„Absurd und völlig unproduktiv“ - Top-Unternehmerin hat jetzt einen Bürokratie-Minister - was er tun muss, macht baff

Verbandspräsidentin Marie-Christine Ostermann<span class="copyright">Anne Großmann Fotografie</span>
Verbandspräsidentin Marie-Christine OstermannAnne Großmann Fotografie

Marie-Christine Ostermann ist Präsidentin des Verbands der Familienunternehmer und führt selbst ein 100 Jahre altes Familienunternehmen. Noch nie sei es so schwer gewesen, dem Kerngeschäft nachzukommen, so die 46-jährige. Der Grund: ein unaufhaltsam wachsender Bürokratie-Berg - und eine Politik, die tatenlos zusieht.

FOCUS online: Dass Unternehmen über einen „wachsenden Bürokratiewahnsinn“ klagen, häuft sich. Bitte helfen Sie uns: Was genau verbirgt sich dahinter?

Marie-Christine Ostermann: Wo fange ich an? Bei den 30.000 Bürokratinnen und Bürokraten, die mittlerweile in den Bundesministerien sitzen? Im Jahr 2012 waren es noch 18.000. Der Staat baut hier also massiv Personal auf. Aber hat irgendjemand das Gefühl, dass wir dadurch besser regiert werden?

Klar, die ganzen Regeln, die auf den bestehenden Regelberg noch obendrauf kommen, müssen schließlich von jemandem kontrolliert werden. Ich finde: Für jedes bürokratische Gesetz, das neu reinkommt, sollten zwei alte Gesetze rausfliegen. Dann bliebe das Ganze einigermaßen überschaubar. Aber nein, es kommt ständig Neues on top.

Dank Brüssel, nicht wahr?

Ostermann: Der Ausdruck Brüssel vernebelt oft die Zusammenhänge. Es sind häufig deutsche Europa-Abgeordnete oder deutsche Minister in den europäischen Fachräten, die über Brüssel die Unternehmen zu immer neuen Berichten verpflichten wollen. Tatsächlich merken wir Unternehmer von Seiten der Bundesregierung reichlich wenig von irgendwelchen Entlastungen.

Das sogenannte Bürokratieentlastungsgesetz, mit dem die Bundesregierung eine Trendwende versprochen hat, wird unseren Erwartungen nicht ansatzweise gerecht. Buchungsbelege müssen künftig beispielsweise nur noch acht statt zehn Jahre aufbewahrt werden. Als ob uns das irgendwie helfen würde.

Echte Entlastung würde für uns bedeuten, dass wir uns endlich wieder mehr um unser Kerngeschäft kümmern könnten und weniger um eine oft sehr fragwürdige Dokumentation. Ganz ehrlich: Das Kopfschütteln vieler meiner Mitarbeiter ist inzwischen in Frust umgeschlagen.

„Eine Führungskraft macht kaum noch etwas anderes, als sich um die Formulare zu kümmern“

Stichwort Kerngeschäft: Können Sie ein Beispiel nennen? Wo ist es durch die Bürokratie schwierig geworden?

Ostermann: Spontan fällt mir unter anderem eine Führungskraft ein, die jetzt fast nichts anderes mehr machen kann, als sich um die Formulare zur Nachhaltigkeitsberichterstattung zu kümmern. Unser „Innenminister“, sage ich manchmal spaßeshalber, denn er muss nun Leute aus allen Abteilungen im Unternehmen zusammenbringen, damit die Vorgaben umgesetzt werden.

Für uns als Unternehmen, das Lebensmittel für Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung liefert und dafür rund 20.000 Produkte im Sortiment hat, ist das ein enormer Zeitaufwand. Über sogenannte „Wesentlichkeitsanalysen“ muss beispielsweise der CO2-Fußabdruck für sämtliche Bereiche ermittelt werden.

Aber das ist doch eine sinnvolle Sache, oder nicht?

Ostermann: Im Prinzip schon, grundsätzlich haben wir das ja auch längst auf der Agenda. Nehmen Sie zuletzt die Erdbeersaison. Natürlich sollte eine Großküche am besten klimaschonend, saisonal, regional und nur so viel einkaufen, wie auch verbraucht wird.

Natürlich handeln wir entschlossen gegen Lebensmittelverschwendung. Im konkreten Fall hilft uns unser eigenes digitales Online-Managementsystem, das anzeigt: Was wurde gegessen? Was ist übrig geblieben? Diese Daten bekommen die Großküchen zurückgespielt und können Lieferungen dann entsprechend anpassen.

