Tour de France-Stimme Florian Naß: "Mittlerweile sind fehlende Idole ein Problem"

Er begleitet die Tour seit 1997: ARD-Mann Florian Naß kennt sich mit dem größten Radrennen der Welt aus wie kaum ein zweiter deutscher Sportjournalist. Auch 2023 wird er mit seinem Experten Fabian Wegmann, dem ehemaligen Spitzenfahrer, kommentieren. Was kann man von der Tour 2023 erwarten? (Bild:  HR/Gisela Dienersberger)
Er begleitet die Tour seit 1997: ARD-Mann Florian Naß kennt sich mit dem größten Radrennen der Welt aus wie kaum ein zweiter deutscher Sportjournalist. Auch 2023 wird er mit seinem Experten Fabian Wegmann, dem ehemaligen Spitzenfahrer, kommentieren. Was kann man von der Tour 2023 erwarten? (Bild: HR/Gisela Dienersberger)

Am 1. Juli beginnt die Tour de France. Seit 1997 begleitet Florian Naß das größte Radrennen der Welt, seit 2006 ist er die deutsche Stimme der Tour im Ersten. Im Interview spricht der 55-jährige Frankfurter über Favoriten, deutsche Radsport-Probleme und die faszinierendsten Etappen des Jahres 2023.

Wenn man Florian Naß im Ersten (ab 1. Juli) die Tour de France kommentieren hört, entstehen besondere Momente. Der 55-jährige Sportjournalist ist seit 1997 dabei. Seit 2006 sitzt er fürs Erste am Kommentatoren-Mikrofon. Und der Mann scheint jede Kurve, jedes noch so kleine Chateau am Wegesrand, vor allem aber jede noch so kleine Eigenschaft der Fahrer zu kennen. Naß, der jede Etappe am Morgen vor dem Start noch persönlich abfährt, spricht im Interview über den sehr besonderen Kurs des Jahres 2023, das zu erwartende Favoriten-Duell und die gravierenden Veränderungen im deutschen Radsport seit den Tagen Jan Ullrichs.

teleschau: Wie schätzen Sie das Spannungspotenzial der Tour de France 2023 ein?   Florian Naß: Die Tour wird von Beginn an sehr schwer. Was wir noch vor zehn Jahren hatten, dass man sich eine Woche lang einrollen konnte, das gibt es nicht mehr. Und 2023 schon gar nicht. Weil es zum Auftakt im Baskenland und danach in den Pyrenäen sofort bergig wird, bedeutet dies, dass sich die Klassement-Fahrer sofort zeigen müssen. Wir werden sehr prominente Etappensieger haben.   teleschau: Geht es die ersten Tage schon ins Hochgebirge?    Naß: Nein, aber im spanischen Baskenland - übrigens eine absolut radsportverrückte Region - ist es dennoch bergig und schwer. Und danach geht es in Pyrenäen, am fünften und sechsten Tag. Eine Besonderheit der Tour 2023 ist, dass der Norden und Süden Frankreichs, also die klassische große Schleife, nicht gefahren wird. Stattdessen geht es relativ zentral mitten durchs Land, aber unter Mitnahme sämtlicher Gebirge Frankreichs. Nach den Pyrenäen geht es lange durchs Zentralmassiv, wir sind im Jura, den Alpen und zum Schluss in den Vogesen. Die Hoffnung der Veranstalter ist, dass sich vielleicht erst auf der wahnsinnigen Etappe über den Ballon d´Alsace und fünf weitere Anstiege die Tour entscheidet. Das wäre dann der vorletzte Tag, wenn es zum Markstein geht.

