ARD-Doku über radikalen Klimaaktivismus: "Wir werden den Protest eskalieren"
"Helden oder Kriminelle?", hinterfragt eine aktuelle ARD-Dokumentation das Wirken radikaler Protestgruppen wie Letzte Generation und Extinction Rebellion. Vor der Kamera scheinen die Debattenfronten verhärtet. Rückendeckung bekommen die Aktivisten im Film von einer Strafrechts-Professorin.
Morgens, 8 Uhr, in Berlin. Verkehrsstau an einem Fußgängerübergang auf dem Kurfürstendamm. Ein kräftiger Mann in Steppjacke trägt in der linken Hand einen Aktenkoffer, mit der rechten schleift er eine junge Frau an der Kapuze von der Fahrbahn auf den Gehsteig. Eine zierliche Fotografin rempelt er rüde an. "Mach für den Bus frei! Ich muss zur Arbeit."
Ein anderer Passant bremst sein Lastenrad und lobt die Stau-Verursacher: "Ich finde das super. Einer muss ja mal was machen." Ein Herr mit Seidenschal kommentiert die Bemühungen der Polizisten, an der Fahrbahn verklebte Hände mit Öl zu lösen: "Ich find's ganz schrecklich, dass der Staat sich so vorführen lässt. Die Engländer machen's richtig, die stecken die Leute in den Knast." Das fordert auch eine ältere Passantin mit Gucci-Sonnenbrille: "Einsperren! Solange einsperren, bis dieser Spuk aufhört!"
85 Prozent finden Straßenblockaden "nicht gerechtfertigt"
Über einen "längeren Zeitraum" begleiteten die ARD-Filmemacher Marcel Kolvenbach, Nick Schader und Kolja Schwartz radikale Klimaaktivisten der Gruppen Letzte Generation und Extinction Rebellion bei Protestaktionen wie diesen. Die Tumulte vom Berliner Ku'damm, die ihre am Montagabend ausgestrahlte Dokumentation "Radikal fürs Klima - Helden oder Kriminelle?" einleiten, bilden das gesellschaftliche Meinungsspektrum zum Thema "Klima-Kleber" trefflich ab. Durchaus auch in der Gewichtung der Stimmen.
Laut einer von der ARD in Auftrag gegebenen repräsentativen Meinungsumfrage halten aktuell 85 Prozent der Befragten Straßenblockaden für "nicht gerechtfertigt", nur 13 Prozent finden sie gerechtfertigt, um mehr Klimaschutz seitens der Bundesregierung einzufordern. In den politischen Lagern zeigt sich indes ein differenzierteres Bild. 48 Prozent der Grünen-Wähler stehen hinter den radikalen Protestaktionen, hingegen nur 3 Prozent der FDP-Anhängerschaft - das sind halb so hohe Zustimmungswerte wie unter jenen, die der AfD nahestehen (6 Prozent).
Marco Buschmann: "Wer das Strafrecht bricht, ist kriminell. Punkt."
Im ARD-Beitrag sitzt als einer von vielen Gesprächspartnern aus Politik, Wissenschaft und Aktivismus FDP-Justizminister Marco Buschmann vor der Kamera und hält fest: "Das Strafrecht gilt für alle. Wer das Strafrecht bricht, ist kriminell. Punkt." Und an anderer Stelle im Film: "Wenn fortgesetzt Straftaten begangen werden, müssen irgendwann auch Freiheitsstrafen verhängt werden, um eine echte Sanktionierungswirkung bei den Betroffenen zu haben. Ich glaube, es macht schon Eindruck auf Menschen, wenn sie mal mehrere Monate in einer Justizvollzugsanstalt eingesessen haben."
Einspruch kommt von Katrin Höffler, Professorin für Strafrecht und Kriminologie. "Der politische Protest ist Teil dessen, was unsere Demokratie aushalten muss", sagt die Lehrstuhlinhaberin von der Universität Leipzig. Das Strafrecht dürfe man hingegen nicht dahingehend "instrumentalisieren, die Botschaft auszusenden, dass sich politischer Protest nicht lohnt".
Zur Forderung nach Haftstrafen hält die Juristin fest: "Herr Buschmann sollte sich die Ergebnisse der Sanktionsforschung zu Gemüte führen. Härtere Strafen schrecken nicht ab." Auch brauche man auf den Faktor Resozialisierung im Falle der Aktivisten nicht zu hoffen. "Es geht hier um die tiefste Überzeugung dafür, sich für Klimaschutz einzusetzen." Was also tun? "Einzig sinnvolles Mittel ist hier, in die Kommunikation, in den Diskurs zu gehen."
