Silvester-Böllerei: Wieso lassen wir Besoffene mit Sprengstoff hantieren?

Was ist hier eigentlich los: Bleigießen ist verboten, aber Raketen in Menschenmengen sind ok? Die private Knallerei ist absolut absurd, das finden mittlerweile die meisten. Trotzdem muss niemand auf ein schönes Feuerwerk verzichten.

Ein großes, professionelles und vollendetes Feuerwerk für alle – das wär doch was Schönes
Ein großes, professionelles und vollendetes Feuerwerk für alle – das wär doch was Schönes

Nennt mich spießig, aber ich fand es schon immer befremdlich, dass Betrunkene in Deutschland das neue Jahr inmitten von Menschenmassen mit privaten Sprengstoff-Experimenten einläuten dürfen. Es werfe den ersten Knaller, wer keine Geschichte aus seinem Bekanntenkreis kennt, in dem eine von diesen putzigen Spaß-Bomben zu früh, zu spät, zu nah oder einfach unkontrolliert explodiert ist.

Auch meine rechte Hand stand mal in Flammen – und das obwohl ich noch nie in meinem Leben eine Rakete angezündet habe. Jemand hatte einen Böller in meine Richtung geworfen, der explodierte, als ich ihn versuchte abzuwehren. Ich war 13 Jahre alt und verbrachte den Rest der Nacht im Schock unter einer Bettdecke. Dass diese Geschichte in Deutschland absolut keinen Seltenheitswert hat, müsste eigentlich reichen, um die Diskussion abzuschließen.

Tut es aber nicht. Also noch ein paar Zahlen. Der “Tagesspiegel” hat die Silvester-Bilanz vom letzten Jahr in Berlin zusammengetragen: “3048 Notrufe, 1732 Einsätze, 400 Brände, Dutzende Menschen schwer verletzt, 57 Angriffe auf Einsatzwagen”. Ja, selbst die Helfer werden regelmäßig angegriffen. Und Tote gab es auch: In Brandenburg starben zwei Männer – unabhängig voneinander – an ihren Raketen.

Die ersten Finger sind schon ab

Dieses Jahr ist der Verletzungsstrom sogar schon vor der eigentlichen Nacht eingeläutet worden: Einem 14-Jährigen wurden diese Woche durch die Explosion eines Böllers in Hamburg drei Finger abgerissen. In derselben Stadt holte die Polizei 850 Kilo Böller und Raketen aus der Wohnung eines 23-Jährigen, dessen Pyrotechnik-Liebe offensichtlich wirklich Überhand genommen hat.

Unfassbar: 850 Kilo Böller und Raketen beschlagnahmt

Noch normaler als abgerissene Gliedmaßen sind Hörschäden nach Silvester: 8000 Deutsche erleiden jährlich ein Knalltrauma, weil in ihrer Nähe ein Böller gezündet wurde. Ein Drittel davon ist danach dauerhaft hörgeschädigt oder muss mit einem Tinnitus leben.

Die Mehrheit will ein Verbot

Die Frage ist: Wie viele davon wollten das Feuerwerk eigentlich, dass da neben ihnen explodiert ist? In den Medien und auf Twitter scheinen sich alle einig: Dort hat niemand Lust auf den jährlichen “Purge”. Laut einer neuen Studie will die Mehrheit der Deutschen, nämlich 60 Prozent, ein Verbot für privates Feuerwerk. Ganz zu schweigen von Umwelt und Tieren, die unter der extremen Feinstaubbelastung und der akustischen Knallerei leiden.

“Besonnen böllern”: Behörden mahnen zu maßvollem Umgang mit Böllern

Sehen wir der Wahrheit ins Auge (solange wir noch welche haben): Freiheit darf nur so weit gehen, bis sie die Freiheit der anderen einschränkt. Und die private Knallerei nimmt vielen Leuten das Silvesterfest. Die einen haben einfach keinen Bock, das neue Jahr mit Nervenkitzel a la Russisch Roulette zu beginnen, weil eben immer irgendwelche Vollidioten Straßenkampf spielen wollen. Die andere müssen ihren verängstigten Tieren beistehen, die reihenweise in den Wohnungen durchdrehen. Und wieder andere – Asthmatiker, ältere Leute, Lungengeschädigte – gehen besser gar nicht raus, weil sie aufgrund der Feinstaubbelastung sogar im Krankenhaus landen könnten.

Ein wirklich spektakuläres Feuerwerk für alle

Dass wir uns nicht falsch verstehen: Niemand hat die Absicht, ein schönes Feuerwerk zu verhindern. Man sollte es einfach den Profis überlassen, wie in vielen Städten auf der Welt. In Paris oder London sind private Feuerwerke verboten, stattdessen übernehmen ausgebildete Pyrotechniker den Job und machen die farbenfrohe Knallerei zu einem choreografierten Spektakel, das einem den Atem raubt – und zwar nicht aufgrund der Feinstaubbelastung.

Auch das Gruppenerlebnis wäre ein ganz anderes. Man stelle sich vor: Ganz Deutschland um Mitternacht auf der Straße, Arm in Arm, alle Blicke nach oben gerichtet und hoch konzentriert auf die Feuervorstellung im Himmel. Niemand müsste aufpassen, im Silvesterkrieg abgeschossen oder taub zu werden. Kaum Müll auf den Straßen, keine abgetrennten Gliedmaßen, keine Rettungskräfte unter Beschuss. Nur ein perfektioniertes Pyrotechnik-Spektakel für alle. Wer Feuerwerk wirklich liebt, der sollte mit diesem Kompromiss eigentlich vollends zufrieden sein.

Bis es so weit ist: Einen guten Rutsch und passt auf euch auf.

VIDEO: 4500 Tonnen Feinstaub zu Silvester