Die Tour de France 2023 startet am 1. Juli im spanisch-baskischen Bilbao. Spannend dürfte es in diesem Jahr zwischen Jonas Vingegaard und Tadej Pogačar werden. Die Dokumentation "Mythos Tour" zeigt zudem die Geschichte des legendären Radrennens (ebenfalls 1.7., gegen 18 Uhr im Ersten oder in der ARD Mediathek).  (Bild: SR/ASO)
Die Tour de France 2023 startet am 1. Juli im spanisch-baskischen Bilbao. Spannend dürfte es in diesem Jahr zwischen Jonas Vingegaard und Tadej Pogačar werden. Die Dokumentation "Mythos Tour" zeigt zudem die Geschichte des legendären Radrennens (ebenfalls 1.7., gegen 18 Uhr im Ersten oder in der ARD Mediathek). (Bild: SR/ASO)

Pogačar? "Es ist schwer vorherzusagen, mit welcher Form er an den Start gehen kann"

teleschau: Gibt es für Sie noch weitere Highlights?    Naß: Auf jeden Fall muss man den Sprint nach Bordeaux nennen. Er ist ebenso legendär wie die letzte Etappe nach Paris. Und für mich das absolute Highlight der Tour: die Rückkehr des Puy de Dome. Das ist ein Vulkankegel in der Auvergne, bei Clermont-Ferrand. Die schmale Straße den Berg hinauf wurde zuletzt 1988 gefahren. Es ist ein Mythos der Tour, der ein bisschen verschütt gegangen ist - weil es eine logistisch schwer zu bedienende Etappe ist. Zum Gipfel führt nur eine Straße, die ist sehr eng und schlecht ausgebaut. Aber natürlich ist auch der Col de la Loze in den Alpen ein toller Anstieg, auf den ich mich sehr freue.    teleschau: Kommen wir zu den Favoriten: Wer wird die Tour gewinnen?    Naß: Für mich kommen nur zwei Fahrer infrage: Jonas Vingegaard, der Vorjahressieger, und Tadej Pogačar. Vor ein paar Wochen musste ich einen Tipp abgeben, und da habe ich mich auf Pogačar festgelegt - weil er ein außergewöhnlich gutes Frühjahr gefahren hat. Aber dann kam seine schwere Handverletzung. Es ist schwer vorherzusagen, mit welcher Form er an den Start gehen kann. Nachdem ich jetzt zudem gesehen habe, wie Vingegaard bei der Dauphiné-Rundfahrt aufgetreten ist, muss ich meinen Tipp fast revidieren und sagen: Vingegaard ist vielleicht sogar leichter Favorit.    teleschau: Ist es leichter, vor Beginn des Rennens den Tour-de-France-Sieger vorherzusagen als beispielsweise vorm ersten Spiel den Fußballweltmeister von Katar?    Naß: Ja, es ist sicher einfacher, den Tour-Sieger als den Fußballweltmeister vorherzusagen. Es lässt sich sicher auch an den Wettquoten festmachen. Ich verfolge sie zwar nicht, bin mir aber sicher, dass sich die Quoten auf Pogačar und Vingegaard deutlich von den anderen abheben. Es gibt da noch eine Mannschaft, da bin ich ein bisschen ratlos. Das ist Ineos, der frühere Seriengewinner, als sie noch Sky hießen. Sie sind super besetzt und auch finanziell fantastisch ausgestattet. Einer von ihnen müsste eigentlich noch aufs Podium fahren. Es könnte aber auch ein Richard Carapaz sein, den Ineos an Education abgegeben hat.

Ausschnitt aus der ARD-Dokumentation "Mythos Tour" am 1. Juli gegen 18 Uhr im Ersten oder in der ARD Mediathek: In diesem Jahr lassen 21 Etappen (3.400 Kilometer) den Norden und Süden des Landes beinahe komplett aus und durchqueren Frankreich unter Mitnahme sämtlicher Gebirge eher "mittig".  (Bild: SR/ASO)
Ausschnitt aus der ARD-Dokumentation "Mythos Tour" am 1. Juli gegen 18 Uhr im Ersten oder in der ARD Mediathek: In diesem Jahr lassen 21 Etappen (3.400 Kilometer) den Norden und Süden des Landes beinahe komplett aus und durchqueren Frankreich unter Mitnahme sämtlicher Gebirge eher "mittig". (Bild: SR/ASO)

