"Wir erleben eine Gleichschaltung in der Türkei" - Interview mit Sharo Garip (Teil 2)

Sharo Garip spricht im Interview klartext (Bild: Tobias Huch)
Sharo Garip spricht im Interview klartext (Bild: Tobias Huch)

Auch nach zweijähriger faktischer Gefangenschaft in der Türkei lässt sich Sharo Garip nicht einschüchtern und nimmt in seiner Kritik an der türkischen Regierung kein Blatt vor den Mund. In einer Interview-Pause dreht sich das Gespräch weiter um Erdoğans Politik. Dabei kommen auch die häufig gezogenen Vergleiche mit den Anfängen zur Hitler-Ära zur Sprache – denen Garip unumwunden zustimmt: “Es gibt in der Türkei tatsächlich deutliche Parallelen zum Aufstieg der NSDAP und zur Anfangszeit des Dritten Reichs”, resümiert der Sozialwissenschaftler. “Die sukzessive Ausschaltung der Opposition. Die fortschreitende Gleichschaltung. Der Umbau des Staats über einen Ausnahmezustand, die Ersetzung geordneter Gesetzgebung durch Dekrete, wobei der angebliche Putsch 2016 sehr gelegen kam. Das anfängliche Taktieren mit Partnern, dann deren schrittweise Entmachtung.” Den Repressionen gegen Garip selbst fiel auch sein Laptop zum Opfer – er wurde ihm bei einem dubiosen Einbruch gestohlen. Es ist zu vermuten, dass der türkische Geheimdienst ihn hat. Warum Garip davon ausging? Es ist nicht der erste Einbruch gewesen, sondern der zweite. Beim ersten Einbruch wurde auch sein Laptop gestohlen, aber kam – sonderbar – über “Taxifahrer” wieder zurück. Dann wohl mit einer Softwareerweiterung des türkischen Regimes zur Überwachung der Kommunikation Garips.

Lesen Sie hier den ersten Teil des Interviews mit Sharo Garip

Man wirft Ihnen ja “Terrorpropaganda für die PKK” vor, weil Sie sich mit Hunderten anderen hoch angesehenen Wissenschaftlern für Menschlichkeit und Recht ausgesprochen hatten. Wie gehen Sie jetzt mit der Anklage der türkischen Behörden um?

Sharo Garip: Diese Vorwürfe sind völlig abwegig und abstrakt, das können Sie alles in meiner Verteidigungsschrift nachlesen, die ich bereits ins Deutsche übersetzt habe. Im bewussten Petitionstext, um den es bei den Vorwürfen geht, wird keine einzige Organisation namentlich erwähnt, weder die PKK noch eine andere. Meine akademischen Kollegen und ich haben eine moralische Verantwortung gegenüber Gesellschaft und Wissenschaft, gerade jetzt, da Krieg und Gewalt eskalieren. Wir fürchten schlicht, dass noch mehr Menschen sterben müssen, und setzen uns gegen diese Gewaltspirale ein. Viele meiner Studenten können nachts nicht mehr schlafen aus Angst um ihre Familien in Cizre, Diyarbakır und anderswo. Wir tragen als Intellektuelle auch eine moralische Verantwortung für diese Menschen! Also haben wir in unserer Petition lediglich postuliert, dass es doch möglich sein muss, politische Probleme – und hier geht es um das kurdische Problem – ohne kriegerische Mittel zu lösen. Es war ein Aufruf zum Frieden, nicht zum Krieg. Doch Erdogan machte daraus einen Aufruf zum Krieg. Der Vorwurf ist absurd. Es ist wahr, wir haben den Staat kritisiert; hart kritisiert. Aber es war ein Aufruf zur friedlichen Konfliktlösung! Die Türkei von heute ist schlicht keine Kritik mehr gewohnt, Erdoğan schon gar nicht. Wissenschaftler und Intellektuelle müssen selbständig denken und sich äußern können, das haben sie getan, und ich habe sie darin gerne unterstützt. Es gibt keinen einzigen Beweis, wo wir “Propaganda” betrieben haben sollen. Das zeigte sich auch darin, dass die Behörden sich gar nicht festlegen konnten, was sie uns eigentlich zur Last legen. Zunächst behauptete die Staatsanwaltschaft in Ankara, es läge ein Verstoß nach Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches vor, der den Straftatbestand “Verletzung des Türkentums” regelt. Später wurde er das zurückgenommen und entschieden, dass die Staatsanwaltschaft in Istanbul zuständig sei. Diese hat sich nach einiger Zeit dann auf den Vorwurf der “Terrorpropaganda”, also ein Vergehen nach Artikel 7.2 des Strafgesetzbuches, festgelegt. Unser Anwalt hat den Staatsanwalt daraufhin zur Rede gestellt und gefragt, wieso etwa beispielsweise im Fall Esra Mungan (Anm.: Eine weitere Unterzeichnerin der Petition) zuerst auf “Türkentumverletzung” erkannt wurde und dann plötzlich auf “Terrorpropaganda”. Wie kann hier von einer einheitlichen Anwendung des Gesetzes die Rede sein? Offensichtlich herrscht hier juristisches Chaos. Weil es sich eben um eine politische Instrumentalisierung der Justiz handelt. Es gibt letztendlich keinen einzigen konkreten Beweis gegen mich. Wir haben im Rahmen der Meinungsfreiheit gehandelt. Das war keine Straftat. Es ist ein rein politisches, kein juristisches Verfahren, ein Schauprozess, so wie bei vielen anderen Journalisten auch. Erdogan duldet keine Gegner. Die Verengung der Meinungsfreiheit über den Vorwurf der “Terrorpropaganda” ist eine bewährte Strategie, Kritiker abzuschrecken und zum Schweigen zu bringen.

