Vorzeigeland Finnland? Erfolgsgeschichte mit Drogen-Makel
Es ist schon irgendwie irre: Seit Jahren verteidigt Finnland erfolgreich seinen festen Platz im Firmament der Hier-Ist-Alles-Prima-Staaten, ganz offiziell und statistisch untermauert mit Zahlen der Vereinten Nationen: spitze Gesundheitssystem, klasse Erziehungssystem, jede Menge glückliche Menschen… Doch andererseits hat sich seit den 2000er-Jahren die Zahl der Drogentoten verdreifacht. Und nirgendwo sonst in der Europäischen Union gibt es anteilsmäßig so viele junge Drogentote wie in Finnland. Warum nur? Auf der Suche nach Antworten hat sich unser Reporter Hans von der Brelie mit seinem MoJo-Rucksack voller Kameratechnik auf den Weg gemacht nach Skandinavien.
Die Finnen wählen im April ein neues Parlament. Die restriktive Drogenpolitik ist eines der kontrovers diskutierten Wahlkampfthemen. Das hängt zusammen mit einer der jüngsten Veröffentlichungen der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle EMCDDA. Die EU-Agentur mit Sitz in Portugal ist gut im Zählen und Vergleichen und hat herausgefunden: Was junge Drogentote betrifft, so schneidet innerhalb der Europäischen Union kein Land so schlecht ab wie Finnland. Hier sterben Menschen im Schnitt zehn Jahre früher an ihrem Drogenkonsum als anderswo in Europa.
Langsam öffnet sich die Metalltüre der öffentlichen Bedürfnisanstalt am Rande eines kleinen Parks im Zentrum Helsinkis. Unsicher tritt ein Mann mit rotblondem Haar und blutbefleckter Hose aus der grün lackierten Klo-Box, blinzelt ins fahle Licht der Wintersonne. Ich spreche ihn an. Antti ist 29 Jahre alt, harte Drogen nimmt er seit neun Jahren.
Antti hat sich gerade einen Schuss Subutex gesetzt. Intravenös. Und nicht sehr geschickt: Der Metallrost der Toilette ist voller Blut. In der Hand hält Antti zwei Alkoholflaschen. Sie sind leer. "Ich habe Drogen genommen – und ich fühle mich schuldig, dass ich nicht nüchtern sein kann", meint Antti. Er will erzählen, berichten, auf seine Not und sein konkretes Problem aufmerksam machen: "Ich versuche derzeit, in Reha zu gehen, aber ich schaffe es einfach nicht, an einen Platz zu kommen", meint Antti und hat damit den Finger auf einen echten Missstand gelegt: Auch wer will, kommt nicht so ohne weiteres in Therapie, es gibt finnlandweit zu wenig Plätze, zu wenig Betreuer. Und: viel zu viele Abbrecher, vor allem unter den jungen Patienten.
Warum rutschen so viele junge Menschen in die Sucht ab?
Wir kommen ins Gespräch. "Mein großer Bruder hat sich mit Drogen zugedröhnt", meint Antti auf meine Frage, warum in Finnland so viele junge Menschen in die Sucht rutschen. "Er hat mich auch welche nehmen lassen und davon wurde ich dann abhängig." So wie ihm ginge es vielen Drogenabhängigen, die er auf der Straße und im Obdachlosenheim treffe. Schlechter Umgang, falsche Freunde, Druck der Gruppe, der kindliche Wunsch mithalten zu wollen "mit den Großen", "mit den Coolen".
"Hast Du keine Angst vor der Droge, das ist doch saugefährlich, das Zeugs", frage ich mit Blick auf sein zerschundenes Gesicht. Die verkrusteten Wunden an Schläfe und Nase erklärt Antti mit Stürzen im Drogen- und Alkoholrausch. Dann bejaht er meine Frage: "Ja, klar, ich habe ständig Angst davor, dass die Drogen mich umbringen, dass ich ein Bein oder so verliere." Dann hebt er seine Hand und ich sehe, dass ein Finger fehlt. "Ich habe einen Finger verloren, ich war voll auf meinem Trip und die anderen haben mir meinen Finger abgeschnitten", erklärt Antti ausdrucksstark mit entsprechender Geste.