"Vielleicht kann Geschke das Bergtrikot gleich zu Beginn holen"

teleschau: Wie sieht es mit den deutschen Fahrern aus. Was können sie 2023 erreichen?    Naß: Man muss auf einen Etappensieg hoffen. Mehr ist meiner Meinung nicht drin. Wem das Terrain entgegenkommen könnte, ist Simon Geschke. Das wellige Profil der ersten Tage ist eigentlich seins. Das kann er wirklich gut. Und natürlich ist er nach neun Tagen im Bergtrikot 2022 heiß darauf, so etwas noch mal zu erleben. Vielleicht kann Geschke das Bergtrikot sogar am ehesten gleich zu Beginn holen. Er hat im letzten Jahr übrigens mit für den meisten Wirbel und die meisten Zuschauer-Fragen bei uns in der ARD-Übertragung gesorgt. Man sieht daran wieder, dass wir Deutsche beim Radsport deutsche Helden sehen wollen, dann ist das Interesse weitaus größer. In den klassischen Radsport-Nationen ist dieser Effekt nicht so bedeutend wie bei uns.   teleschau: Wie viele deutsche Fahrer werden mitfahren?    Naß: Das wird man wie immer erst eine knappe Woche vor dem Auftakt erfahren. Einige Nominierungen sind noch unklar. Ich schätze, es werden weniger als zehn deutsche Fahrer im Feld sein. Es gab Jahre, da hatten wir 15 Starter. Die deutschen Fahrer 2023 werden alle eine Spezialaufgabe haben: auf einen Etappensieg dürfte auch Nils Politt setzen, Geschke aufs Bergtrikot und John Degenkolb wird bei DSM-Firmenich als Road-Captain agieren. Wir haben jedoch keinen dabei für die Gesamtwertung.

Der Ex-Profi und ein journalistisches Urgestein der Tour: Fabian Wegmann (links) und Florian Naß funktionieren seit vielen Jahren als kommentierendes Gespann der Tour de France in der ARD. (Bild: Florian Naß)
Der Ex-Profi und ein journalistisches Urgestein der Tour: Fabian Wegmann (links) und Florian Naß funktionieren seit vielen Jahren als kommentierendes Gespann der Tour de France in der ARD. (Bild: Florian Naß)

"Der Straßenradsport in Deutschland hat große Nachwuchsprobleme"

teleschau: Weil es keinen deutschen Fahrer gibt, der im Jahr 2023 das Zeug dazu hätte?    Naß: Lennard Kämna hat sich diesmal beim Giro de Italia versuchen dürfen. Ich finde es persönlich schade, dass er nicht die Tour de France fährt, denn es ist nun mal das größte Radrennen der Welt - mit der größten Aufmerksamkeit. Der Straßenradsport in Deutschland hat große Nachwuchsprobleme. Ganz anders als der Mountainbike-Sport. Deshalb muss man versuchen, dass die besten Deutschen bei der Tour mitfahren. Kämna ist nun Top 10 beim Giro gefahren, das ist gut. Ich traue ihm aber auch zu, dass er mal die Top 10 bei der Tour de France erreicht.

teleschau: Wie sehen Sie das Interesse der Deutschen am Radsport? Man hat das Gefühl, dass sich noch immer viele vom Doping des Teams Telekom mit Jan Ullrich persönlich beleidigt fühlen ...    Naß: Die persönliche Enttäuschung der Deutschen mag auch eine Rolle spielen. Mittlerweile sind jedoch fehlende Idole ebenfalls ein Problem. Man darf nicht vergessen: Das Interesse der Deutschen verschwand ja nicht nur rasant mit den Doping-Enthüllungen, es steigerte sich zuvor ebenso rasant mit den Erfolgen des Teams Telekom. Das ging alles sehr schnell nach oben damals. Trotzdem hatten wir bei der ARD im letzten Jahr sehr gute Quoten mit der Tour. Knapp zwölf Prozent Marktanteil, weshalb wir die Übertragung im Ersten dieses Jahr wochentags fast zwei Stunden früher am Tag beginnen. Die ersten Phasen der Etappen liefen letztes Jahr noch bei One, dieses Jahr kommt fast alles im Ersten. Es sind ungefähr 25 Stunden mehr Radsport im Ersten gegenüber 2022. Unter der Woche senden wir fast immer schon um 14.10 Uhr, und das geht dann etwa bis 17.30 Uhr.