Soweit, so gut. Was dagegen ist nicht gut?

Ostermann: Der Punkt ist immer die Verhältnismäßigkeit. Wenn auf die bestehende Gesetzgebung demnächst noch wie angekündigt die „Entwaldungsverordnung“ obendrauf kommt, ist das in meinen Augen alles andere als verhältnismäßig.

„Überall da, wo die Politik scheitert, gibt sie die Verantwortung nach unten weiter“

Was bedeutet diese Verordnung für Sie konkret?

Ostermann: Wenn ich für meine Kunden Fleisch aus Argentinien beziehe, muss ich sicherstellen, dass dort, wo es produziert wird, vor rund 20 Jahren kein Wald war. Wie gesagt: Wir haben 20.000 Produkte im Sortiment, die wir aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt beziehen. Natürlich ist es dringend notwendig, dass gegen die Abholzung des Regenwaldes vorgegangen wird. Mein Eindruck ist allerdings: Überall da, wo die Politik scheitert, gibt sie die Verantwortung nach unten weiter.

Anderes Thema: das Lieferkettengesetz, also Kinderarbeit. Wie sollen wir als Handelsunternehmen mit 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern denn bitte sicherstellen, dass in Argentinien oder sonst wo auf der Welt niemand ausgebeutet wird? Das ist eine unmögliche Aufgabe.

Die Politik würde jetzt vielleicht sagen: Andere Firmen kriegen das auch hin.

Ostermann: Ja, die großen Discounter vielleicht, und Produktionsbetriebe mit eigenen Standorten im jeweiligen Land. Und mit ganz viel Marktmacht und zehntausenden Beschäftigten. Wenn Aldi solche Nachweise verlangt, dann wird bei den Zulieferern nicht lange überlegt, egal was es kostet. Aber diese Marktmacht haben wir nun mal nicht.

Trotzdem bekommen wir exakt dieselbe Bürokratie aufgebrummt. Ich sage es nochmal: In der Sache finde ich die Maßnahmen richtig. Es ist wichtig, gegen Kinderarbeit vorzugehen …

„All das Geld ist völlig unproduktiv und fehlt bei den Investitionen“

Aber?

Ostermann: Wieso findet man keine pragmatischen Lösungen? Eine EU-Zertifizierung zum Beispiel. Einmal im Jahr könnte ein Auditor vor Ort im Ausland kontrollieren, von mir aus gerne unangemeldet: Werden alle Standards eingehalten? Ist es sicher, mit diesem Unternehmen Geschäfte zu machen?

So ein Zertifikat wäre für viele Handelspartner abrufbar. Nicht jeder Einzelne müsste das Rad neu erfinden und eigene Belege abgeben. Aber genau so läuft es gerade. Der Bürokratie-Berg bringt jedes einzelne Unternehmen auf seine Art zum Ächzen. Und mit der Dokumentation allein ist es noch längst nicht getan, das Ganze muss man schließlich auch noch prüfen lassen.

Gerade letzte Woche habe ich mich mit zwei unserer Wirtschaftsprüfer getroffen, denn wir brauchen bei den Themen Nachhaltigkeitsberichterstattung und EU-Taxonomie umfassende Beratung. Die Haftungsstrafen, die drohen, wenn hier nicht gründlich gearbeitet wird, sind immens. Schon allein deshalb nehmen wir die Dokumentationspflicht in Sachen Nachhaltigkeit in sämtlichen mal mehr, mal weniger nachvollziehbaren Belangen sehr ernst.

Im Ergebnis muss ich für die staatlichen Aufgaben Mitarbeiter bezahlen, die sich nicht mehr ums Kerngeschäft kümmern. Ich muss Wirtschaftsprüfer für die zusätzlichen Prüfungen zahlen und meine Mitarbeiter und ich zahlen mit unseren Steuern auch noch die zusätzlichen Beamten, die alle unsere Berichte auswerten und archivieren sollen. All das Geld ist völlig unproduktiv und fehlt bei den Investitionen.

Hand aufs Herz: Wo ist die Dokumentationspflicht rund ums Thema Nachhaltigkeit für Sie noch wenig nachvollziehbar?

Ostermann: Wie ist der Krankenstand der Mitarbeiter? Wie zufrieden sind sie? Auch sowas gehört in den Bericht. Für uns als mittelständisches Unternehmen ist das gefühlt eine Schippe zu viel obendrauf, denn dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich bei uns wohlfühlen und es ihnen gut geht, ist unser ureigenes Interesse, um sehr gute Leistungen im Wettbewerb zu erbringen.

