengend, wie ich zugeben muss. Nachdem ich mich reingefunden hatte, hat's dann Spaß gemacht. Der Roman hat einen wahnsinnigen Rhythmus, ist sehr collagenhaft, und dann erst die Sprache - das war eine große Freude.
"Im besten Sinne eröffnet der Film eine neue Perspektive"
teleschau: Haben Sie das Berlin, das Döblin beschreibt, wiedererkannt?
Haase: Diese ganzen Wirrungen und Unsicherheiten, also dass die Leute nicht genau wissen, wohin es gerade geht, das ist auf jeden Fall eine Parallele zum Jetzt. Spannend finde ich auch, dass sich Döblin Randfiguren ausgesucht hat, Menschen aus Milieus, in denen man selbst nicht unterwegs ist - das machte auch die Arbeit am Film so interessant.
teleschau: Wie viel Respekt hatten Sie vor der monumentalen Größe der Vorlage?
Haase: Man kann keine Äpfel mit Birnen vergleichen, um es mal lapidar auszudrücken. Wir haben ganz bewusst darauf achtgegeben, nicht vor den großen Fußstapfen zurückzuweichen. Uns war klar, dass wir etwas Eigenes schaffen und als etwas Eigenes gesehen werden wollen. Dieser Film ist unsere eigene Vision des Stoffes in einer modernen Zeit.
teleschau: Als Burhan Qurbanis Projekt angekündigt wurde, gab es durchaus Bedenken. Wie fanden Sie es denn, dass er "Berlin Alexanderplatz" als Geschichte eines Geflüchteten erzählen wollte?
Haase: Ich finde es absolut richtig und wichtig, sich solchen Stoffen so zu nähern, dass sich die Gegenwart darin niederschlägt. Mich persönlich langweilen Eins-zu-Eins-Adaptionen. "Berlin Alexanderplatz" gibt es am Theater, es gab den Film aus den 1930ern, die Fassbinder-Serie - dass Burhan dem Stoff eine ganz neue Richtung gibt, das fand ich sehr reizvoll, das hat mich tief berührt. Er betont die immer gültigen Seiten, es geht um das universelle Suchen, um das universelle Ankommen in einer Stadt, die einen nicht gut sein lässt.
teleschau: Lässt einen Berlin denn nicht gut sein?
Haase: Die äußeren Umstände können das durchaus verhindern. Berlin ist breit gefächert und kann dich sehr gut verführen. Es ist eine Stadt voller Versuchungen. Francis versucht wirklich gut zu sein, aber es gibt böse Einflüsse, kapitalistische, materialistische Einflüsse, die ihn scheitern lassen, und die im Film von Reinhold verkörpert werden.
teleschau: Der treibt sich viel in einem Park zwischen Kreuzberg und Neukölln herum, der Hasenheide. Das ist doch Ihr Kiez, oder?
Haase: Dort in der Ecke bin ich groß geworden, ja. Es gefiel mir natürlich sehr, dass der Film dort verortet ist, wo ich mich auskenne. Wobei mir klar geworden ist, dass ich früher viele Dinge gesehen habe, ohne sie wahrzunehmen. Über Menschen zum Beispiel, die ich täglich sah, mochte ich mir Geschichten ausgedacht haben. Wirklich auseinandergesetzt damit habe ich mich jedoch nicht.
teleschau: Der Film zeigt deutlich, wie Framing den Alltagsrassismus befördert ...
Haase: Genau, und er fordert die Leute auf, darüber nachzudenken: Nämlich indem er sich für die Menschen interessiert und zeigt, wo sie herkommen, warum sie dort sind, welche Ängste sie haben und welche Sehnsüchte sie antreiben. Jeder Mensch hat doch Ängste und Sehnsüchte. Im besten Sinne eröffnet der Film eine neue Perspektive.
"Eine Feministin, ohne es zu wissen"
teleschau: Die auch dringend notwendig ist, nicht zuletzt, wenn man sich die Ereignisse in den USA ansieht, wo Afroamerikaner von weißen Polizisten getötet werden.
Haase: Es wundert mich nicht, dass "Black Lives Matter" in Deutschland so viel Aufmerksamkeit erfährt. Rassismus ist auch hier ein großes Problem, auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen. Dabei muss man nur ein bisschen googeln, um zu sehen, wie rechtsradikale Strukturen Justiz, Polizei und Behörden systematisch unterwandern. Es ist extrem wichtig, dass man da genau hinschaut und nicht sagt: "Ach, das ist doch nur in Amerika so". Das ist es eben nicht, und ich mache mir, ganz ehrlich, große Sorgen.
teleschau: Eine, die genau hinsieht, ist Mieze, aus deren Sicht der Film erzählt wird: Waren Sie überrascht, dass Ihre Figur gegenüber dem Roman solch eine Aufwertung erfährt?
Haase: Überrascht nicht, ich kannte das Drehbuch, bevor ich den Roman gelesen habe. Aber es hat mich natürlich gefreut, dass Mieze eine moderne Frau ist, die selbstbestimmt lebt. Es war sehr spannend, diese Figur zu finden, weil ich dafür in Welten recherchiert habe, die mir komplett fremd waren.
teleschau: Welche waren das?
Haase: Ich habe viel mit Sexarbeiterinnen gesprochen und dabei herausgefunden, dass es in dem Milieu nicht nur schwarz und weiß, gut und böse gibt. Es gibt Frauen, die diese Arbeit aus freien Stücken machen und die Rechte haben. Ihnen ist es wichtig, dass Prostitution kein Tabuthema ist.
teleschau: "Ich bin nicht aus Zucker. Ich bin aus Marmor", sagt Mieze im Film: Können Sie genauso selbstbestimmt durchs Leben gehen, oder müssen Sie sich manchmal systemischen Zwängen unterordnen?
Haase: Das ist eine schwierige Frage. Ich sehe mich prinzipiell schon als selbstbestimmtes Wesen. Meine Agentin hat immer behauptet, ich sei eine Feministin, ohne es zu wissen. Allerdings musste ich erst lernen, auf mich aufzupassen und mit meiner Kraft hauszuhalten. Aber ich hatte großes Glück und nie Nachteile empfunden, weil ich eine Frau bin. Zwänge gibt es freilich trotzdem und sei es nur zu glauben, ein soziales Medium bedienen zu müssen. Davor bin ich nicht geschützt.
teleschau: Wie äußert sich das konkret? Und wollten Sie Instagram von Ihrem Handy löschen? Das hatten Sie zumindest vor einiger Zeit in einem Interview angekündigt.
Haase: Der Suchtfaktor ist nicht zu unterschätzen, dieser Zwang, Instagram bespielen zu müssen. Und dann ertappe ich mich dabei, wie ich anfange, mich zu vergleichen: Was machen die anderen? Reicht es, was ich mache? Und ja: Die App lösche ich immer noch regelmäßig, um mich vor meinen eigenen Zwängen zu schützen.