Auf Behinderte halten wir gern den Daumen drauf

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Der Bundestag debattiert ein neues Teilhabegesetz. Es offenbart, wie wir Behinderte noch heute unter dem Vorwand der Fürsorge zu Objekten machen – eben zu Behinderten.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Über gewisse Dinge redet man halt selten. Die fallen durch den Rost der öffentlichen Wahrnehmung, vor allem bei mangelndem Schockpotenzial wie Terror oder Islam oder beidem. Und dann gibt es Themen, die keinen Hund vom Ofen weglocken, obwohl sie viele betreffen und eigentlich schocken, voller Gewalt sind: unser Umgang mit Behinderten ist so ein Fall.

Der Bundestag debattiert ein neues Gesetz, und keiner hört hin. Es geht um einen Referentenentwurf, der das Leben von zehn Millionen Menschen in Deutschland regeln soll, 7,5 Millionen von ihnen sind schwer behindert; bei einer Gesamtbevölkerung von 80 Millionen Einwohnern sollte das aufhorchen lassen.

Aber über dieses neue Gesetz, das im November verabschiedet werden soll, liest und hört man kaum etwas. Ein Nischenthema. Über ein Gesetz zur Regelung der Fußpilzmedikation würde mehr berichtet werden. Wobei an diesem Entwurf jahrelang gearbeitet und herumgedoktert wurde; die Politik drückt sich halt erfolgreich. Auf den Straßen haben tausende von behinderten Demonstranten gegen den neuen Entwurf mobilisiert – in die Schlagzeilen fanden sie damit nicht.

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Die Bevormundung bleibt

Darum geht es: Das neue Gesetz soll den Behördendschungel lichten und es Behinderten erleichtern, Hilfe zu beantragen. Das ist gut. Es wird auch mehr Geld in die Hand genommen, zum Beispiel Lohnkostenzuschüsse, damit Behinderte in die Jobwelt der „Normalen“ wechseln und nicht mehr nur Kugelschreiber zusammenstecken. Das ist auch gut.

Doch die große Diskriminierung bleibt. Noch immer wird jeder Behinderte, der eine Assistenz für sein Leben braucht, finanziell drangsaliert. Das Gesetz hält aufrecht, dass diese Hilfen auf Einkommen und Vermögen der Behinderten angerechnet werden. Damit bleiben sie als Sozialhilfefälle eingekerkert. Dies ist das Gegenteil von Teilhabe; nur der Rahmen dieses so genannten Freibetrags wird großzügiger gestaltet.

Außerdem räumt der Entwurf den Ländern ein, bei den Kosten zu sparen. Durch die Hintertür schlüpft also ein verstecktes Kostendämpfungsgesetz – auf dem Rücken der Behinderten. Gerade bei der Assistenz, also der persönlichen Begleitung von Behinderten, könnte dann gespart werden. Weniger Menschen könnten diese Assistenz kriegen, diese mit anderen teilen müssen. Auch riskieren Behinderte durch den neuen Entwurf, dass sie aus ihren bisherigen Wohnungen in Heime abgeschoben werden. Das kostet halt weniger.

Unser Umgang mit Behinderten ist ein Skandal. Immer noch ist unser Ansatz entweder offen diskriminierend oder gut gemeint, aber eben paternalistisch: Wir wissen, was gut für DIE ist. Hinter der „Fürsorge“ versteckt sich nur Reglementierung und Bevormundung. Kein Wunder, dass Deutschland bei Behindertenpolitik und Inklusion im internationalen Vergleich hinterher hinkt. Unsere Nachbarn kriegen das alles viel besser hin; aber so ist es in einem Land, das vor wenigen Jahrzehnten seine Behinderten noch heimlich tötete. Wie viel vom Rassehygienewahn der Nazis steckt noch heute in unserem Deutschland?

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Was zu tun wäre

Immer noch gilt das Uneingelöste: Behinderte haben ein Recht, selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Sie haben ein Recht, nicht in DIE eingeteilt zu werden. Der Staat dagegen hat die Pflicht, dafür zu sorgen. Er muss mehr Geld in die Hand nehmen. Und die Gesellschaft ist in der Pflicht, ihre Gedankenwelt zu überprüfen und sich zu fragen: Was sind meine Vorbehalte und Vorurteile gegenüber Behinderten? Nehme ich sie tatsächlich als gleichberechtigt wahr?

Dieses neue Gesetz wird dafür ein Lackmustest sein.

Wie wir mit dem Thema „Inklusion“ umgehen, also der „Zugehörigkeit“ als Gegenteil von „Ausgrenzung“, verspricht dabei nichts Gutes. In der Schulpolitik reden nun plötzlich alle von Inklusion. Aber nichts Substanzielles geschieht. Immer noch gibt es zu viele „Sonderschulen“ – und Inklusion wird in den Schulämtern als tolles Ding gepriesen, das nichts kosten soll. Nun aber kommen deutschlandweit behinderte Schüler in Klassen, wo sie eben mitmachen – ohne die nötige Förderung. Ohne zusätzliche Pädagogen, die ihnen dabei helfen. Ohne tragende Konzepte. Wir nennen uns gerade unheimlich fortschrittlich. Wursteln aber weiter wie bisher.

Bilder: Holger Hollemann/dpa und Lino Mirgeler/dpa

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