„Absurd ist das Ganze, weil der Staat die ganzen Infos doch selbst vorliegen hat“

Und das frustriert Ihren „Innenminister“?

Ostermann: Nicht nur ihn. Normalerweise kümmert er sich schwerpunktmäßig um den Bereich Finanzen und Personal.

Wo es zahlreiche andere Baustellen gibt?

Ostermann: Absolut. Wie können Talente besser, passgenauer eingesetzt werden? Das ist aktuell zum Beispiel ein wichtiges Feld. Wie die wohl meisten Unternehmen in Deutschland spüren auch wir den Fachkräftemangel und wissen: Wir brauchen an der Stelle dringend Lösungen, wenn Deutschland wieder wettbewerbsfähig werden will.

Doch statt Lösungen zu diskutieren, brummt die Bundesregierung den Unternehmern mehr Bürokratie auf. Zu allem Überfluss muss sich besagter Mitarbeiter nämlich neuerdings auch noch mit dem Thema Geburtsurkunden rumschlagen.

Inwiefern das?

Ostermann: Seit einiger Zeit müssen Mitarbeiter mit Kindern geringere Beiträge an die Pflegeversicherung zahlen. Wer hat Kinder? Wie alt sind sie? Wir als Arbeitgeber müssen das melden und entsprechende Nachweise bringen, offizielle Dokumente wie beispielsweise eine Geburtsurkunde. Ich kann verstehen, dass manche Mitarbeiter nicht gerade begeistert sind. Der Geburtstag des Kindes ist schließlich etwas Privates.

Besonders absurd ist das Ganze aber, weil der Staat die ganzen Infos doch selbst vorliegen hat. Allerdings – und genau das ist wohl der Punkt – nicht digital. Das ist übrigens noch sowas, was mich fassungslos macht: Der Staat schafft es einfach nicht, seine Verwaltung zu digitalisieren. Gleichzeitig stellt er an uns, die wir schon lange digital arbeiten, immer neue, immer groteskere Forderungen.

Geben Sie noch ein Beispiel?

Ostermann: Nehmen wir die Sache mit dem Krankenschein. Das Problem hier ist, dass zum einen nicht alle Ärzte an dem digitalen Verfahren teilnehmen, es also zu Doppelstrukturen (digital und analog) kommt.

Des Weiteren übermitteln die Ärzte die Daten oft zu spät oder gar nicht, so dass die Unternehmer nachfassen müssen. Daher bestehen wir im Moment noch darauf, Krankmeldungen immer auch in Papierform zu bekommen.

„Ein großes Misstrauen der Wirtschaft gegenüber - als ob wir unsere Leute ausbeuten würden“

Nochmal zum Thema Nachhaltigkeit. Finden Sie es nicht nachvollziehbar, dass der bürokratische Aufwand gerade hier im Vergleich zu früher gestiegen ist?

Ostermann: Natürlich sehen wir uns hier als Unternehmen ganz besonders in der Verantwortung und unsere Kunden fordern sowieso nachhaltige Produkte und Leistungen. Nicht das Was, eher das Wie treibt uns um.

Die Frage ist doch: Wie gelingt es, sich mit dem Thema Nachhaltigkeit sinnvoll zu beschäftigen? Aber eigentlich geht es bei all dem noch um etwas viel Größeres.

Nämlich?

Ostermann: Vereinfacht: All die Dinge, die da im Moment passieren, basieren gefühlt auf einem großen Misstrauen der Wirtschaft gegenüber. Nehmen wir das Mindestlohn-Dokumentationspflichtgesetz. Um eines klarzustellen: Ich will an dieser Stelle den Mindestlohn nicht kritisieren.

Aber wie kann es sein, dass regelmäßig Beamte vom Zoll bei uns auflaufen und uns diese gewisse Ablehnung spüren lassen? Als ob wir unsere Leute ausbeuten würden. Dabei sind wir seit Jahrzehnten vertrauenswürdige, verlässliche Arbeitgeber.

Tatsächlich denke ich, wir haben hier ein sehr grundsätzliches Thema. Produktivität und ein Klima des Misstrauens - das passt nicht zusammen. Darüber sollte man in der Politik bitte einmal nachdenken, vor allem wenn Deutschland wieder wettbewerbsfähig werden will.