Dreckige Drogen vom Klo-Boden
Dann zieht er sich seine Jacke aus, um mir seinen rechten Arm zu zeigen. Eine schlimme Narbe zieht sich über den seltsam verfärbten Arm, es ist kaum Muskelmasse übrig. "Einmal habe ich ein Aufputschmittel auf dem Toilettenboden gefunden, ich habe das aufgehoben und mir injiziert. Davon habe ich dann eine Infektion bekommen", fasst Antti zusammen. Dann fügt er hinzu: "Es gibt keinen sauberen Ort, um Drogen zu nehmen, es ist immer dreckig." – Damit hat Antti recht, denn so etwas wie Fixerräume gibt es nicht in Finnland.
Suvi Helle und Ninja Ojala von der Hilfsorganisation Sininauhasäätiö mischen sich in das Gespräch ein. Antti – der zwar mühsam, aber durchaus verständlich Englisch mit mir gesprochen hat – schaltet nun um auf Finnisch. Sininauhasäätiö bemüht sich darum, Obdachlosen ein eigenes Zimmer zu verschaffen, sei es in einer betreuten Wohneinheit, sei es in einer Sozialwohnung. Auch Drogenabhängige werden angesprochen, denn Sininauhasäätiö – "Blaues Band" in der Übersetzung – folgt der Logik, dass die Menschen zuallererst ein festes Dach über dem Kopf benötigen, alles andere (Entzug, Resozialisierung, Arbeit) folgt.
Petition für die Einrichtung medizinisch überwachter Fixerräume
Doch es gibt auch Notfälle wie Antti. Suvi Helle, die Projekt-Koordinatorin von Sininauhasäätiö, analysiert die Lage: "Er ist einer der Menschen mit dem größten Risiko, an einer Überdosis zu sterben. Ich werde zu dem Obdachlosenheim gehen, wo er schläft und mit ihm darüber reden, nicht mehr Alkohol mit Drogen zu mischen. Und dann werde ich ihm dabei helfen, eine Opioid-Substitutionstherapie zu bekommen."
Suvi und ihre Freunde haben geholfen, eine Petition für die Einrichtung medizinisch überwachter Fixerräume in Umlauf zu bringen. Denn die öffentlichen Toiletten sind Todesfallen: "Momentan ist es so, dass die Leute hier auf dem Klo ihre Drogen konsumieren. Die Toiletten sind extrem schmutzig. Es ist wirklich gefährlich für die Gesundheit", meint Suvi. "Sichere Injektionsräume könnten eine Lösung für das Problem der steigenden Zahl von Drogentoten in Finnland sein."
Drogen im Wahlkampf
Die Unterschriftenaktion startete im Februar des vergangenen Jahres, innerhalb von sechs Monaten unterzeichneten 50.000 Menschen, für das dünn besiedelte Finnland ist das eine ganze Menge. Ergebnis: Jetzt im Wahlkampf sehen sich die finnischen Parteien gezwungen, sich auch in der äußerst umstrittenen Frage der Fixerräume zu positionieren.
Während die liberalen Parteien, die Grünen und die Linke die Einrichtung offizieller Injektionsräume befürworten, sehen einige der konservativen Parteien in den Fixerräumen ein Risiko, dem Drogenkonsum sozusagen gesellschaftliche Akzeptanz zu verschaffen und letztendlich Drogenmissbrauch zu befördern. Eine ganze Reihe bürgerlicher Parteien der politischen Mitte sind verunsichert und verstecken sich hinter der Forderung nach weiteren wissenschaftlichen Studien, so beispielsweise die finnischen Sozialdemokraten und die Zentrumspartei.
In Finnland gibt es etwa 40.000 Schwerstabhängige
Im Land gibt es geschätzt etwa 40.000 Schwerstabhängige. Suvi und Ninja wissen, wo gefixt wird in der finnischen Hauptstadt. Jetzt hat die Stadt Helsinki Sammelboxen für gebrauchte Nadeln in Parks und bei den öffentlichen Bedürfnisanstalten aufgestellt.
