Urteil in Straßburg: Endlich Klimaschutz per Gerichtsbescheid

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte verdonnert Schweiz zu mehr Maßnahmen gegen den Klimawandel – Urteil wird auch andere Länder betreffen

Rosmarie Wyder-Walti und Anne Mahrer, Vertreterinnen der Schweizer Klägerinnen, bei der Anhörung vorm Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte am Dienstag in Straßburg (Bild: REUTERS/Christian Hartmann)
Rosmarie Wyder-Walti und Anne Mahrer, Vertreterinnen der Schweizer Klägerinnen, bei der Anhörung vorm Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte am Dienstag in Straßburg (Bild: REUTERS/Christian Hartmann)

Es ist historisch: Europas oberste Hüter in Sachen Menschenrechte geben nicht nur einer Gruppe von Seniorinnen aus der Schweiz recht – mit ihrem Votum drücken die Richter der Politik und der Wirtschaft einen Zollstock in die Hand. Mit dem müssen sie nun ordentlich nachmessen.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Einfach eingesperrt werden, das ist schon ein Verstoß gegen elementares Recht, würde man sagen. Besonders, wenn keine Straftat vorliegt. Doch so ergeht es mittlerweile jeden Sommer Millionen von Menschen in Europa: Wenn die Sonne knallt, das Klima drückt, dann gehen zum Beispiel alte Menschen besser nicht mehr auf die Straße. Denn die Sommer werden unerträglicher. Sie werden heißer und greifen geschwächte Körper an. Das mag man Schicksal nennen. Stimmt aber nicht. Denn die heißen Sommer sind menschengemacht, genauso wie andere Wetterextreme wie Dauerregen, Überflutungen und Dürre auf dem Acker.

Wir können etwas dafür. Das ist die schlichte Erkenntnis, die wir nun amtlich vom Gericht zugestellt bekommen haben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat klagenden Seniorinnen aus der Schweiz zugestimmt, dass ihr Land zu wenig gegen den Klimawandel unternehme. Und verdonnerte den Staat zu entsprechenden Maßnahmen. Das betrifft erstmal nur die Alpenrepublik. Da es sich aber um eine Einrichtung des Europarats handelt und die Richter sehr kategorisch urteilten, wird dieses historische Urteil viele Nachahmer finden: In den Ländern Europas werden nun Klagen rollen. Und die Entscheidung aus Straßburg ist verbindlich. Zwar könnte sich die Schweiz daran nicht halten, aber der internationale Druck würde steigen, denn Straßburg ist nicht einfach zu ignorieren, es handelt sich nicht um ein Gericht für Gedöns.

Es wird nicht gebührend auf Bedrohung reagiert

Die Justiz bügelt damit aus, was Politik und Wirtschaft bisher vermasselten: Die Wissenschaft hat längst geklärt, dass der Klimawandel mit seinen desaströsen Folgen für die Menschheit von uns selbst befeuert wird, nur reagieren wir nicht gebührend auf diese Bedrohungen. Unternehmen denken erstmal an den Geldbeutel und Politiker an die Wähler. Da will man sich gegenseitig nicht wehtun. Das funktionierte, solange die Opfer des Klimawandels auf weit entfernten Pazifik-Atollen lebten. Doch nun ist er längst in der Schweiz und in Deutschland angekommen. Wer will schon gerne eingesperrt sein, nur weil die Verantwortlichen nicht vom Drehen an der Temperaturuhr lassen?

Und noch etwas sagt dieses Gerichtsurteil: Das Menschengemachte am Klimawandel ist amtlich. Das sollten sich Schlaumeier wie die Leute von der AfD hinter die Ohren schreiben. Noch immer hausieren sie mit der schrillen These, es gebe entweder keinen Klimawandel, oder er sei unabhängig von der Hand des Homo sapiens. Beides ist Quatsch und verfängt nur, wenn man Augen, Ohren und Nase zuhält.

Das Amtliche ist nicht zu unterschätzen

Was wird nun aus diesem Urteil folgen? Zum einen demonstrierten die Richter, dass sie weitere Prozesse erwarten. Als Bedingung dafür setzen sie, dass mögliche Parteien sich erstmal durch die gerichtlichen Instanzen ihrer jeweiligen Heimatländer klagen müssen. Fruchtet dies nicht, stehen ihnen die Türen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte offen, denn: Hey, nicht eingesperrt sein ist Menschenrecht. Nicht von Fluten weggerissen werden ist Menschenrecht. Nicht als Bauer in der Existenz bedroht sein ist Menschenrecht. Wir sollten endlich anfangen, die Gefahren vom Ende her zu denken. Dann wird es so konkret, wie es längst ist.

Wir sollten endlich anfangen, die Gefahren des Klimawandels vom Ende her zu denken. (Symbolbild: Getty)
Wir sollten endlich anfangen, die Gefahren des Klimawandels vom Ende her zu denken. (Symbolbild: Getty)

Eine weitere Bedingung ist, dass nicht Einzelpersonen klagen können. Ansonsten würde der Gerichtshof mit der Flut der zu erwartenden Anzeigen nicht klarkommen. Die Frauen aus der Schweiz haben sich in einem Verein organisiert und zählen rund 2000 Mitglieder mit einem Durchschnittsalter von 73 Jahren.

Politik und Wirtschaft, die gestern gescholtenen Esel, gaben sich nach dem Urteil kleinlaut. Doch die Tragweite ist riesig. Ihr Versagen steht nun auf einem Blatt Papier mit Stempel und allem Pipapo. In einzelnen Ländern werden Klagen und Gerichtsurteile folgen, die empfindliche Schadensersatzzahlungen zur Folge haben – oder die konkret in die Regierungspolitik eingreifen werden, nach dem Motto: Wenn ihr nicht könnt oder wollt, zeigen wir es euch.

Wir brauchen zwar wirklich viel Zeit, um das mit dem Klimawandel in unsere Gehirnrinden hinein sacken zu lassen. Aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat uns dafür einen kleinen Ruck gegeben.