Kann man bei solchen Zuständen überhaupt noch von einem Rechtsstaat sprechen?

Sharo Garip: Nein, überhaupt nicht. Die Justiz ist außer Kraft gesetzt, wir erleben eine Gleichschaltung in der Türkei. Medien, Gerichte – niemand wagt sich mehr, eine Gegenmeinung zu äußern. Ich habe davon gehört, dass viele Richter, die unsere Haltung teilen, aus moralischen Bedenken ihre Kündigung eingereicht haben. Sie wollten diese unterdrückende und kriegerische Politik nicht mehr mittragen. Etliche von diesen arbeiten inzwischen als Rechtsanwälte, weil sie die eigenen Bürger nicht länger unmenschlich behandeln oder willkürlich inhaftieren wollten. Und die Willkür ist allgegenwärtig, sei es gegen Anhänger von Fetullah Gülen, gegen einfache Journalisten oder gegen Akademiker. Die Instrumentalisierung der Justiz ist nur eine Methode, diese Leute zu drangsalieren. Eine andere, auch sehr effektive Weise ist die massenhafte Entlassung missliebiger Personen aus ihren Berufen. Diese stehen von heute auf morgen plötzlich auf der Straße, zum Beispiel Prof. Dr. İbrahim Kaboğlu, ein prominenter Rechtswissenschaftler, der in Istanbul unterrichtete. Er lebt jetzt in Paris und lehrt von dort aus, über Skype. Eine Schande, was diesen Menschen widerfährt! Wie kann die EU solche Menschen im Stich lassen? Es ist doch schlimm, wenn die Menschen allgegenwärtige Angst vor Zukunftslosigkeit und Einkommensverlust haben, wenn sie befürchten müssen zu verhungern, weil sie keine Arbeit mehr finden und jeder Perspektive beraubt werden. Nach dem Militärputsch 1980 hatten wir massenhaft Folter, heute haben wir diese Form struktureller Gewalt.

Wie haben Sie die Menschen in Istanbul erlebt? Istanbul ist ja bekanntlich keine Hochburg Erdoğans, sondern eher Heimat der Demokraten um die HDP und die kemalistische CHP.

Sharo Garip: Ja, allmählich hat Erdoğan auch in Istanbul tatsächlich Schwierigkeiten. Istanbul war immer schon ein Ort der Intellektuellen, der Künstler und Oppositionellen. Nicht von ungefähr ist es fast ein Teil Europas, auch geografisch liegt die Stadt ja zwischen Europa und Kleinasien. Aber die AKP verfolgt eine Strategie: Nach und nach versucht sie, die wichtigen Institutionen dort zu erobern, etwa Gerichte, die Staatsanwaltschaft oder den Hochschulrat. Alle diese traditionell eher kritischen Gremien wurden bereits linientreu besetzt. Und das geschieht nicht nur in Istanbul: Die AKP hat auch einige kritische Universitäten weiter im Osten des Landes, etwa die Universität Ankara, versucht, auf Kurs zu bringen. Wenn dies durch Austausch des Lehr- und Führungspersonals nicht gelingt, versucht man es über Finanzkürzungen. Inzwischen aber bekommt Erdogan Probleme, weil jetzt sogar muslimisch orientierte Wissenschaftler Angst haben, dass sie unter Oppositionsverdacht geraten könnten. Dazu genügen nichtigste Anlässe; wer zum Beispiel in einer Versammlung nicht wie erwünscht abstimmt, wird blitzschnell als Gülen-Anhänger denunziert. Es regt sich so langsam Unmut, denn es kann wirklich jeden treffen. Auch die Zensur ist allgegenwärtig. Ich habe selbst erlebt, wie Veranstaltungen oder Ausstellungen, die “muslimischen” Kriterien nicht entsprechen, einfach verboten wurden, etwa weil irgendwo eine nackte Frau zu sehen war.