Doch für viele Fixer ist auch das zu viel: Ich filme blutige Nadeln auf dem Boden vor einer Sammelbox. Ninja bückt sich und hebt mit ihrer behandschuhten Hand einige der potenziell todbringenden Drogennadeln auf, lässt sie durch das kleine Loch in den Metallbehälter fallen. Am Rande der Sammelbox entsteht ein kurzes Gespräch mit Suivi und Ninja. Meine Ausgangsfrage: "Was läuft schief in Finnland?"
Illegales Zeugs aus Osteuropa
Suvi: "Die Leute hier nehmen viele Stoffe auf einmal. Ein typischer Fall ist Buprenorphin kombiniert mit Benzodiazepinen und Alkohol - eine tödliche Mischung. Hinzu kommt, dass der Drogenmissbrauch bei uns manchmal sehr früh beginnt. Wir reden hier von 13- oder 14-Jährigen."
Ninja schaltet sich in das Gespräch ein: "Das größte Problem sind die Benzodiazepine. Es gibt einfach so viel davon – und es kommt nicht aus den regulären Arztpraxen." Suvi stimmt zu: "Ja, es ist illegales Zeugs. Benzodiazepine aus Osteuropa." Ninja benennt das Problem: "Und viele schwer Drogenabhängige spritzen sich das intravenös."
Es ist noch kalt, tagsüber schwanken die Temperaturen um den Gefrierpunkt. Ich lade Suvi und Ninja zu einem Kaffee ein, Gelegenheit sich aufzuwärmen und über den einen oder anderen kleinen Erfolg zu sprechen. Ninja lächelt, doch ja, sie kann sich an einige Erfolgserlebnisse erinnern: "Da war dieser junge Abhängige, der kam eines Tages zu mir und sagte, er würde jetzt immer einen Filter einlegen, bevor er sich seinen Schuss setze, einfach nur deshalb, weil ich ihm ständig mit den Risiken im Ohr gelegen habe, wenn er weiterhin ohne Filter Drogen spritze."
Das NUOLI: ein sicherer Hafen für junge Drogenabhängige
Die beiden nehmen mich mit ins NUOLI, nur einige Straßenzüge entfernt. Das NUOLI ist das einzige Betreuungszentrum in Finnland, in dem drogenabhängige Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auch übernachten dürfen, wenn sie nicht wissen, wohin. Tagsüber betätigen manchmal bis zu 40 junge Menschen den Klingelknopf an der gesicherten Eingangstüre. Ein knappes Dutzend festangestellter Sozialarbeiter arbeiten im Schichtdienst, Tag und Nacht. Bis zu 14 junge Abhängige können sich nach Einbruch der Dunkelheit eine der dicken, weißen, sauberen Matratzen holen, die an der Wand gestapelt sind. Geschlafen wird auf dem Boden und auf den Sofas.
Das NUOLI ist ein sicherer – und sauberer – Hafen für die vielen im finnischen Drogendschungel verirrten Jugendlichen und jungen Erwachsene. Es gibt eine große Waschmaschine, die im Dauerbetrieb läuft: Wer auf der Straße lebt, weiß zu schätzen, hier gelegentlich mal ein paar frische Unterhosen zu bekommen. Und die Sozialarbeiter wissen zu schätzen, hier in Ruhe mit den jungen Menschen reden zu können, Probleme durchzukauen, auf Hilfsangebote und Therapieplätze hinzuweisen.
Drogenkonsum ist im NUOLI tabu, das wissen alle – und halten sich dran: Wer einen Schuss braucht, der geht anderswohin – und darf anschließend aber wieder zurück in die Aufenthaltsräume, auch wenn er oder sie "high" ist. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen, die Abhängigen schließen ihre Siebensachen in persönlichen Schließfächern ein, holen sich einen Kaffee, machen ein Nickerchen oder sehen sich eine Netflix-Serie an. Ziel ist, gezielt die jungen Menschen von der Straße zu holen – und sie über den Umweg des NUOLI vielleicht doch in eine Entzugsbehandlung schleusen zu können.