Luisa Neubauer will "die Mehrheit nicht aus dem Blick verlieren"
Dass die Aussicht auf Haftstrafen keine abschreckende Wirkung entfaltet, scheinen die im Film getätigten Aktivistenaussagen zu bestätigen. Amelie Meyer von Extinction Rebellion beteuert: "Wenn meine Aktionen dazu führen, dass ich ins Gefängnis komme, dann nehme ich das auch in Kauf, weil ich dann sicher bin, dass ich alles versucht habe." So werden weiter Straßen blockiert, Straßenschilder abmontiert, Farbkübel vor Firmen- und Parteizentralen entleert und etliches mehr. Auch mit dem Ergebnis, dass gesetzeskonform auftretende Gruppen in der medialen Wahrnehmung marginalisiert werden.
Luisa Neubauer, Deutschlands bekanntestes Gesicht von Fridays for Future, bemüht einen sehr komplizierten Satz, um ihr Abgrenzungsdilemma zu den radikaleren Mitstreiterinnen und Mitstreitern zu beschreiben: "Stand jetzt hat die Entwicklung von Protestformen von einigen Bewegungen tendenziell dazu geführt, dass Politikerinnen das Gefühl haben, sie profilieren sich eher dadurch, dass sie sich von gutem, stringentem Klimaschutz abwenden, und das ist gefährlich und in meinen Augen ein riesengroßes Argument dafür, die Mehrheit nicht aus dem Blick zu verlieren."
Selbstbewusster Aktivist: "Dann wird es für die Regierung sehr, sehr eng"
Micha Frey von der Letzten Generation scheinen solche Wirksamkeitserwägungen nicht anzufechten. Bei einem Vortrag vor Gleichgesinnten in Passau beruft sich der junge Mann selbstbewusst auf Gandhi und träumt schon laut vom Überlaufen der deutschen Polizei zur Klimabewegung: "Dann wird es für die Regierung sehr, sehr eng." Das ist - auch nach allem, was die Filmemacher dokumentieren - eine sehr, sehr optimistische Wahrnehmung der Lage.
Noch größere Angst als vor der nächsten Inhaftnahme hat Frey davor, "dass ein Autofahrer, eine Autofahrerin ausrastet und wir körperlich Schaden nehmen". Das sei "eigentlich die größte Gefahr bei unserem Protest". Der Letzte-Generation-Aktivist rechnet unverdrossen mit immer größerem Zulauf für seine Organisation, weil Menschen merken würden, "dass die Regierung versagt". Man werde deshalb den Protest "eskalieren, indem er stärker und intensiver wird, aber er wird immer friedlich bleiben, das ist auch klar".
Dobrindt bekräftigt Warnung vor der "Klima-RAF"
Der letzte Zusatz ist ohne Frage von entscheidender Bedeutung - auch mit Blick auf die politische Sanktionsdebatte. "Ich bin der Überzeugung, dass man verhindern muss, dass eine Klima-RAF entsteht", wiederholt Alexander Dobrindt vor der ARD-Kamera jene umstrittene Aussage, mit der er bereits Schlagzeilen machte. Auch bekräftigt der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag seine Wahrnehmung der Letzten Generation als "kriminelle Organisation".
Bislang allerdings ist von einem Abdriften des Klimaprotests hin zu terroristischer Militanz keine Spur. Das BKA bestätigte auf Anfrage den Eindruck, den die Filmautoren in ihrer Langzeitstudie gewannen. Man sehe "keine Verschärfung der Protestform durch die Letzte Generation". Strafrechtsprofessorin Katrin Höffler hingegen sorgt sich durchaus vor einer "gewissen Eskalationsspirale": "Meine Sorge ist schon, dass die KlimaaktivistInnen sich immer weniger verstanden fühlen und die Proteste immer stärker werden." Allerdings weiterhin unter Verzicht auf körperliche Gewalt oder Bomben - "das lehnen sie ja explizit ab".
Zudem warnt die Rechtswissenschaftlerin davor, den Paragrafen 129 des Strafgesetzbuches anzuwenden ("Bildung krimineller Vereinigungen"). Der sei "normalerweise reserviert für Mafia, organisierte Kriminalität, rechtsextremistische Vereinigungen" und mithin ein "Door Opener für Ermittlungsmaßnahmen in ganz anderem Ausmaß".
Einen Eindruck davon, was hinter dieser geöffneten "Tür" lauert, vermittelte quasi passend zur Ausstrahlung eben erst die scharf kritisierte Abhöraktion bayerischer Ermittler gegen die Letzte Generation, von der auch Journalisten betroffen waren.