Was bezweckt die Regierung damit?

Sharo Garip: Intellektuellen und Kreativen wird der Boden heiß gemacht, man engt sie ein, behindert sie in ihrer Arbeit und macht ihnen Schwierigkeiten, wo immer es geht. Einige sind weggezogen, etwa nach Kadıköy, weil sie keine Freiräume mehr haben. Und genau das ist die perfide Strategie der AKP: Sie vernichtet die Lebensräume der kritischen Personen. Ich weiß von vielen Freunden, Professoren, Medizinern, Lehrern, dass sie mit der ständigen Angst vor Vernichtung ihres vertrauten Lebensumfelds leben. Wenn sie nicht vor Gericht stehen oder bereits entlassen wurden, verbannt man sie in die Provinz. Sie verlieren ihre vertraute Stellung, ihr soziales Umfeld, ihr Lebensraum wird kleiner. Auf diese Weise wird die Opposition isoliert, werden ihre Netzwerke geschwächt. Dem Regime ist praktisch jedes Mittel zur Unterdrückung und Mundtotmachung recht. Per Dekret werden ständig neue Listen mit Namen für Entlassungen oder Versetzungen herausgegeben. Die Bedrohungen und Einschüchterungen sind allgegenwärtig. Das war für mich sehr schmerzhaft zu erleben. Und auch hier muss ich wieder fragen: Wo bleibt die Solidarität der EU? Eine hervorragende Medizinprofessorin hat mir gesagt: Sharo, Ihr Europäer lasst uns allein mit denen. Das hat mir regelrecht wehgetan! Wie kann all diese Menschen, die für demokratische und freiheitliche Werte einstehen, alleine lassen? Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen, als ich die Türkei verließ; ich war mir unsicher, ob ich meine Freunde dort überhaupt zurücklassen sollte. Aber sie ermutigten mich zu gehen, damit ich sie von Deutschland aus unterstützen kann und den Menschen hier, in der EU, die Augen öffne!

Sie sprachen die Gülen-Bewegung an. Fetullah Gülen war ja ein Prediger, den Erdogan anfänglich als Partner brauchte. Dann hat er den Islam quasi “Huckepack” genommen, als ein Vehikel, um an die Macht zu kommen. Doch Erdoğan ist alles, aber sicher kein Moslem. Er nennt sich Moslem, aber wenn man sich Videos ansieht, wird deutlich, dass er den Glauben nicht lebt. Er kann nicht einmal richtig beten, er verhält sich sogar in Moscheen falsch. Ich weiß nicht, woher er seine islamische Erziehung hat, jedenfalls stammt er aus einem sehr religionsfernen Elternhaus.

Sharo Garip: Erdoğan gibt sich muslimisch-gläubig, doch auch der Islam wird in seinem Staat dem System untergeordnet. In einem kleinen türkischen Ort, wo ich gelegentlich meinen Vater besuchte, wohnten zwei Imame. Beide wurden verhaftet, weil sie an dem angeblichen Putschtag 2016 nicht zum Gebet gerufen hatten, was ihnen als aufrührerisches Verhalten angelastet wurde. Jetzt sitzen sie, wie so viele, im Gefängnis. Es ist eine weitere Schreckensmethode des Regimes, selbst auf religiöser Seite Kritiker kleinzukriegen, indem man Imame verhaftet. So etwas wäre früher unvorstellbar gewesen.