Einstieg in die Droge mit 12
"Mit 12 habe ich angefangen, Marihuana zu rauchen", erzählt mir der 25-jährige Niko. "Als ich 16 war, habe ich Tee aus Opium zubereitet, dann ging es los mit Ecstasy und Amphetaminen und dann kam die ganze Bandbreite aller nur verfügbaren Drogen. Ich habe so viele Drogen genommen, dass ich ein paarmal haarscharf am Tod vorbeigeschrammt bin. Einmal hat mein Herz aufgehört zu schlagen – Sanitäter haben mir etwas gegeben und mein Herz hat wieder zu schlagen begonnen."
Nikos 26-jähriger Kumpel Matu erinnert sich: "Als ich so um die 20 war, ging das große Sterben los, wirklich. Ich habe schon viele Freunde verloren." Niko pflichtet ihm bei: "Ja, ich habe auch viele Freunde verloren, als ich jünger war. Ich war 20, und die sind (ins Grab gefallen) wie Äpfel vom Baum."
Ob Fixerräume Leben retten könnten, ist nicht nur in Finnland politisch umstritten
Die Frage, ob offizielle Fixerräume Leben retten könnten, ist politisch nicht nur in Finnland umstritten. Wer unter medizinischer Aufsicht die Nadel setzt, bekäme im Fall einer Überdosis sofort Hilfe, sagen Befürworter. Anderswo in Europa gibt es bereits hier und da derartige Räume. Und was meint Matu? "Ich denke, Fixerräume sind eine gute Idee. Denn die öffentlichen Toiletten sind ganz schön versaut. Da hängen alle möglichen Leute herum. Manchmal prügeln die herum oder stechen jemanden ab."
Matu bittet mich, kurz Mikrofon und Kamera auszuschalten, dann erzählt er von einem Überfall, erst ein paar Tage her, bei dem eine größere Gruppe Junkies ihn und seinen Kumpel angriffen. Dann taucht ein Messer in der Geschichte auf. Es gibt einen Stich in den Bauch…
Gequälte Körper
Niko meint: "Es wird jedes Jahr schlimmer und schlimmer mit der Gewalt. Und (die Schläger) sind jünger und jünger. Ich habe mir vorgenommen, in Behandlung zu gehen und ein neues Leben anzufangen, denn das hier ist kein Leben." Die Hände, mit denen er seine Tasse hält, zittern leicht. Auch Matu hat dieses Zittern. Es ist eine unkontrollierbare Reaktion des von Drogen gequälten Körpers.
Niko war früher Drogendealer und selbst gewalttätig. Mit schleppender, ausdrucksloser Stimme erinnert er sich an die Zeit, in der er Tausende Euros im Monat umsetzte. Jetzt muss er erst einmal ins Gefängnis – und freut sich über diese Chance, von der Droge wegzukommen, wie er mir versichert.
Warum gibt es so viele junge Drogentote in Finnland?
In Schweden sind 70 Prozent der Schwerst-Abhängigen in Behandlung, in Finnland nur 20 Prozent. Das könnte vielleicht eine Antwort sein auf die Frage: warum so viele junge Drogentote gerade hier? Meint jedenfalls die finnische Top-Expertin Pirkko Kriikku, die eng mit der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA) zusammenarbeitet.
Pirkko Kriikku, von Haus aus forensische Toxikologin an der finnischen Gesundheitsbehörde THL: "Die Droge, die in Finnland die meisten Todesopfer fordert, ist Buprenorphin. Was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, denn Buprenorphin ist eigentlich ein sehr gutes Medikament. Aber wenn es intravenös gespritzt oder zusammen mit anderen Drogen genommen wird, dann wird es sehr gefährlich und kann den Tod herbeiführen."
Pirkko setzt sich mit dem Blick der Naturwissenschaftlerin für einige grundlegende Änderungen in der Gesundheitspolitik Finnlands ein: "Das allerwichtigste ist, den Zugang zu Therapien zu vereinfachen", meint sie und fügt hinzu: "Und wir müssen alles daran setzen, dass die Leute, die sich einmal für eine Behandlung entschieden haben, auch bis zum Ende dabei bleiben."
Naloxon kann Leben retten
Auch in der Debatte um der "Injektionsräume" positioniert sich Pirkko ohne zu zögern: "Diese Konsumräume, die wir derzeit in Finnland nicht haben, könnten eine Möglichkeit sein, solche Menschen zu erreichen, die wir momentan nicht erreichen können."
