Was wir vom Münchener Amoklauf über uns erfahren

Eine Großstadt hat einen Abend, wie man es keinem wünscht. Am Freitagabend erlebten die Münchener Angst und Fürsorge. Und, dass Panik ein schlechter Ratgeber ist.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Am Anfang und am Ende steht eine schreckliche Tat. Neun Menschen mussten sterben, weil sie einfach waren, wo sie waren. Allen Anschein nach hat ein Amokläufer ihnen das Leben genommen, wahllos.

Warum – das wird man noch erfahren. Es gibt Hinweise, dass der womögliche Täter, den man zwei Stunden nach seinen Schüssen selbst tot auffand, Probleme mit sich selbst hatte und sich dann auch selbst tötete. Es gibt Hinweise, dass er sich auf einem selbstzerstörerischen Weg befand, bei dem er andere mitnahm. Kaum etwas ist schwerer zu begreifen.

Worauf es bisher keine Hinweise gibt: Dass es einen terroristischen Hintergrund gibt, dass er als Dschihadist um sich schoss.

München erlebte am Freitagabend einen Ausnahmezustand. Freunde berichteten, wie sich plötzlich eine unheimliche Ruhe auf die Stadt legte, bis das Summen der Hubschrauber sich näherte. München wähnte sich gestern Cizre in der Türkei, Ramallah im Westjordanland.

2300 Polizisten wurden herangezogen, Busse und Bahnen fuhren nicht mehr, die Autobahnen sollten geräumt werden, alle in den Häusern bleiben – für Stunden verwandelte sich die Isar-Metropole in eine Geisterstadt; weil der Amokläufer nach seiner Tat fliehen konnte, jede Menge Gerüchte aufkamen, Panik ausbrach und Fehlalarme gesetzt wurden.

Die Polizei wird analysieren, was in der Koordination und Kommunikation verbessert werden muss. Sie wird klären, warum die Leitungsebene nicht frühzeitig davon erfuhr, dass es sich nicht um mehrere mit langen Gewehren Bewaffnete handelte, sondern um einen einzelnen Pistolenschützen.

Die unruhigen Zeiten

Erschreckend ist dabei, wie schnell wir mittlerweile in Angst geraten. Wäre diese Reaktion in München auch ähnlich passiert, hätte es die Amokfahrt in Nizza nicht gegeben? Wird jetzt nach jeder Schießerei der Ausnahmezustand verhängt? Klar, Panik ist ein schlechter Ratgeber, aber dies ist leichter geschrieben als im Leben berücksichtigt – wenn man um das eigene fürchtet.

Das Kalkül der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) scheint indes aufzugehen: Die Menschen verunsichern, zu unüberlegten Reaktionen provozieren. Im Nachgang zum Amoklauf von Freitagabend hat das Land nun die Chance zu zeigen, wie stark sie sich vom IS instrumentalisieren lässt.

Jedenfalls ist zu diesem Zeitpunkt jede politische Interpretation ein Desaster. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wird kritisiert, sie habe sich nicht rasch geäußert, habe nicht als „Mutti der Nation“ Trost gespendet. Das jetzt zu beklagen ist reine Scheinheiligkeit, der Wille zum Defätismus und zum Ausschlachten einer tragischen Lage.

Völlig in die Nesseln gesetzt hat sich André Poggenburg von der AfD. Für seine Partei besetzt er so ziemlich alles in Sachsen-Anhalt. „München: Unser Mitgefühl den Hinterbliebenen und Verletzten, unser Abscheu den Merklern und Linksidioten die Mitverantwortung tragen“, twitterte er. Und kurz vorher: „Ausländische Presse berichtet lange von Islamterror in München. Deutsche verblendete GutmenschInnen geifern aber herum. Ihr habt Mitschuld!“

Poggenburg weiß offenbar mehr als wir. Was er wohl meint: Der Amoklauf in München sei „Islamterror“. Sein Mitgefühl ist Heuchelei. Poggenburg outet sich als Zyniker, seine Sprache hält ihm den Spiegel vor: Er sieht Geifern und Abscheu. Zurück bleibt er als jemand, der Probleme mit Anderen hat, da sollte er mal an sich arbeiten; vorerst sollte er jedenfalls von allen politischen Ämtern zurücktreten; er verfügt nicht über den nötigen menschlichen Anstand für diese.

Ihm kann nur der polizeiliche Hinweis, es handele sich bei dem Amoktäter um einen „Deutsch-Iraner“, übrigens mit einem sämtlich unislamischen Vornamen, als Argument für seine schauerlichen Vorwürfe dienen. Eine „Mitverantwortung“ jedenfalls irgendwo abzuladen ist reiner Selbstzweck. Und hilft München nicht, sich wieder zu erholen.

Bilder: dpa