Wie damals Hitler baut auch Erdoğan auf ein allgemeines Minderwertigkeitsgefühl der breiten Massen…

Sharo Garip: So ist es. Er gibt ihnen Selbstvertrauen und schmeichelt ihnen, und dafür applaudieren sie ihm blind. Erdoğan spricht in seinen Balkonreden ja nicht die Intellektuellen an, sondern er wendet sich an die kleinen Leute. Untergeordnete Funktionäre, Rathausvorsteher, Arbeiter. Sie sind es, die ihm zujubeln – so wie einst Hitler sich vor allem an die arbeitenden, kleinbürgerlichen Schichten wandte, weniger an die Eliten.

Denselben Effekt sehen wir auch hier in Deutschland: Junge Türkischstämmige, die eigentlich deutsche Staatsbürger sind, gehören oft bildungsfernen Schichten an. Und sie fühlen sich “abgeholt”, erhört, wenn jemand an ihren Stolz appelliert. So meinen sie, keine Bildung zu brauchen, denn sie haben ja Recep Tayyip Erdoğan zur Steigerung ihres Selbstwertgefühls. “Ich bin Türke, ich gehöre zur Herrenrasse”. Auch das führt zu den Verwerfungen, die wir hier im Verhältnis zwischen Deutschen und Türken erleben.

Sharo Garip: Das Gift wirkt hier ebenso wie dort. Das Schlimme ist: Man weiß genau, wo diese Politik hinführt, und trotzdem gibt es diese ungebrochene Unterstützung von Deutschland und der EU für die Türkei unter Erdoğan. Es wird nichts gegen die schleichende Indoktrinierung der Bevölkerung und gegen die Gleichschaltung unternommen.

Man will es eben nicht wahrhaben. Ich weiß noch genau, wie ich vor dreieinhalb Jahren Erdoğan mit Hitler verglichen habe. Da gab es einen Aufschrei in der Politik: Wie kann man nur… ich wurde beschimpft und beleidigt. Ein halbes Jahr später hatten es dann die ersten begriffen – ich war ja sehr aktiv in der FDP -, und wenig später haben dann auch Wolfgang Kubicki und Christian Lindner ebenfalls diesen Vergleich gezogen.

Sharo Garip: Ich finde es übrigens gut, dass die FDP nicht um jeden Preis koaliert hat. Deutschland muss vor allem in seiner Außenpolitik konsequenter werden.

Da gebe ich Ihnen recht. Herr Garip, wie geht es jetzt für Sie persönlich weiter – werden Sie zum Prozess in die Türkei zurückreisen? Ich als Laie würde das gewiss nicht tun…

Sharo Garip: Nun, die heutige Türkei ist ein unberechenbares Land. Das ist ja genau, was das Regime bezweckt: Die Menschen einzuschüchtern, damit sie sich ins stille Kämmerlein zurückziehen und nicht aufmucken. Natürlich will ich nicht alles riskieren und zurückgehen, nur um an Ende erneut inhaftiert oder unter Arrest gestellt zu werden. Ich stehe in regem Kontakt mit meinen Anwälten und ich werde es von deren Einschätzung der Lage abhängig machen, ob ich zurückreise. Wenn die Anwälte das Risiko für vertretbar halten und wenn weder ein Einreise- noch Ausreiseverbot besteht, werde ich eventuell doch persönlich vor Gericht auftreten und meinen Standpunkt behaupten. Denn ich habe nichts Verbotenes getan. Aber warten wir zunächst noch ab.

Wie haben Sie eigentlich die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei in den letzten zwei Jahren erlebt? Die türkische Lira verliert weiter an Wert, importierte Güter werden unglaublich teuer, was ja auch Unzufriedenheit in der Bevölkerung zur Folge hat. Wie wird sich diese Entwicklung aus Ihrer Sicht weiter auswirken?

