Silvesternacht-Gutachter ist erschüttert

Die brutale Realität: Im Untersuchungsausschuss des Landtages von Nordrhein-Westfalen wird deutlich, wie hilflos die Opfer in der Kölner Silvesternacht wirklich waren. Der Rechtspsychologen Prof. Rudolf Egg analysierte mehr als 1500 Protokolle und Anzeigen – er selbst sagt: „So etwas habe ich noch nie gehört.“

Frauen wurden begrapscht und sexuell belästigt. Zahllose Hände wanderten aus einer anonymen Menge an Po, Brüste und Gesicht der Opfer. Der Leiter der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, Rudolf Egg, findet deutliche Worte für das Versagen des Staates und der Polizei: „Es ist unerträglich, wenn einigen Frauen das Gefühl gegeben wurde, sie selbst hätten dazu beigetragen.“

Die Zusammenfassung des Professors wirkt wie eine Schelte für die Verantwortlichen: „Es entstand eine Art rechtsfreier Raum, ein Zustand der scheinbaren Regellosigkeit, der den Beteiligten irgendwie alles zu erlauben schien“, so der Experte im Sitzungssaal des NRW-Parlaments.

Er berichtet, wie drastisch die überwiegend jungen Frauen in ihren Anzeigen von den nicht enden wollenden Übergriffen durch die Männer berichteten und zitiert mehrfach aus den Protokollen. „Ich habe mich in dem Moment hilflos gefühlt! Ich habe die ganze Zeit nichts gesehen, nur gespürt, weil meine Augen voller Tränen waren“, heißt es darin etwa.

Gutachter Egg verweist in seiner Stellungnahme auf die sogenannte „Broken-Windows-Theorie“, wonach das Gefühl persönlicher Verantwortung schwächer wird, wenn eine Strafverfolgung aufgrund hoher Anonymität nicht zu erwarten ist. „Genau dies war in der Silvesternacht der Fall“, so die Analyse. Der Vorwurf, dass „unmittelbar vor Ort niemand eingegriffen“ habe, hätte „sukzessive“ zu der entstandenen „Jagdstimmung“ geführt. Offenbar hätten die Täter in der Wahrnehmung gelebt: „Heute ist alles erlaubt.“

Auch die Notrufe der Silvesternacht, die im Ausschuss eingespielt wurden, belegen, wie drastisch die Situation eskalierte – und wie wenig empathisch die Polizei reagierte. „Wir wurden von ganz vielen angegrapscht. Das ist wirklich sehr grenzwertig und gefährlich. Da stehen Polizisten, aber die machen gar nichts.“ Eine andere Frau rief ins Telefon: „Die schießen Böller aufeinander – auch auf Mütter mit Kinderwagen.“

Die Schilderungen der Opfer waren für den Kriminologen wichtig, um Außenstehenden den Ernst der damaligen Situation vor Augen zu führen. Rückwirkend ist Egg überzeugt: „An diesem Tag, an diesem Ort, wäre eine Null-Toleranz-Strategie richtig gewesen.“

Erste Konsequenzen aus der Kölner Silvesternacht werden bereits gezogen. Der Kölner Dom soll in der kommenden Silvesternacht mit Zäunen geschützt werden. In einem Umkreis von 80 Metern würden Zugangskontrollen eingerichtet, die alle passieren dürften, die keine Feuerwerkskörper bei sich haben, sagte Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker.

Bilder: dpa; ddp Images