Und dann ist da noch etwas, das Pirkko der künftigen finnischen Regierung dringend ans gesundheitspolitische Herz legt: "In vielen Ländern wird an Drogenabhängige das Gegengift Naloxon ausgegeben, und zwar durchaus mit Erfolg. Das ist etwas, was wir hier in Finnland zumindest versuchsweise testen sollten." Die Idee ist einfach: Haben alle Abhängigen Naloxon in der Tasche oder zu Hause, steigen die Überlebens-Chancen. Denn wer sich eine Überdosis setzt, der kann mit Naloxon in letzter Sekunde doch noch gerettet werden - vorausgesetzt, dass Naloxon sofort und augenblicklich zur Hand ist.
Unterwegs mit Finnlands Drogenmafia-Jäger
Der nächste Morgen lässt sich gut an, die Sonne lässt den verschneiten Stadtrand Helsinkis freundlicher aussehen. Und: Kimmo Sainio hat sich bereit erklärt, mich mit dem Auto mitzunehmen. Kimmo ist einer der besten Drogenmafia-Jäger Finnlands. Offiziell hört sich das natürlich anders an, auf der Visitenkarte steht auf Englisch „Senior Detective Superintendent“, im Polizeibezirk Helsinki zuständig für die Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Zusammen mit der europäischen Polizeibehörde Europol hat er die größten Amphetamin-Schmuggelringe des Landes auffliegen lassen. Weshalb die Dealer jetzt zu anderen Methoden greifen.
"Die ganze Welt hängt derzeit am Handy", meint Kimmo, während er seinen Wagen durch den Vorstadtverkehr lenkt. "Jeder Jugendliche, jedes Kind kann mittlerweile Drogen über das Darknet bestellen." Wie der Alltag seiner Kollegen auf der Straße aussehe, will ich von Kimmo wissen. "Jeden Tag halten wir zur Kontrolle Autos auf den Straßen von Helsinki an, beispielsweise, wenn der Fahrer durch unsichere Fahrweise auffällt oder aufgrund anderer Verdachtsmomente. Und dann finden wir immer in einem der Autos ein Gewehr, und wir finden Drogen. Das ist Alltag."
Kimmo sieht gewissermaßen aus wie ein knallharter Drogenfahnder in einem knallharten Action-Thriller: markante Gesichtszüge, festes Kinn, bohrender Blick. Ein Mann, den die Mafia-Typen fürchten, denn Kimmo und sein Team haben in den vergangenen Monaten und Jahren mehrfach unter Beweis gestellt, dass sie zuschlagen können – nicht mit Fäusten, sondern mit hochmodernen Fahndungstechniken, Abhörgerät und einer hocheffektiven Zusammenarbeit mit europäischen Kollegen.
Nach der Jahrtausendwende schoss der Amphetaminkonsum drogenabhängiger Finnen in die Höhe. Hier im dunklen Norden des Kontinents verfünffachte sich innerhalb weniger Jahre das Problem mit den Amphetaminen. Drogenmafia-Jäger Kimmo und Europol haben dem mit der "Operation Greenlight" ein Ende gesetzt. Kimmo ist stolz auf diesen beruflichen Erfolg. "Wir konnten 600 bis 700 Kilo Drogen beschlagnahmen und rund 200 Personen identifizieren, die Mitglieder in diesen kriminellen Netzwerken waren", erzählt Kimmo während eines kurzen Halts an einer roten Ampel.
Drogenschmuggel ist international, das ist nichts Neues. Kimmos Geheimrezept: In den jeweiligen Herkunfts- und Durchgangsländern die richtigen Partner in den jeweiligen Polizeibehörden zu finden. Wenn es klappt mit dem grenzüberschreitenden Informationsfluss, dann klappt es auch mit dem Zerschlagen der Drogenringe vor Ort, so Kimmos Erfahrung.
"Die kriminellen Gruppen arbeiten in ganz Europa, vor allem in Spanien und den Niederlanden, aber auch in Frankreich", teilt Kimmo sein Wissen. "Und dann haben wir eben die finnischen Ableger für den Vertrieb vor Ort, das ist vielschichtig." Hier in Helsinki gelten insbesondere die Stadtbezirke im Osten als Problemviertel.