Sharo Garip: Sicherlich hat die Türkei seit einigen Jahren riesige ökonomische Probleme. Ich habe gesehen, dass zahlreiche kleinere Geschäfte und Läden schließen mussten. Ganze Industrie- und Dienstleistungssektoren – etwa der Textilbereich oder der Tourismus – sind stark unter Druck geraten. Von vielen Hotelbesitzern habe ich gehört, dass sie in existenziellen Schwierigkeiten stecken. Und selbstverständlich wirkt sich die politische Krise auch wirtschaftlich aus. So wie bisher kann es nicht weitergehen – das weiß Erdoğan auch, und er versucht zu manövrieren, indem er mal die Zügel spannt und wieder lockert, etwa auch bei der Währung. Was das betrifft, so taktiert er bislang relativ geschickt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sich die Wirtschaft so schnell wieder erholen wird, denn ein importabhängiger Staat wie die Türkei kann sich massive Währungsschwankungen auf Dauer nicht leisten. Ich habe erhebliche Zweifel, ob Erdoğan hier durchhalten kann. Es kam ja schon in der Vergangenheit zu Verzweiflungstaten: Bei der Finanzkrise vor mehreren Jahren rief er seine Anhänger in Europa auf, Devisen in die Türkei zu schicken. Und jetzt, da er seine Reserven aufgebraucht hat, versucht er abermals seine Anhänger zu mobilisieren, Sparguthaben oder Gold freizusetzen, um die einheimische Wirtschaft zu stützen. Doch diese Maßnahmen werden niemals ausreichen. Die autoritäre innenpolitische Entwicklung, die Spannungen erzeugen Angst – und Angst ist auch für die Wirtschaft ein entscheidender Faktor. Die Leute wagen nicht mehr zu investieren. Einige Spezialisten eines namhaften türkischen Entwicklungsinstituts sagten mir hinter vorgehaltener Hand, dass zahlreiche mittelgroße Firmen und Unternehmer aus dem Arbeitgeberverband TÜSIAD längst dabei sind, ihr Vermögen außer Landes zu schaffen und selbst das Land zu verlassen. Alles raus, lautet da die insgeheime Devise. Und ich habe von deutschen und anderen ausländischen Unternehmen gehört, dass in manchen Branchen nicht mehr investiert und erweitert, sondern reduziert und demontiert wird. Denn bei einer derartigen Instabilität kann kein Unternehmen wirtschaftlich gedeihen. Also ich bin überzeugt, dass die Krise sich verschärft. Und auch hier wird es wieder interessant sein zu sehen, ob die EU den Dingen ihren Lauf lässt, oder ob sie von außen helfend eingreift und das System stützt, um Erdoğan wieder einmal unter die Arme zu greifen. Ich befürchte Letzteres.

Halten Sie es für möglich, dass Erdoğan im Falle eines weiteren wirtschaftlichen Niedergangs denselben Ausweg wählt wie einst Hitler, nämlich einen Krieg?

Sharo Garip: Obwohl die ärmeren Bevölkerungsschichten am stärksten von den Auswirkungen einer Wirtschaftskrise betroffen sind, fallen sie am ehesten auf eine Propaganda herein, die ihnen eintrichtert, dass äußere Mächte Schuld an ihrer Misere tragen. Sie glauben bereitwillig an Sündenböcke, an einen inneren oder auch äußeren Feind. Wenn Erdoğan ihnen etwa erzählt, die EU sei verantwortlich für den Niedergang der Volkswirtschaft, dann könnten die vernachlässigten, die “kleinen” Leute in der Tat mobilisiert werden, und das könnte dann brandgefährlich werden. Das wäre eine weitere Parallele zum Dritten Reich – denn es waren nicht die Großunternehmen oder die Schwerindustrie, sondern die einfachen Bürger, die glaubten, dass dieser große Diktator ihnen den Wohlstand zurückbringt, wenn sie nur geschlossen, als Nation geeint hinter ihm stehen. So sind sie Hitler auch bereitwillig in den Krieg gefolgt. Und etwas Ähnliches könnte eines Tages auch in der Türkei passieren. Man kann es bei Erdoğan nicht genau sagen; er spielt mit türkischem Nationalismus, er spielt mit dem Islam; es sind recht viele Faktoren. Sicher ist, dass er höchst geschickt manipulieren kann und die Gesellschaft wie keiner vor ihm polarisiert. Er schürt sogar unter seinen Anhängern Ängste, indem er sagt: Wenn wir untergehen, fallt ihr mit uns, dann verliert ihr eure Religion, eure Identität, euer Vermögen, euren Stolz als Türken, einfach alles. So verstärkt er seine Macht durch Polarisierung und Angstaffekte.

Sharo Garip plädiert für scharfe Sanktionen gegen die Türkei (Bild: Tobias Huch)
Sharo Garip plädiert für scharfe Sanktionen gegen die Türkei (Bild: Tobias Huch)

Wie bewerten Sie es eigentlich moralisch, wenn Deutsche wegen des aktuell günstigen Wechselkurses Urlaub in der Türkei machen? Ist so etwas für Sie vertretbar, oder macht man sich so mitschuldig an den Verbrechen des Erdoğan-Regimes, indem man diese indirekt mitfinanziert?

