Eine Institution, die ihre Identität verloren hat

Die Stimmung im Old Trafford, dem sogenannten “Theatre of Dreams”? Sie war lange Zeit großartig im Duell zwischen Manchester United und dem FC Bayern München am 12. Dezember.

Spätestens nach 70 Minuten jedoch, als die Münchner durch Kingsley Coman in Führung gingen, wurde dem letzten Zuschauer bewusst: Das Gruppen-Aus in der Champions League nahm konkrete Formen an und war kurze Zeit später bittere Realität.

Schon 14 Tage später hat sich nach diesem Einschnitt einiges verändert beim englischen Rekordmeister: Kurz vor dem traditionellen Spieltag am Boxing Day - United trifft am Abend (ab 21 Uhr LIVETICKER) auf den starken Tabellen-Dritten Aston Villa - hat bei dem kriselnden Fußball-Schwergewicht eine neue Ära begonnen.

Noch ist nur bedingt abzusehen, wie viel Veränderung der Einstieg von Chemie-Milliardär Jim Ratcliffe bei dem Traditionsteam noch bringen wird. Sicher ist allerdings: Dass jede Menge umgeworfen werden muss, ist jedem im United-Umfeld klar.

Manchester United trauert immer noch Idol Ferguson hinterher

“Der Verein ist an einem neuen Tiefpunkt angekommen”, konstatierte der Telegraph nach dem Abflug aus der Königsklasse. Das Boulevard-Blatt Daily Mail bezeichnete die „Red Devils“ als Team, das „nicht in diesen Wettbewerb“ gehöre - „blutleer, uninspiriert und verzweifelt mittelmäßig“.

In der Premier League läuft es nicht besser: Platz 8 in der Tabelle und 12 Punkte Rückstand zum FC Arsenal an der Spitze spiegeln einen tiefgrauen Alltag wider. Manchester United im ausklingenden Jahr 2023 ist immer noch weit weg vom Selbstverständnis, das die goldene Ära unter Sir Alex Ferguson über Jahrzehnte definiert hat.

Ten Hag ist Trainer Nummer acht seit 2013

Seit dem Ende des 27 Jahre währenden Ferguson-Zeitalters 2013 ist Erik ten Hag Trainer Nummer acht. Vor dem Niederländer versuchten sich David Moyes, Ryan Giggs, Louis van Gaal, José Mourinho, Ole Gunnar Solskjaer, Michael Carrick und Ralf Rangnick.

In diesen zehneinhalb Jahren investierte United beinahe zwei (!) Milliarden Euro. Trainer kamen und gingen, jeder durfte seine Idee umsetzen und mit viel Geld in der Tasche auf Shoppingtour gehen. Eine übergeordnete Philosophie ließ sich unter diesen Umständen allerdings nicht entwickeln.

„Es scheint, als hat jeder Spieler, der neu in den Klub kommt, Probleme. Ich glaube, selbst wenn man Lionel Messi verpflichten würde, hätte er hier im Moment Probleme“, sagte Klub-Legende Paul Scholes einmal: „Ich habe das Gefühl, dass man beim FC Liverpool und Manchester City zu uns rüberschaut und lacht. Genau wie wir es vor einigen Jahren getan haben.“

Fünf Jahre sind diese Sätze alt - und wirken unverändert aktuell. Während Lokalrivale ManCity mit Pep Guardiola und Liverpool mit Jürgen Klopp Identität und anhaltenden Erfolg gefunden haben, ist der einstige Serienmeister noch immer auf der Suche.

Liverpool als Vorbild für Manchester United

Es ist zwar nicht so, dass in den vergangenen Jahren alles schlecht lief am Old Trafford: Die Red Devils wurden jeweils einmal englischer Pokalsieger, Ligapokalsieger und Europa-League-Sieger, zudem zog man in diesem Zeitraum siebenmal in die Königsklasse ein.

Kein einziger Meistertitel allerdings sprang seit Fergusons Abschied im Jahr 2013 heraus - zu wenig für die Ansprüche der hochdekorierten Fußball-Institution, die über 150.000 Mitglieder hat und jede Saison rund 75.000 Fans pro Partie ins Stadion lockt.

Auf der Suche nach einer neuen Philosophie, die die Zuschauermassen wieder dauerhaft begeistern soll, ist nach SPORT1-Informationen ausgerechnet der langjährige Erzfeind Liverpool ein Leitbild: Eine Mischung aus Umschaltmomenten und gezieltem Ballbesitzfußball, viel Power und Emotionalität - auch bei United würden sie gern etwas Ähnliches wie den Klopp-Fußball sehen, den der deutsche Coach an der Merseyside etabliert hat.

Eine Hilfe dabei könnte der belgische Jung-Nationalspieler Johan Bakayoko vom PSV Eindhoven sein: Der 20 Jahre alte Rechtsaußen steht nach SPORT1-Informationen auf der Liste von United, seine Explosivität und Quote (Vier Tore und 13 Vorlagen) beeindrucken.

Transfer-Flops pflasterten den Weg der „Red Devils“

Liverpooler Verhältnisse im positiven Sinn würde gewiss auch Ineos-Chef Jim Ratcliffe gern sehen, der neue starke Mann hinter den Kulissen des Klubs: Der Unternehmer hat 25 Prozent der Anteile erworben und steckt weitere 270 Millionen Euro ins marode Stadion.

Die Erfahrung lehrt allerdings: Ein potenter Geldgeber allein ist keine Erfolgsgarantie, ManUnited sucht seit langem auch einen starken Mann in Sachen Sportkompetenz: Der ehemalige Klubvize Ed Woodward - dessen Name mit unzähligen Transfer-Fehlgriffen verbunden ist - war es nicht, nun soll auch Sportdirektor John Murtaugh vor der Abberufung stehen. Die Gerüchte rund um Dan Ashworth von Newcastle United als möglichen Nachfolger sind nicht aus der Luft gegriffen.

Wer immer es letztlich wird: Die Mission ist klar, die Transfer-Floprate muss deutlich sinken. Radamel Falcao, Memphis Depay, Morgan Schneiderlin, Alexis Sanchez, Wilfried Zaha, Angel Di Maria oder Fred: viel Geld, wenig Ertrag. Einen Megaeinkauf à la Cristiano Ronaldo? Den gab es lange nicht mehr bei United. Auch um den ehemaligen BVB-Jungstar Jadon Sancho entwickelte sich eine turbulente Seifenoper anstelle einer Erfolgsstory.

“Das Geld wurde in den letzten Jahren planlos ausgegeben - was kann man dafür vorweisen?“, kritisierte einmal England-Legende Rio Ferdinand: „Das ist nicht zu verteidigen. Es gibt nichts, was darauf hindeutet, dass die Grundlagen für die nächsten Jahre gelegt werden.”

Auch dieses Zitat ist sowohl alt - vier Jahre - und unverändert aktuell. Es gibt einiges zu tun, um zehn weitgehend verlorene Jahre aufzuholen.