Öffentliche Debatte um kriminelle Jugendbanden
Seit kurzem dreht sich die öffentliche Debatte in Finnland um das relativ neue Phänomen krimineller Jugendbanden. "Die haben diesen Lebensstil mit schicken und vor allem superteuren Klamotten, andererseits haben sie aber kein festes Einkommen. Also verkaufen sie Drogen auf der Straße, um mit dem Drogengeld ihren Lebensstil finanzieren zu können", sagt Kimmo. Aber das sind eher die kleinen Fische, um die sich Kimmos Kollegen kümmern, "da haben wir so rund 1000 Fälle pro Jahr", fasst der Top-Fahnder zusammen.
Wir sind jetzt aus der Stadt heraus, von der Umgehungsstraße biegen wir ab in einen schmalen Waldweg, halten auf einem vereisten Parkplatz für Spaziergänger, auf dem eine ganze Reihe Autos steht. Kimmo hat eine Verabredung mit Pauli und Marta...
Finnische Schnüffelmeisterin
Pauli ist Hundeführer, Marta ein Champion: finnischer Meister im Erschnüffeln von Banknotenbündeln, Waffen und Drogen, die gesamte Bandbreite. Marta findet einfach alles. Schneller als alle anderen Spürhunde Finnlands. Mit großen Hundeaugen blickt sie in meine Kamera und wedelt mit dem Schwanz. Dann zischt sie ab: Da vorn, der komische Transporter, der interessiert Marta viel mehr als der offenbar harmlose euronews-Reporter.
Radkästen hinten, Radkästen vorne, Motorblock, systematisch umkreist Marta den Kleinlaster, macht Halt vor der Heckklappe, blickt erwartungsvoll Freund Pauli an. Der Hundeführer versteht den bittenden Blick und öffnet. Wusch, drin ist der Hund! Hinten links, da ist etwas. Marta bellt nicht – Diskretion ist Polizeihund-Ehrensache – sondern legt sich einfach hin, die Schnauze dort, wo Pauli hinlangen soll. Kumpel Pauli rüttelt eine Abdeckplatte los, greift tief hinein in das Fahrgestell, tastet – und zieht einen Plastiksack aus den Innereien des Transporters. Mehrere Kilo Amphetamine, mehrfach luftdicht verpackt in Folien. Für Martas feine Nase trotzdem kein Problem.
Kimmo hat einen Computerausdruck der Gesundheitsbehörde THL mitgebracht. Mit unterschiedlichen Farben ist aufgeschlüsselt, wieviel Drogenspuren im Abwasser der Hauptstadt entdeckt werden konnten. Ein hochinteressanter Mehrjahresvergleich: Bis zu Kimmos Super-Erfolg mit der Europol-Aktion "Greenlights" zeigt die Amphetaminkurve in Helsinkis Klo-Wasser steil nach oben. Ab 2021 dann steil nach unten. Doch was ist das da, frage ich Kimmo und zeige auf eine andere Kurve, die mittlerweile langsam, aber stetig nach oben klettert. "Kokain", seufzt Kimmo und gibt zu: Der Kokainkonsum nimmt zu. Aber auch darum wird sich Kimmo noch kümmern, verspricht er.
Die bisherigen Fahndungs-Erfolge von Mafia-Jäger Kimmo, Hundeführer Pauli und preisgekröntem Spürhund Marta haben dazu geführt, dass weniger reine Drogen auf dem Markt verfügbar sind. Vor allem junge Abhängige in Finnland spritzen sich deshalb nun immer häufiger wilde Drecks-Mischungen – manchmal mit Todesfolge.
Nur acht Prozent der finnischen Jung-Fixer sind in Substitutionsbehandlung
Ich fahre mit dem Zug nach Tampere. Finnlands zweitgrößte Stadt hat ebenfalls ein Problem mit jungen Abhängigen und Drogendeals in der Nähe öffentlicher Bedürfnisanstalten. Immer noch mit derselben Frage im Reisegepäck: Warum so viele Deals mit Todesfolge? Die mögliche Erklärung: Nur acht Prozent der finnischen Jung-Fixer sind in Substitutions-Behandlung.