Begeisterung bei der Tour de France: Nach der Fußball-WM und Olympia gilt das Radrennen als drittwichtigste Sportveranstaltung der Welt. (Bild: SR/ASO)
Begeisterung bei der Tour de France: Nach der Fußball-WM und Olympia gilt das Radrennen als drittwichtigste Sportveranstaltung der Welt. (Bild: SR/ASO)

"Vorbilder und Idole können vieles ändern"

teleschau: Woran liegt es eigentlich, dass einige Sportarten beim Nachwuchs im Trend liegen, wie Mountainbike, und die Straßenfahrer auf einmal nicht mehr so interessant sind? Sind das Wellenbewegungen der Mode?    Naß: Ach, dazu gibt es viele Theorien. Bestimmt spielt eine Rolle, was im Fernsehen - beziehungsweise mittlerweile auch in anderen Medien, die Bilder liefern - gut aussieht. Beim Mountainbike sind die spektakulären Szenen vielleicht in größerer Verdichtung zu sehen. Zudem fehlt es an Nachwuchsrennen, um sich überhaupt zu probieren. Aber wie gesagt: Vorbilder und Idole können vieles ändern. So funktioniert es überall, zum Beispiel auch beim Handball. Früher habe ich in Handballhallen viele Kinder gesehen, die sich die Frisur von Pascal Hens haben schneiden lassen. An solchen Dingen sieht man, was wirklich populär ist. Wir brauchen auch neue Vorbilder im Radsport.    teleschau: Sie sind seit drei Jahrzehnten bei der Tour vor Ort. Die meisten Menschen kennen sie nur aus dem Fernsehen. Was ist der größte Unterschied, wenn es um die Wahrnehmung des Rennens geht?    Naß: Die Atmosphäre vor Ort ist bei jedem großen Sport-Event, aber gerade bei der Tour, schwer zu toppen. Man kann sie über das Fernsehen nur teilweise transportieren. Aber ich bin unter anderem vor Ort, um es zu versuchen. Rein sportlich könnte ich die Rennen auch aus dem Sendezentrum in Saarbrücken kommentieren. Aber diesen Detailreichtum der Wahrnehmungen und die Atmosphäre würde ich dann nicht spüren. Wenn wir nur über die Wahrnehmung des Rennens an sich reden, gibt es aber auch einen gewaltigen Unterschied: Vor Ort wirkt das Rennen noch wesentlich schneller. Wenn du am Streckenrand stehst und die Fahrer brettern an dir mit 40 oder 50 Kilometern pro Stunde vorbei, oder sogar mit über 70 beim Zielsprint, dann nimmt man diesen Speed ganz anders wahr. Fernsehbilder werden von Motorrädern und Helikoptern gemacht, die parallel mitfliegen. Das verlangsamt das Ganze in unserer Wahrnehmung. Ich kann nur empfehlen, sich mal ein großes Radrennen vor Ort "live" anzuschauen. Das erweitert noch einmal den Horizont.

Das Erste überträgt 2023 acht Flachstrecken, vier hügelige Tageswertungen und acht Gebirgsetappen mit vier Bergankünften in Cauterets-Cambasque, Puy de Dôme, Grand Colombier und Saint-Gervais Mont-Blanc erleben. Nur ein Einzelzeitfahren (Dienstag, 18. Juli, 22,4 Kilometer von Passy nach Combloux) steht auf dem Programm.  (Bild: SR/ASO)
Das Erste überträgt 2023 acht Flachstrecken, vier hügelige Tageswertungen und acht Gebirgsetappen mit vier Bergankünften in Cauterets-Cambasque, Puy de Dôme, Grand Colombier und Saint-Gervais Mont-Blanc erleben. Nur ein Einzelzeitfahren (Dienstag, 18. Juli, 22,4 Kilometer von Passy nach Combloux) steht auf dem Programm. (Bild: SR/ASO)