Sharo Garip: Es heißt ja, die Deutschen würden konsequent Länder meiden, in denen Diktatoren herrschen oder Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind. Zumal wenn Alternativen wie Spanien oder Griechenland zur Verfügung stehen, ist dies auch problemlos umsetzbar. Die deutsche Gesellschaft ist eine sehr bewusste, demokratische. Es scheinen derzeit wohl nicht allzu viele Deutsche die Neigung zu haben, in die Türkei zu fliegen. Selbst wenn sie früher immer gerne dorthin gereist sind, selbst wenn sie aktuell extreme Schnäppchen locken. Manchen ist die Politik im Urlaubsland gleichgültig, sie reisen dennoch hin – aber ich bin mir sicher, dass viele die Türkei aus moralischen Gründen nicht unterstützen möchten. Abgesehen davon besteht durchaus auch für deutsche Touristen ein Risiko! Das gilt für alle Reisen in die Türkei. Es gab Anschläge, und weil gerade viele Journalisten Angst haben müssen, dass plötzlich die Polizei vor ihrer Tür steht, können auch Touristen nicht hundertprozentig sicher sein, dass sie nicht plötzlich für Reporter oder Spione gehalten und als politische Geiseln genommen werden. Es wurden ja zum Beispiel auch schon Kameras von Touristen beschlagnahmt. Deshalb haben, so glaube ich, auch viele deutsche Touristen Angst, willkürlich in den Fokus der Sicherheitsbehörden zu geraten. Es sind also zwei Faktoren, die moralische Frage und die Risiken, die die Reisezurückhaltung begründen.

Also finden Sie es de facto nicht vertretbar, dort Urlaub zu machen?

Sharo Garip: Nein, das wollte ich so nicht ausdrücken. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass die deutsche Gesellschaft zum Glück überwiegend sehr bewusst handelt. Und wenn Menschen aus Deutschland etwa persönliche oder familiäre Beziehungen in die Türkei haben, kann man verstehen, dass sie dorthin reisen. Aber es gibt heute keinen Massentourismus mehr. Nicht nur in Istanbul lässt sich das beobachten; ich war auch an der Mittelmeerküste, dort konnte man kaum deutsche Touristen sehen, ja überhaupt kaum noch Europäer. Früher war das völlig anders, da traf man dort fast nur auf Deutsche. Es lässt sich also mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass die Gesellschaft bewusster, sensibler, zurückhaltender handelt als die Regierung. Die Politiker sollten sich ebenso konsequent wie ihre Bürger verhalten, dann wäre schon viel gewonnen.

Welchen Rat hätten Sie für die europäische Politik und für die Menschen in Europa?

Sharo Garip: Ich bin sicher nicht der Berater der europäischen Politik… (lacht)

Aber Sie haben doch weit mehr Fachkenntnis zum Thema als die meisten.

Sharo Garip: Ich habe in der Türkei erlebt, dass vor allem viele Intellektuellen von Europa enttäuscht sind. Diese Enttäuschung ist auch ein Imageverlust für Deutschland und für die EU. Wenn Europa demokratische, rechtsstaatliche Verbündete möchte, dann darf es die Kräfte, die für diese Werte eintreten, nicht im Stich lassen. Sondern es sollte eine konsequente Politik geben, die sich an den eigenen Werten orientiert, statt diese zu verraten. Man kann nicht mit zweierlei Maß messen: Man kann nicht mit einem autoritären Regime paktieren, es auf den Beinen halten – und gleichzeitig kritisch denkende, demokratische, säkulare Kräfte unterstützen; das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Am Beispiel der arabischen Diktaturen hat man zu oft erlebt, wozu dies führte: Immerzu hat man hat mit diesen Staaten Geschäfte gemacht und enge politische Beziehungen unterhalten und zugleich gehofft, dass die demokratischen Kräfte dort siegen würden. Und Ende kam dann etwas Barbarisches wie der IS heraus, der den Terror nach Europa brachte. Letztendlich fügt sich Europa mit seiner Appeasement-Politik selbst nur Schaden zu! Ich würde der EU raten, endlich effektive, angemessene gezielte Sanktionen gegen die Türkei zu verhängen, finanziell, politisch und sozial. Man muss nicht alle Brücken zerschlagen und alles sofort abbrechen; es genügt auch, manches zurückzufahren und einzufrieren. Hier kann man durchaus mit Bedacht vorgehen. Aber es muss der türkische Regierung vermittelt werden: So geht es nicht weiter. Wenn das nicht erfolgt, wird uns Erdogan weiterhin einseitig erpressen.