Den Schulweg sichern: 70 Jahre Schülerlotsen

Berlin (dpa) - Eine viel befahrene Kreuzung, nur wenige Hundert Meter von einer Grundschule entfernt. Fußgängerampeln oder Zebrastreifen? Fehlanzeige. Dafür stehen zwei Kinder auf der Straße in der Dunkelheit. Sie tragen neongelbe Jacken und Mützen und halten mit ausgestreckten Armen Reflektor-Kellen in den Händen. Während ein Auto und ein Laster vor den beiden Mädchen halten, laufen Schülerinnen und Schüler in der von ihnen gebildeten Gasse über die Straße.

Situationen wie diese in Berlin kann man morgens in der Nähe vieler Schulen in Deutschland beobachten. Statt Fußgängerüberwege und Ampeln sichern Kinder oder Jugendliche die Straßen für ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Dafür stehen sie freiwillig früher auf. Den Schülerlotsendienst gibt es offiziell seit 70 Jahren. Am 14. Januar 1953 führte ihn der damalige Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (1903-1967) für die Bundesrepublik ein.

Seither haben die jungen Helfer wohl viele Unfälle verhindert. Laut Deutscher Verkehrswacht, die unter anderem die Ausrüstung dafür bereitstellt, ist an von Lotsen gesicherten Übergängen noch kein schwerer oder tödlicher Unfall passiert. Dafür gibt es zum Jubiläum ein Dankeschön vom Bundesverkehrsminister. Das Konzept, dass junge Menschen Verantwortung übernehmen und «den Kleinsten eine eigenständige Mobilität» ermöglichten, sei auch 70 Jahre nach der Einführung zeitgemäß, lobt Volker Wissing (FDP).

USA waren Vorbild

Anstoß für die Initiative gab die hohe Zahl von Kindern, die damals im Straßenverkehr verunglückten. Laut Statistischem Bundesamt kamen 1953 allein in Westdeutschland (ohne Saarland) 32.807 Kinder unter 13 Jahren zu Schaden, 1147 Kinder starben. Zum Vergleich: 2021 verloren in ganz Deutschland 49 Kinder unter 15 Jahren bei Verkehrsunfällen ihr Leben, rund 22.300 Kinder verunglückten. Der Zuwachs an Mobilität im Zuge des Wirtschaftswunders, der nach dem Krieg als Indikator von Wohlstand und Lebensqualität galt, wurde zunehmend zum Problem. Eltern hatten Angst, ihre Kinder allein zur Schule zu schicken.

Die ersten Schülerlotsendienste in Deutschland entstanden in Baden-Württemberg Ende der 1940er Jahre. Die Idee stammte aus den USA, wo Jugendliche schon seit den 1920er Jahren den Schulweg für ihre jüngeren Mitschüler sicherten. Amerikanische Besatzungstruppen brachten den Gedanken mit. In Kornwestheim bei Stuttgart etwa verlangte die amerikanische Besatzungsbehörde, dass die Schüler beim Verlassen der Schulgebäude selbst für Ordnung sorgten.

Mit der bundesweiten Einführung 1953 hob man den freiwilligen Dienst auf eine neue Stufe. Für die jungen Helfer gab es eine einheitliche Ausrüstung - mit weißem Schulterriemen und weißer Koppel noch nicht so knallig wie heute. Ähnlich sah die Uniform in der DDR aus, wo es ebenfalls Schülerlotsen gab.

Die Zahl der Schüler, die mitmachten, wuchs schnell. Die Lotsen waren bei vielen beliebt und bekamen eine Menge Aufmerksamkeit. Der Sieger des Schülerlotsen-Bundeswettbewerbs 1956, ein 13 Jahre alter Junge aus Kassel, durfte sogar in die USA reisen - ein Treffen mit Präsident Dwight D. Eisenhower inklusive. Im Jahr 1975 war die Zahl der Lotsen in Westdeutschland auf stolze 77.000 gewachsen.

Zahl der Lotsen sinkt

Dieses Niveau wird nicht mehr erreicht, im Gegenteil, die Zahl ist gesunken. Die Deutsche Verkehrswacht schätzt, dass bundesweit etwa 50.000 Verkehrshelfer - wie die Lotsen heute genannt werden - im Einsatz sind, darunter viele Erwachsene.

«Bei uns ist die Zahl in den letzten Jahren leider relativ stark zurückgegangen», sagt der Geschäftsführer der Landesverkehrswacht (LVW) in Hessen, Thomas Conrad. In dem Bundesland gibt es demnach nur noch um die 200 Schülerlotsen, vor sechs Jahren waren es noch um die 1000. Conrads Erklärung dafür: Unter anderem sei «die Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler dafür nicht mehr so groß, und dieses ehrenamtliche Engagement wird nicht mehr so geschätzt», vermutet er.

Auch in Bayern, das mit rund 25.000 jungen und erwachsenen Lotsen zahlenmäßig an der Spitze der Initiative steht, ist es nach Angaben von LVW-Geschäftsführer Manfred Raubold «ein klein wenig schwieriger geworden», Nachwuchs zu finden. Seiner Ansicht nach hat das mit der Corona-Pandemie zu tun. «Wenn Schulen geschlossen waren und es Home-Schooling gab, war kein Lotsendienst nötig.» Der sei dann teilweise nicht mehr aufgenommen worden.

Der Leiter der Unfallforschung der Versicherer, Siegfried Brockmann, lobt das Engagement. Er fände es allerdings am besten, wenn alle Schulwege an befahrenen Straßen «mit Ampeln, mindestens aber mit Mittelinseln oder Zebrastreifen abgesichert würden».

Nicht überall werden die Lotsen ernst genommen

Nicht überall, wo die Lotsen im Einsatz sind, läuft es immer reibungslos. In Berlin etwa, wo der Dienst in der Regel schon in der 6. Klasse startet statt meist üblich in der 7., passierte es, dass junge Helfer von Verkehrsteilnehmern nicht ernst genommen wurden. Vor ein paar Jahren stellten einige Schulen den Dienst vorübergehend sogar ein, weil Autos zwischen den Lotsen durchgefahren waren. Teilweise stehen die Kinder dort nun mit Erwachsenen an der Straße.

Die Berliner Schülerinnen Ava, Valerie und Miriam dagegen sichern allein eine Kreuzung nahe ihrer Schule. Die Zehnjährigen sind seit Herbst als Schülerlotsinnen im Einsatz. Bisher laufe es gut, finden sie. Für den Dienst früher aufzustehen, sei kein Problem. Ava sagt: «Es macht Spaß, die Kinder sicher über die Straße zu bringen.»