Viermal lag Tomi auf der Intensivstation. Viermal wäre er fast gestorben. Den Ausstieg schaffte er im Knast, wohin ihn seine krummen Deals gebracht hatten. Doch seit zwei Jahren ist er clean. Auch dank der Unterstützung von KRIS, einer schwedischen Gefangenen-Hilfsorganisation, die ebenfalls in Finnland aktiv ist.
Knast als Rettung
"Erinnerst Du Dich an einen bestimmten Moment, in dem Dein Gehirn Dir ein Warnsignal geschickt hat: Hör jetzt auf damit!", will ich von Tomi wissen. "Meine Rettung war das Gefängnis", meint der kräftige Mann mit den breiten Schultern und Knopf im Ohr, "als ich für die ganzen Verbrechen und Finanzbetrügereien, die ich begangen habe, eingebuchtet wurde. Und das erste Mal in meinem Erwachsenenleben war ich gezwungen, aufzuhören mit dem Drogenmissbrauch."
Und jetzt? Wie soll es weitergehen? Tomi: "Ich habe einen Traum: Ich will Feuerwehrmann werden. Ich will etwas Sinnvolles tun, außerdem mag ich körperlich harte Arbeit." Die Realisierung seines Traumes wird nicht von heute auf morgen möglich sein. Denn Tomi hat keinen Führerschein mehr. Wegen Drogen-Am-Steuer ist sein Schein zwei Jahre lang gesperrt.
Doch Tomi macht nun etwas, was er früher nicht konnte: Er plant, Schritt um Schritt. Ausbildung nachholen. Elternzeit. Sich um das Baby kümmern. Später dann den LKW-Führerschein machen. Wartezeiten mit Kunst überbrücken. Tomi zeigt mir, was er kann: zeichnen, malen. Bei KRIS hat er einen Kunstkurs für Freigänger organisiert. Der Mann hat Talent, sein Betreuer hat einige seiner Werke einem Galeristen gezeigt, der war beeindruckt.
Neustart nach der Sucht
Heute ist Tomis letzter Tag bei KRIS. Daheim wartet Milo auf ihn: sein neugeborener Sohn. Einfach wird es nicht, das neue Leben: Erst wenn Tomis Vorstrafenregister gelöscht wird, kann er sich bei der Feuerwehr bewerben. Und das wird noch einige Jahre dauern.
Die anderen Gruppenmitglieder haben einen Kuchen gestiftet, eine Sahnetorte. Ein letztes Mal Kaffee und Kuchen. Ein letztes Mal erzählen, wie es anfing, das kaputte Elternhaus, die falschen Freunde, der Abstieg, die Deals, die Zusammenbrüche, der Knast, der Entzug, der Ausstieg.
Ja, ein Neuanfang ist möglich. Tomi ist der lebende Beweis. Eine letzte Rede, Tomi räuspert sich, macht lange Pausen, das Schweigen im Raum ist voller Emotionen, vorsichtig setzt Tomi Satz an Satz, es ist ein wichtiger Moment, für ihn und die anderen: "Mit diesen Werkzeugen, diesem Wissen, diesen Fähigkeiten, die ich hier bei KRIS erworben habe, kann ich in mein neues Leben gehen. Sehen wir mal, wohin mich meine neuen Flügel tragen werden."
Zurück in Helsinki treffe ich Heikki. Der Nachbarschaftspolizist ist auf dem Weg ins NUOLI-Betreuungszentrum. Heikki will Vertrauen schaffen, denn junge Abhängige sind oft selbst Opfer von Gewalt, brauchen Schutz. Was hält er, der Polizist, davon, sichere Injektionsräume einzurichten?
Heikki Mäkiprosi: "Räume, in denen sicher Drogen konsumiert werden könnten, wären gut, um Überdosen vorzubeugen, doch vor allem auch, um Menschen zurück ins Gesundheitssystem (in Behandlung) zu bringen."
