“Thadeusz und die Beobachter” über Berlin: War das Tag X?

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Kein Sender kam gestern an dem Thema vorbei: der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche. Sondersendungen über das tragische Ereignis haben sämtliche Abendprogramme gefüllt. Eine Talkshow im rbb stach dabei besonders ins Auge: Thadeusz und die Beobachter.

Es war eine Runde der Journalisten. Um Moderator Jörg Thadeusz diskutierten Olaf Sundermeyer (Experte für Innere Sicherheit, rbb), Hajo Schumacher (Berliner Morgenpost), Elisabeth Niejahr (Die Zeit) und Claudius Seidl (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung). Mit ernsten Gesichtern und nüchternen Stimmen redeten sie über die Bedeutung für und den Umgang mit dem Anschlag in Berlin.

Mit dem Terrorakt stehe Deutschland erneut vor einem Wendepunkt in der Debatte um Zuwanderung und Sicherheit, hieß es bei Thadeusz, gefolgt von der Frage: Schlägt nun die Stunde der Scharfmacher oder die der Besonnenen?

Die Kunst, auch mal den Schnabel zu halten

Zwar meint Hajo Schumacher, „die Kunst besteht darin, auch einfach mal den Schnabel zu halten“, denn „es ist ja alles gesagt zu solchen Ereignissen, was man sagen kann“. Schumacher und seinen Kollegen fällt aber erstaunlich viel zu diesem Thema ein. Neu ist daran nicht, was sie sagen, sondern wie sie es sagen – erstaunlich ehrlich. Keiner verpackt seine Meinung in seichtes Gerede, Ausdrücke werden nicht poliert. Niemand an Thadeusz’ Tisch kommt zu kurz, höchstens der Moderator selbst.

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Während Hajo Schumacher sich zwar mit starker Meinung und flapsigen Kommentaren cool gibt, fordert Olaf Sundermeyer dazu auf, Fakten und Tatsachen klar zu benennen. Im Wesentlichen geht es um drei Themen.

Erstens: Was war das für ein Anschlag? „Es war ein Anschlag auf unsere Freiheit“, sagt Sundermeyer. Das ist allgemeiner Konsens, nur Claudius Seidl hält dagegen: „Nein, es war ein Angriff auf Menschenleben. Diese Menschen sind zum Teil tot, zum Teil schockiert. Ein Angriff auf unsere Freiheit war es nicht, das ist, ehrlich gesagt, Blabla.“ Aber dass dieser Anschlag „im Schatten der Gedächtniskirche“ passierte, die auch ein Mahnmal der Freiheit sei, hinterlässt bei den meisten Berlinern das Gefühl, ihre Freiheit sei angegriffen worden. Dennoch war klar, auch das Konsens am Tisch, dass ein Anschlag dieser Art erwartbar war: „Wir alle wussten, dass es irgendwann passieren wird, auch in Berlin“, so Sundermeyer.

Die Tendenz, Regeln von Ausnahmen abzuleiten

Das führte zum zweiten Thema: Wie gehen wir damit um? Mehr Sicherheitsmaßnahmen fordert Elisabeth Niejahr. Appelle, auch mal zuhause zu bleiben, findet sie gut. Betonblöcke aufstellen? Polizeipräsenz verschärfen? Erstmal den Ball flach halten, meint Claudius Seidl, denn „wir tendieren dazu, Regeln abzuleiten von Ausnahmen. Das ist nicht logisch.“ Sundermeyer hält dagegen: Angst ist auch nicht logisch“. Um diese zu verhindern, müsse man vor allem eines: „über Dinge reden, einordnen und nicht über jedes Stöckchen springen“, sagt Sundermeyer. Das bezieht er  auch auf das „was wäre wenn?“ der Kanzlerin.

Wie Deutschland auf den Anschlag reagieren sollte: Ein Kommentar

Und schließlich der dritte Punkt: Was wäre, wenn der Täter ein Geflüchteter ist? Zu dem Zeitpunkt der Aussage hatte sich der IS noch nicht zu der Tat bekannt, ein junger Pakistaner wurde vorerst festgenommen. Zwar war er am Abend wieder frei. Ihn zu verdächtigen hat aber die Flüchtlingsdebatte auch nach Freiburg noch einmal in den medialen Mittelpunkt gerückt, die AfD zum Hetzen, die CSU zum Verschärfen von Gesetzen motiviert. Die Wahlen stehen vor der Tür, Politiker nutzten den Anschlag auch für sich, heißt es in der Runde. Hajo Schumacher ist überzeugt: „Die Politik ist schmutzig“. Es ginge um nichts Anderes als Merkel zu schwächen. Aber „wer kommentiert denn das hart, außer uns heute am Tisch?“

"Die Journalisten sind doof, nicht das Volk"

Und damit bringt er einen anderen Aspekt in diese Runde: Welche Rolle spielt der Journalismus dabei? Und bei aller Eitelkeit, die an diesem Tisch auch herrscht, geht Schumacher hart mit sich und den Kollegen ins Gericht: „Die Journalisten sind doof, nicht das Volk. Wir besorgen das Spiel der AfD oder wessen auch immer.“ Wie sich Medien auf Fälle wie diesen Anschlag stürzten, sei eine Skandalisierung, die falsche Behauptungen und Hetze von rechts fördere – auch darin stimmen die Journalisten weitgehend überein. Noch eine Erkenntnis hat Schumacher, der heute ja eigentlich schweigen wollte: Journalisten sollten nicht so tun, als wüssten sie alles. „Der Täter ist möglicherweise ein Flüchtling. Aber ich weiß es nicht, die Polizei sagt, dass sie es auch nicht weiß und ich weiß nicht, ob sie es nicht weiß“.

Also bleibt: Der Anschlag war tragisch, vor allem für die Angehörigen der Opfer. Es gibt keine endgültige Sicherheit (Sundermeyer). Und Berlins Grundhaltung (so ein Passant am Tatort): Nützt ja nichts, wir müssen weitermachen.

Die Zeit war zu kurz, um Argument und Differenzen so weit zu verfolgen, dass sie wirklich neue Aspekte darstellen. Aber, weil diese Runde sich und ihre Arbeit kritisch hinterfragen konnte, weil sie sich von der Angst vor dem Reden freigemacht hat, lieferten „Thadeusz und die Beobachter“ einen erfrischend interessanten Talk zwischen den vielen empörten Berichten des Abends.

Aktuelle Informationen zu dem Anschlag in Berlin:

Foto: Screenshot/rbb