Im Nuoli wird er freundlich begrüßt, holt sich eine Tasse Kaffee, setzt sich an den großen Tisch im Gemeinschaftsraum. Seine Uniform, volle Ausrüstung mit Schlagstock, Taser, Funkkabel im Ohr, Schulterklappen und so weiter, stört niemanden. Die jungen Menschen hier kennen ihn, Heikki ist für sie ein vertrautes Gesicht. Und genau das ist Heikkis Job: Kaffeetrinken, Zuhören-Können und - wenn nötig - Grenzen aufzeigen.
"Meine Arbeit besteht aus reden", meint der Mann mit dem offenen Blick. Das ist ungewöhnlich in einem Land, das eine der härtesten Anti-Drogen-Gesetzgebungen Europas hat. Hier sind nicht nur Handel und Besitz von Drogen kriminell, sondern auch der Konsum von Drogen, weshalb Drogenabhängige so gut wie nie zur Polizei gehen, auch dann nicht, wenn sie geschlagen, beraubt, verletzt oder vergewaltigt wurden. Und das geschieht regelmäßig. In und um die "grünen Klo-Kästen" da draußen im Park herrscht das Gesetz des Dschungels, das Gesetz der Stärkeren, das Gesetz der enthemmten Meute.
Vergewaltigt und beraubt
Ich begleite Heikki ein Stück auf seiner Runde. Wir gehen an einer betreuten Wohneinheit vorbei, in der viele Drogenabhängige untergebracht sind. Freundliches Nicken, ein paar Worte jeden Tag, oft reicht das schon, als Nachbarschaftspolizist und eventueller Ansprechpartner bei größeren Problemen akzeptiert zu werden.
An der öffentlichen Bedürfnisanstalt im Park klopft Heikki kurz an alle Türen, fragt nach, ob da drinnen alles in Ordnung ist. "Das Risiko für mittellose Drogenabhängige ohne Wohnung besteht darin, dass sie sich ihr Geld dadurch beschaffen, dass sie ihren Körper verkaufen", sagt Heikki. Und wer schwach ist, der muss seinen Körper kostenlos hergeben. Heikki: "Ich habe das selber gesehen, dort drüben beim nächsten Häuserblock, eine Vergewaltigung am hellichten Tag."
Gesetz der Straße
Das Gesetz der Straße besteht darin, als Drogenabhängiger entweder selber Gewalt anzuwenden - und damit andere Schläger auf Distanz zu halten - oder sich einer Gruppe anzuschließen. "Du endest entweder als Opfer oder als Gewalttäter", fasst Heikki seine Beobachtungen zusammen, "und üblicherweise sind es die Kinder und Frauen unter den Drogenabhängigen, die als Opfer enden."
Heikki nimmt seinen Beruf Ernst, er macht sich Sorgen um alle Menschen hier im Viertel, das spüre ich. Ein Mann der helfen will, den Anwohnern, den Gewaltopfern, den Normalos, den Obdachlosen, den Angestellten der Hilfsorganisationen, den Jugendlichen... Und gerade deshalb ärgert er sich darüber, dass die Menschen hier im "Problemviertel" kaum noch den Polizeinotruf wählen, sondern auch bei blutigen Schlägereien und brutalsten Gewaltszenen einfach nur wegsehen, weitergehen, nichts tun.
Heikki: "Wenn jemand Zeuge so einer Notsituation wird, dann hoffe und wünsche ich mir wirklich, dass er oder sie zum Telefon greift, die Polizei oder den Krankenwagen ruft." Es schwingt so etwas wie Bitterkeit in seiner Stimme mit. Denn die Realität sieht anders aus.
"Kein Kind soll erleben müssen, was ich erlebt habe"
Zurück in der Euronews-Sendezentrale überlege ich zusammen mit Cutter Stéphane, wem wir das letzte Wort in dieser Reportage geben sollen. Schließlich entscheiden wir uns im Schnittraum für Niko, den jungen Drogenabhängigen, den wir ganz zu Beginn kennengelernt haben:
"Ich will wie dieser Sozialarbeiter werden. Dann kann ich vielleicht das Leben eines Kindes ändern, auch wenn es nur ein einziges wäre. Ich will nicht, dass auch nur ein einziges Kind so lebt wie ich."